Evidenzbasierte Diagnostik und Förderung von Kindern und Jugendlichen mit intellektueller Beeinträchtigung

von: Kuhl Jan

Hogrefe AG, 2015

ISBN: 9783456954998 , 312 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 26,99 EUR

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Evidenzbasierte Diagnostik und Förderung von Kindern und Jugendlichen mit intellektueller Beeinträchtigung


 

Kapitel 2 Grundprinzipien des Unterrichts und der Förderung von Kindern und Jugendlichen mit intellektueller Beeinträchtigung – Entwicklungs-, Ressourcen- und Lebensweltorientierung (S. 39-40)
Jan Kuhl, Teresa Hecht & Nils Euker

Die ersten Ansätze einer systematischen, institutionellen Unterrichtung und Förderung von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung reichen bis an den Anfang des 19. Jahrhunderts zurück. Das erste umfassende Konzept in diesem Bereich dürfte Edouard Séguin mit seinem 1846 erstmalig erschienenen Werk Die Idiotie und ihre Behandlung nach physiologischer Methode vorgelegt haben. Darin forderte Séguin unter anderem die Abkehr von einer einseitig intellektuellen Erziehung und eine Hinwendung zur Förderung des ganzen Menschen, eine Verbindung des Unterrichts zur Umwelt sowie die Vermeidung von Zwang. Weiterhin war er der Auffassung, dass die gesammelten Erfahrungen zu prüfen seien und die Methode auf Grundlage der Ergebnisse weiterentwickelt werden müsse (Ellger-Rüttgardt, 2008). Seit diesen Anfängen wird die Frage diskutiert, wie das Lernen von Personen mit intellektueller Beeinträchtigung gestaltet werden sollte und ob bzw. welche Unterschiede es zum Lernverhalten von Menschen ohne kognitive Beeinträchtigungen gibt. Damit stellt sich auch die Frage nach dem Spezifischen einer Pädagogik und Didaktik für diesen Personenkreis (Terfloth & Bauersfeld, 2012). Im Laufe der Zeit wurde diese Frage, abhängig von Wissensstand und Menschenbild, unterschiedlich beantwortet.

Mit der Gründung der Schulen für geistig Behinderte in den 1960er Jahren hat sich die Sichtweise durchgesetzt, dass auch Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung lern- und bildungsfähig sind. Der Sonderschule lag aber auch die Annahme zugrunde, dass eine spezielle Didaktik und Pädagogik notwendig ist. Entsprechend wurden Unterrichts- und Förderansätze entwickelt, die nicht unbedingt ausschließlich, aber doch in besonderem Maße für Kinder und Jugendliche mit intellektueller Beeinträchtigung gelten sollen. So beschreibt Speck (2005) die folgenden Prinzipien:
• Individualisierungsprinzip
• Aktivitätsprinzip
• Ganzheitsprinzip
• Prinzip der Lehrzielstrukturierung
• Prinzip der Anschaulichkeit
• Prinzip der Entwicklungsgemäßheit
• Prinzip des aktionsgeleiteten Sprechens
• Prinzip der sozialen Lernmotivation

Andere Konzeptionen listen zwar teilweise abweichende Prinzipien auf, aber insgesamt finden sich doch erhebliche Überschneidungen. Stöppler und Wachsmuth (2010) benennen Elementarisierung, Anschaulichkeit, Strukturierung, Lebensnähe, Individualisierung und adaptives Lernen als didaktisch-methodische Prinzipien für den Unterricht bei Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung.

Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie der geisteswissenschaftlichen Tradition der deutschen Pädagogik verpflichtet sind. Daher haben sie ihre Grundlage mehr in theoretischen Ableitungen als in empirischen Untersuchungen. Da eine Evidenzbasierte Praxis (EbP) aber auf empirischen Befunden aufbaut (zur grundsätzlichen Begründung von EbP siehe Kapitel 1 in diesem Band), soll hier ein anderer Weg beschritten werden, um Prinzipien des Unterrichts und der Förderung zu entwickeln. Grundlage soll dabei empirisch gesichertes Wissen über das Lernen allgemein und das Lernen von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung im Besonderen sein.