Matterhörner - Eine folgenschwere Erbschaft

von: Blanca Imboden

Wörterseh Verlag, 2015

ISBN: 9783037635742 , 208 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Matterhörner - Eine folgenschwere Erbschaft


 

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Die Spätschicht auf dem Stoos zieht sich hin. Es ist Zwischensaison, das heißt, zu wenig Schnee zum Skifahren und zu viel für die Wanderer. Trotzdem muss ich mich konzentrieren. Gerade haben sich die Seilbahntüren geschlossen, und ein Hund hatte noch seinen Schwanz draußen. Sein Gejaule hat mich erschreckt. Ich habe sofort einen Nothalt veranlasst, die Türen wieder geöffnet und ordentlich vor mich hin geschimpft über derart nachlässige Hundebesitzer. Nur ganz leise natürlich, denn Freundlichkeit gegenüber Kunden ist bei uns oberstes Gebot. Aufmerksam beobachte ich alle Bildschirme, bis die Gondel unten ist. Es ist nämlich leicht windig, und Wind ist der größte Feind einer Seilbahn. Aber heute nimmt er zum Glück nicht zu. Später staubsauge ich die Kommandozentrale, wische die Eingangshalle und beschäftige mich, so gut ich kann. Wie gesagt, es kommen zurzeit nur wenige Touristen auf den Stoos, schon gar nicht bei diesem Wetter. Nur Einheimische, Hotelangestellte und Wohnungsbesitzer. Mit allen rede ich ein paar Worte, ich kenne ja die meisten längst persönlich. Das liebe ich an meinem Seilbähnli-Job: den Umgang mit den Menschen. Mit der Technik stehe ich ab und zu auf Kriegsfuß, der Wind ist mein Feind, aber mit den Menschen kann ich es gut. Heute sind die lockeren Gespräche mein Ablenkungsprogramm.

Als Kind habe ich nicht davon geträumt, bei der Seilbahn zu arbeiten. Damals wollte ich Malerin werden, Künstlerin. Aber nachdem uns Mona verlassen hatte und alle Malutensilien sowieso schon aus unserem Haushalt verschwunden waren, war mir irgendwie auch die Lust am Malen vergangen. Es war klar, dass ich das Malen aus meinem Leben verbannen musste, um nicht auch noch auf den letzten Rest von Familienfrieden verzichten zu müssen. Und da mich die Malerei immer nur an Mona erinnern würde, die ich schmerzlich vermisste, war ich dazu auch bereit. Meine Ausbildung zur Kindergärtnerin brachte mich immerhin mit dem Basteln, Handwerken und allerlei Kreativem in Berührung, machte mich aber nicht wirklich glücklich.

Als ich Rolf kennen lernte, einen Kellner, der von einem eigenen Lokal träumte, war ich sofort bereit, mir seinen Traum zu Eigen zu machen. Wir heirateten und eröffneten eine Bar in Luzern. Wir engagierten uns mit voller Kraft für unser Projekt. Anfangs hatten wir auch Erfolg. Später, als Fränzi geboren wurde, ließ das Interesse der Gäste an unserer Bar plötzlich nach, weil es längst wieder neue, spannende Lokale gab. Wir investierten noch mehr, bauten um, aber die Luft war raus. Irgendwann waren wir pleite, mussten aufgeben, und gleichzeitig suchte Rolf das Weite.

Danach gründete ich einen Kinderhort, den ersten im Schwyzer Talkessel, was lange ein tolles Arrangement war. Ich konnte arbeiten und gleichzeitig für Fränzi da sein. Aber irgendwann wollte ich plötzlich nicht mehr ständig und ausschließlich Kinder um mich haben. Ich war mehr und mehr genervt von meiner Arbeit und beschloss, mir eine Auszeit zu nehmen. Ein Freund vermittelte mir diesen Job bei der Seilbahn, und ich nahm ihn an, vorübergehend, wie ich zunächst dachte, um einmal etwas ganz anderes zu tun. Und dann blieb ich und blieb und bin jetzt noch bei der Seilbahn, weil ich mich hier wohlfühle.

Mein Vater verstand damals die Welt nicht mehr. Das sei doch ein enormer Abstieg, rieb er mir unter die Nase, finanziell und auch im Ansehen. Mit meiner guten Ausbildung müsste ich doch mehr aus meinem Leben machen. Außerdem solle ich an meine Pension denken.

Kann sein.

Stimmt vielleicht.

Aber nur teilweise.

Ein beruflicher Abstieg war es jedenfalls nicht, vielmehr ein Aufstieg, und zwar um genau 800 Meter! Ich mag das selbständige, oft auch einsame Arbeiten auf dem Berg inmitten der Natur. Den Stress an der Kasse mag ich weniger. Manchmal wollen nämlich alle gleichzeitig mit der kleinen Seilbahn auf den Stoos, auch wenn sie höchstens 150 Gäste pro Stunde auf den Berg bringt und es doch eine große Standseilbahn gibt, die vom Schlattli aus rund tausend Leute pro Stunde auf den Berg befördern kann. Dann komme ich an der Kasse mit den vielen Tarifen ins Schleudern.

Neulich habe ich versucht, Fränzi unseren Tarifdschungel so zu erklären: »Im Laden kommt einer an die Kasse und will für eine Packung Nudeln bezahlen. Man scannt die Nudeln ein, nimmt das Geld entgegen, fertig. Es gibt höchstens noch die Frage nach den Zahlungsmitteln. Wenn zu uns einer kommt und sagt, er will Nudeln, dann geht der Spaß erst richtig los. Dann müssen wir durch gezielte Fragen herausfinden, ob er wirklich Nudeln kaufen will oder ob nicht Reis für ihn günstiger oder passender wäre. Und, falls er wirklich Nudeln haben will, ob er nicht auch gleich eine Sauce kaufen möchte, weil Nudeln und Sauce in Kombination dann billiger sind. Vielleicht will der Kunde sogar drei Tage lang Nudeln essen? Da wäre es günstiger, wenn er alle Nudeln auf einmal kauft. Hat er gar noch drei Kinder dabei, die auch mitessen wollen? Oder er will die Nudeln in einem Hotel essen? Wohnt er in dem Ort, in dem er auch diese Nudeln kauft? Hat der Kunde eventuell keine Zähne mehr, oder hat er noch gar keine? Wie groß ist sein Hund? All das sind preisrelevante Informationen.

Am lustigsten sind die Leute, die sich an der Kasse anstellen, obwohl sie noch nicht wissen, was sie kochen wollen, und sich dann ein Menü zusammenstellen lassen. Dann muss ich herausfinden, ob einer Veganer ist oder was er sonst gern mag.

Ist das alles geklärt, geht es ans Bezahlen: Einer weist sich als Koch aus, bekommt also Rabatt. Andere knallen bunte, winzige, exotische Gutscheine hin, die bei mir gar nicht oder nur teilweise gültig, vielleicht aber auch bereits abgelaufen sind. Einer behauptet einfach frech, dass dies und das ihn dazu berechtige, weniger oder gar nichts zu bezahlen. Andere wiederum erklären, nur bei mir würden die Nudeln so viel kosten, die seien sonst billiger. Und ganz schlimm wirds, wenn ich verkünden muss, dass man die bunten Gutscheine nicht auch noch mit einem Halbtax-Abo und einem Einheimischenausweis kumulieren kann.«

Fränzi hat sich halb totgelacht über meine Ausführungen. Ich finde es nicht so witzig. Und es geht ja noch weiter. Es gibt Gäste, die sich oben auf dem Berg nicht an der Aussicht erfreuen, sondern unsere Tarife studieren. Wehe, die finden dann heraus, dass Reis für sie besser gewesen wäre als Nudeln oder dass ich ihnen die falsche Sauce empfohlen habe! Auch wenn ich natürlich nicht voraussehen konnte, dass sie unterwegs ihre Ausflugspläne ändern und somit wirklich alles anders hätte berechnet werden können. Zum Glück gibt es diese Probleme hauptsächlich im Sommer. Im Winter fahren die meisten Leute Ski, und fertig.

Jetzt ist Null-Saison.

Nervenschonzeit.

Irgendwie sehnt man sich dann nach mehr Gästen.

Gegen 22 Uhr 30 fahre ich selbst mit der Seilbahn nach unten, meinem Feierabend entgegen. Ich sitze allein im Dunkeln in der Gondel, mache meine ganz persönliche Extrafahrt. Normalerweise ist das ein besonders friedlicher Moment. Die Lichter des Talkessels weit unter mir, die Sterne über mir, schwebe ich bergab und lasse alles, was Arbeit ist, oben auf dem Berg.

Heute würde ich ganz gern irgendwo mitten auf der Strecke den Nothalt-Knopf drücken und in der Schwebe hängen bleiben. Stattdessen fahre ich bald schon in meinem Wagen über kurvige Straßen von Morschach nach Schwyz, wo meine Vergangenheit auf mich wartet, wo die Leichen aus dem Keller gestiegen sind und nun auf Konfrontationskurs gehen.

Was ich sehe, als ich meine Wohnung betrete, haut mich fast um. Fränzi hat ganze Arbeit geleistet. Sie hat die riesige Kiste ausgeräumt, den Inhalt hochgetragen und auf diese Weise meine Wohnung in ein Atelier verwandelt.

Überall sind Bilder, Bilder, Bilder!

Ich werde fast davon erschlagen. Sie stehen überall: im Wohnzimmer, im Flur, in der Küche, im Schlafzimmer…

Und als wäre das nicht schon schlimm genug: Es sind Matterhörner! Nur Matterhörner! Ausschließlich Matterhörner!

Gemalt, gezeichnet, Aquarelle, Ölbilder, Skizzen, abstrakt, realistisch…

Im Morgenlicht, abends, mit Schnee, schrill bunt…

Von vorne, von hinten, von links und von rechts…

Matterhörner, Matterhörner, Matterhörner…

Ich wandle durch meine Wohnung und staune. Ein Berg hat meine vier Wände erobert. Irgendwie ist es wie ein kleiner Albtraum, so eine Wohnung voller Hörner.

Dabei habe ich wirklich nichts gegen das Matterhorn. Ein schöner Berg, keine Frage. Er steht sehr exponiert da oben im Wallis und bezaubert mit seiner besonderen Silhouette. Allerdings bin ich der Meinung, dass dieser einzelne Berg etwas überbewertet wird. Wir haben tausend schöne Berge in der Schweiz, selbst hier vor meiner Haustür: die Mythen, der Niederbauen, die Rigi. Aber das Matterhorn ist halt der Berg, den man im Ausland kennt, den man gut vermarkten kann, der zum Symbol für...