Dokumentarfilm populär - Michael Moore und seine Darstellung der amerikanischen Gesellschaft

von: Verena Grünefeld

Campus Verlag, 2010

ISBN: 9783593408712 , 336 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 39,99 EUR

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Dokumentarfilm populär - Michael Moore und seine Darstellung der amerikanischen Gesellschaft


 

2. Michael Moore und seine Filme 2.1. Populäre Unterhaltung auf Kosten der Wahrheit? In den achtziger Jahren beklagten Kritiker noch das Desinteresse des Publikums an Dokumentarfilmen. Trotz der historischen Verankerung des Genres auf der großen Leinwand waren die Filme meist von der wirtschaftlichen und, vielleicht noch entscheidender, von der kulturellen Institution des Kinos ausgegrenzt. Als Freizeitangebot spielte der Dokumentarfilm gegen die Konkurrenz der Spielfilme an der Kinokasse kaum eine Rolle. Alan Rosenthal erklärt in seinem 1988 erschienenen Buch, 'in the mid-1980s there is a feeling that documentary is in the doldrums and that unless the form can be revitalized or reenergized it will swiftly lose any general or social impact it ever had'. Man möchte fast anfügen, '- und dann kam Michael Moore'. Mit seiner provokativen, ironischen und subjektiven Erzähltechnik belebte er den Dokumentarfilm und brachte ihn vom Fernsehen zurück in die Kinosäle. Er zeigte, dass Filme des Genres, während sie auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam machen, auch unterhalten können. Inzwischen, etwa zwanzig Jahre später, laufen seine Filme weltweit, zum Teil in Multiplex-Kinos. Sein Erfolg hilft anderen Regisseuren. Immer mehr, auch traditionellere, Dokumentarfilme finden den Weg auf die große Leinwand. Natürlich ist Moores Schritt in Richtung Entertainment nicht unumstritten. Im Jahr 2004, dem Erscheinungsjahr seines Bush-kritischen Films, beschäftigte das Thema Michael Moore unzählige Journalisten, andere Filmemacher, Zuschauer und sogar Politiker. Egal, ob man dem Regisseur wohlwollend oder mit Skepsis gegenüber steht, ihn zu ignorieren scheint schlicht unmöglich. Meist steht Michael Moore als Person selbst in der Kritik. Bei negativen Reaktionen auf seine Filme geht es nicht nur um deren Inhalt, sondern auch um ihren Status als Dokumentarfilm. Sonst eher ein Thema für Filmtheoretiker, werden nun die Aufgaben und Pflichten des Genres öffentlich diskutiert. Es ist zu bezweifeln, dass dies aus Sorge um das Schicksal des Dokumentarfilms geschieht. Vielmehr scheint es der einfachste Weg zu sein, Moore zu diskreditieren. Geboren 1954, wurde Michael Moore bereits als Achtzehnjähriger ins Schulamt seiner Heimat Davison, einem Mittelklassevorort der Stadt Flint, gewählt. Mit zweiundzwanzig Jahren gründete er seine eigene Zeitung, die Flint Voice (später Michigan Voice). Für kurze Zeit war Moore als Redakteur in San Francisco bei Mother Jones tätig, ehe er 1989 mit Roger and Me seinen ersten Dokumentarfilm präsentierte, wodurch ein breites Publikum auf ihn aufmerksam wurde. Inzwischen ist er weit mehr als ein Provinzjournalist und Amateurfilmer. Er ist weltbekannter Regisseur, Bestseller-Autor, politischer Aktivist, Polemiker und Humorist. Moore bedient sich verschiedenster Medien (Print, Film, Internet) und bietet viele Angriffspunkte. Bezüglich seiner Dokumentarfilme werden vor allem die vermeintlich verwerflichen Methoden seiner Darstellung von Realität hinterfragt. Die kritischen Stimmen kommen nicht nur aus dem Lager derjenigen, die Moores Politik ablehnen, sondern auch von denen, die seine politischen Überzeugungen teilen. Ist es bei diesen nur der Neid darüber, dass Moore alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, während sie für die gleichen Ziele ebenso hart kämpfen? Verständlich wäre es. Obwohl Moore von Befürwortern für seine journalistischen Nachforschungen gelobt wird, sind viele der in seinen Filmen präsentierten Thesen bereits von anderen aufgestellt worden. Selten erlangten sie jedoch ähnliche Breitenwirkung. Michael Moore dagegen erreicht mit seiner Arbeit viele Menschen. Das scheint sein größtes Vergehen zu sein und ihn aus der Zunft der dokumentarischen Filmemacher fast zwangsläufig auszuschließen. Die fehlende Kommerzialisierung im Dokumentarfilm gilt für einige bis heute als ein wichtiges Merkmal des Genres. Moores Innovationen drängen seine Filme aus den traditionellen Genregrenzen. Umstritten sind neben der offensichtlichen Subjektivität der Rahmenhandlung mit dem einfachen Schema von Gut gegen Böse vor allem Moores gewagten Schlussfolgerungen sowie sein unvorsichtiger Umgang mit der Chronologie von Ereignissen. Moores Präsenz in seinen Filmen wird als Ausdruck seines Geltungsbedürfnisses interpretiert und sein Image als Mann der Arbeiterklasse als falsch 'entlarvt'. All diese Punkte werden auch von politischen Mitstreitern des Filmemachers kritisiert. Durch seinen Erfolg tritt er eben aus der Gruppe der Linken, die im gesellschaftlichen Mainstream nur vereinzelt zu hören ist, besonders lautstark hervor. Die Befürchtung scheint zu sein, dass Moore mit der Simplifizierung von komplexen Themen und seinen pauschalen Erklärungen 'der Sache' eher schadet als sie zu unterstützen. Zu leicht lassen sich seine Methoden angreifen. Es besteht die Gefahr, dass so auch seine politische Grundhaltung, die er ja nicht als einziger vertritt, in Verruf gerät. Auf seine problematischen Vorgehensweisen als Regisseur angesprochen, reagiert Michael Moore in Interviews oft ungehalten. Er wehrt sich gegen die Einschränkungen der Genreklassifizierung, kritisiert andere Dokumentarfilme als langweilig und verteidigt seine Methoden mit dem Verweis auf den Unterhaltungscharakter seiner Filme. Doch inwiefern entschuldigt das Ziel, möglichst viele Menschen anzusprechen, alle Methoden der Repräsentation von historischen und gesellschaftlichen Realitäten? Ist es wirklich so weit gekommen, wie Paul Rotha es bereits 1935 vorhergesehen hat, als er erklärte, 'the documentary intended primarily for theatre distribution must, I am sure, be dramatic in style and form even at the risk of losing accuracy of report'? Passiert dies bei Moore? Wenn ihm Fakten egal sind, wieso werden seine Filme von vielen für das Aufdecken verborgener Tatsachen gelobt? Macht Moores populärer Ansatz tatsächlich eine Darstellung komplexer Realität und ein Festhalten an Wahrheit(en) unmöglich? Sind die Menschen nur so noch zu erreichen? Christopher Hitchens, Autor und Vanity Fair-Kolumnist, hat wohl diesen Eindruck, wenn er am Schluss seiner Kritik an Moores Fakten seine Hoffnungslosigkeit darüber ausdrückt, dass seine Bemühungen um ?Richtigstellung? in 'our sorry, mediocre, celeb-rotten culture' Anerkennung finden werden. Um sich Moores Erfolg erklären zu können, braucht Hitchens die Vorstellung eines verdorbenen Amerika, in dem Entertainment den Vorzug vor der Wahrheit bekommt, und dehnt seine Kritik damit auf die gesamte amerikanische Kulturlandschaft aus. Ein weiterer Gegner Moores beklagt, 'what is worrying is the peculiar, post-modernist, belief among many, especially on the Left, that you shouldn't have to stick to the boring old actual factual truth if what you're campaigning on is important enough'. Jedoch gibt es einen Unterschied zwischen einer solchen Interpretation von subjektiven Wahrheitskonzepten als ein einfaches anything goes - für manche Kritiker eine Art Fazit der Postmoderne - und der Einsicht, dass die Darstellung einer absoluten Wahrheit illusorisch ist. Das ist kein allzu neuer Gedanke. Es ist wieder Paul Rotha, der schon früh feststellte, 'no documentary can be completely truthful, for there can be no such thing as truth while the changing developments in society continue to contradict each other'. Genau an diesem Punkt kann der Dokumentarfilm ansetzen, sogar in einer postmodernen Zeit und darüber hinaus. Durch die bedingte Darstellung von Wirklichkeit, auch ohne absoluten Wahrheitsanspruch, kann er gesellschaftliche Entwicklungen thematisieren und zu ihrem Verständnis beitragen. Zwar ist es für einen Film nicht möglich, die Wahrheit aufzudecken, indem der Gesellschaft ein Spiegel vorgehalten wird, aber das Konzept von Wahrheit muss sich andererseits nicht in zahlreichen unverbindlichen Wahrheiten verlieren. Wie Linda Williams in ihrem wichtigen Aufsatz zu den neuen Dokumentarfilmen Anfang der neunziger Jahre herausstellt, 'it is possible to intervene in the political and cultural construction of truths which, while not guaranteed, nevertheless matter as the narratives by which we live'. Der Dokumentarfilm kann durch seine Darstellung von Wirklichkeit in den gesellschaftlichen Wahrheitskonstruktionsprozess eingreifen und damit noch immer an seinem traditionellen Aufklärungsanspruch bzw. -potential festhalten.