Geschichte der deutschen Literatur Bd. 10: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918 bis 1933

von: Helmuth Kiesel

Verlag C.H.Beck, 2017

ISBN: 9783406708046 , 1305 Seiten

Format: PDF, ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 46,99 EUR

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Geschichte der deutschen Literatur Bd. 10: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918 bis 1933


 

EINLEITUNG


Für die deutschsprachige Literatur wurden die vierzehn bewegten Jahre zwischen dem 9. November 1918 und dem 30. Januar 1933, zwischen der revolutionären Begründung der ersten deutschen Republik und ihrer leichtfertigen Preisgabe durch die Bestellung Hitlers zum Reichskanzler, zu einer Glanzzeit. Nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs entstand unter den Bedingungen liberaler Verfassungen und provoziert durch die anhaltenden politischen, sozialen und geistigen Probleme der 1920er Jahre eine große Zahl hochkarätiger, innovativ und zugleich auf Dauer mustergültig wirkender Werke aller literarischen Gattungen. Exemplarisch seien vorweg drei dichterische Leistungen genannt, an denen die Signatur der Zeit und die aus ihr erwachsenen poetischen Ansprüche der Autoren in besonderer Deutlichkeit abzulesen sind: Gottfried Benns Weltanschauungslyrik, wie sie sich in den geschichtsphilosophischen Montagegedichten Chaos (1923) und Qui sait (1927) zeigt; Alfred Döblins vielstimmiger, alltagsnaher und zugleich mythologisch überwölbter Großstadtroman Berlin Alexanderplatz (1929); schließlich Bertolt Brechts formenreich anklägerisches und ergreifendes System- und Wirtschaftskrisendrama Die heilige Johanna der Schlachthöfe (1932). Daneben stehen gleichrangig in der Lyrik: Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien (1923), Bertolt Brechts Hauspostille (1927), Stefan Georges letzter Gedichtband Das Neue Reich (1928) und Oskar Loerkes Atem der Erde (1930); in der Dramatik: Georg Kaisers Gas (1918–20), Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit (1922), Hugo von Hofmannsthals Der Turm (1925), Bertolt Brechts und Kurt Weills Musikdrama Die Dreigroschenoper (1928); in der Epik: Thomas Manns Der Zauberberg (1924), Hermann Hesses Der Steppenwolf (1927), Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930–33), Hermann Brochs Die Schlafwandler (1930–32). Es sind die Exponenten der sogenannten klassischen – aber besser: reflektierten – Moderne (s.S. 92 f.), die bis heute in erster Linie angeführt werden, wenn nach den künstlerisch bedeutendsten und repräsentativsten Werken der Epoche gefragt wird. Einige von ihnen – Thomas Manns Zauberberg und Hofmannsthals Turm seien als herausragende Beispiele genannt – haben traditionelle Darstellungsweisen modernisiert und zu einer neuen Hochform geführt; andere – wie Döblins Berlin Alexanderplatz und Brechts Heilige Johanna der Schlachthöfe – arbeiteten mit avantgardistischen Mitteln, waren in augenfälliger Weise innovativ und wirkten inspirierend auch für die zweite Phase der reflektierten Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg.

Daneben sind in allen Sparten der Literatur großartige Leistungen zu registrieren, von denen hier – wiederum in exemplarischer Absicht – einige angeführt seien: als Epochenromane: René Schickeles Trilogie Das Erbe am Rhein (1925–31), Joseph Roths Radetzkymarsch (1932) und Rudolf Brunngrabers Karl und das zwanzigste Jahrhundert (1933); als Auseinandersetzungen mit dem Weltkrieg: Ernst Jüngers In Stahlgewittern (1920), Arnold Zweigs Roman Der Streit um den Sergeanten Grischa (1926), Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1929) und Edlef Köppens Heeresbericht (1930); als politische Zeitromane: Lion Feuchtwangers Erfolg (1930), Hans Falladas Bauern, Bonzen und Bomben (1931) und Erich Kästners Fabian (1931); als historische Romane: Erwin Guido Kolbenheyers Paracelsus-Trilogie (1917–26), Lion Feuchtwangers Jud Süß (1925) und Ina Seidels Roman Das Wunschkind (1930); als Epos der versinkenden bäuerlichen Lebenswelt: Paula Groggers Das Grimmingtor (1926) und Hermann Eris Busses Bauernadel (1930); als Roman der ‹kleinen Leute›: Hans Falladas Kleiner Mann – was nun? (1932); als Romane der ‹neuen Frau›: Marieluise Fleißers Mehlreisende Frieda Geier (1931) und Irmgard Keuns Gilgi – eine von uns (1931) sowie Das kunstseidene Mädchen (1932); als Roman der industriellen Wirtschafts- und Arbeitswelt: Erik Regers Union der festen Hand (1931); als Ausdruck kommunistischen Revolutionsbegehrens: Bertolt Brechts «Lehrstück» Die Maßnahme (1930–32) mit der Musik von Hanns Eisler und Anna Seghers’ Roman Die Gefährten (1932); als Erzählung jüdischen Lebensleids und Lebensglücks: Joseph Roths Hiob (1930); als Volksstücke neuen Stils: Carl Zuckmayers Komödie Der fröhliche Weinberg (1925) und Ödön von Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald (1931); als sozialreformerisches Kampfdrama: Friedrich Wolfs Cyankali § 218 (1929) – und anderes mehr.

Die meisten dieser Werke und viele andere, die in einer nicht nur exemplarisch gemeinten Liste anzuführen wären, sind aufgrund ihrer künstlerischen Qualität, ihrer historischen Vermittlungsleistung und existentiellen Erhellungskraft bis heute lebendig und werden, wenn auch in unterschiedlichem Maß, von einem breiteren Publikum wahrgenommen oder zumindest im literaturwissenschaftlichen und literaturkritischen Diskurs in Erinnerung gehalten. Manche – wie Kolbenheyers Paracelsus-Trilogie – sind aus Gründen der politischen Verfehlungen der Autoren – also vor allem der Parteinahme für den Nationalsozialismus – mehr oder minder geächtet und aus der Rezeption verdrängt, doch dürfen sie in einer Literaturgeschichte der 1920er Jahre nicht fehlen, zumal ihnen die spätere Hinwendung der Autoren zum Nationalsozialismus nicht unbezweifelbar eingeschrieben ist. Ebenso müssen in einer Literaturgeschichte Werke berücksichtigt werden, die heute aufgrund ihrer inhaltlichen und formalen Antiquiertheit mehr oder minder reizlos sind, damals aber – wie die Bestseller von Rudolf Herzog, Walter Bloem und Paul Oskar Höcker – eine breite Leserschaft hatten. Zwar ist es legitim und aus mancherlei Gründen auch sinnvoll, sich an die Spitzenleistungen zu halten und manches andere außer Betracht zu lassen. Prinzipiell gilt aber, was Kurt Tucholsky 1925 anläßlich eines Artikels über die populären Bücher des belgisch-französischen Schriftstellers Clément Vautel feststellte: «Nicht nur Gerhart Hauptmann repräsentiert die deutsche Literatur, sondern auch die Herren Herzog und Hoecker.»

Zudem auch «die Herren» Salomon und Heinz sowie Marchwitza und Hoelz, um vier Namen zu nennen, die für einen Autorentypus stehen, der zwar kein Spezifikum der Weimarer Republik ist, aber doch zu ihren auffallenden Erscheinungen gehört und ihrer Literatur einen besonderen Akzent gab. Es ist der Typus des militanten politischen Akteurs, der nach der Beteiligung an politischen Gewalttaten die Literatur als Reflexions- und Wirkungsmedium entdeckt. Friedrich Wilhelm Heinz war als Mitglied der Marine-Brigade Ehrhardt und der Organisation Consul an verschiedenen konterrevolutionären und antirepublikanischen Aktionen beteiligt, die er 1930 unter dem Titel Sprengstoff (s.S. 399 ff.) in romanartiger Form darstellte, nicht nur um sie nachträglich zu rechtfertigen, sondern auch um seine Position in den sich wieder verschärfenden politischen Auseinandersetzungen zu festigen. Ernst von Salomon, der ebenfalls Freikorps- und OC-Mitglied war, wurde 1922 wegen Beihilfe zur Ermordung Walther Rathenaus zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt und konnte sich danach mit seinem autobiographisch geprägten Roman Die Geächteten (1930; s.S. 392 ff.) einen Namen als Schriftsteller machen. Der im Krieg militärisch geschulte Bergarbeiter Hans Marchwitza kämpfte 1920 als Zugführer der Roten Ruhrarmee gegen die Freikorps, die nach dem Kapp-Putsch zur Befriedung des Ruhrgebiets eingesetzt wurden, und machte dies 1930 zum Gegenstand der literarisch geformten Darstellung Sturm auf Essen, die 1931 vom Staatsanwalt als staatsgefährdend bewertet und verboten wurde (s.S. 418 ff.). Max Hoelz war der populärste Arbeiterführer des mitteldeutschen Märzaufstands vom Frühjahr 1921 und wurde wegen bewaffneter Aktionen zu lebenslänglicher Haft verurteilt, aber 1928 begnadigt. Das Erscheinen seiner Briefe aus dem Zuchthaus (1927) und seiner Autobiographie Vom «Weißen Kreuz» zur roten Fahne (1929; s.S. 421 ff.) war jeweils ein literarisches Ereignis; auch wurde Hoelz etwa in Otto Gotsches Roman Sturmtage im März (1933; s.S. 428 ff.) selber zur literarischen Figur. Wie Heinz, Salomon,...