Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend - Bindung, Empathie, Theory of Mind

von: Doris Bischof-Köhler

Kohlhammer Verlag, 2011

ISBN: 9783170281905 , 484 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 31,99 EUR

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Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend - Bindung, Empathie, Theory of Mind


 

1 Phylogenese und Ontogenese


1.1 Phylogenese


1.1.1 Vorerörterungen


Noch ein Buch über soziale Entwicklung? – Da fragt man sich, ob das nötig ist. Deshalb zu Beginn einige Anmerkungen, welche Gründe mich veranlasst haben, dieses Buch zu verfassen. Im Laufe meiner Lehrtätigkeit habe ich in viele Lehrbücher der Entwicklungspsychologie Einsicht genommen und davon durchaus profitiert. Zurück blieb aber immer auch ein Rest von Unbehagen: Die zeitgenössischen Darstellungen und Theorieansätze ließen Fragen offen, weil sie Aspekte nicht berücksichtigten, die mir zentral erschienen. Zum einen betrifft das Unbehagen den theoretischen Bezugsrahmen, innerhalb dessen Entwicklungsphänomene erklärt werden. Zum anderen irritiert die durchgängige Tendenz, motivationale, emotionale und kognitive Entwicklung getrennt abzuhandeln, ohne dass nennenswerte Versuche erkennbar sind, diese aufeinander zu beziehen und zu integrieren.

Wenn man die entwicklungspsychologischen Ansätze Revue passieren lässt, stellt sich die grundsätzliche Frage, auf welchem Komplexitätsniveau bestimmte Leistungen von Kindern erklärt werden. Mit den kognitiven Fähigkeiten des Erwachsenen als Richtmaß, wie das im Umfeld von Jean Piaget tendenziell der Fall war, erschien kindliches Denken als defizitär. Wie sich indessen zunehmend herausstellte, waren die Befunde, die dies belegten, zum Teil durch Untersuchungsmethoden bedingt, die den kindlichen Fähigkeiten nicht gerecht wurden. Hinzu kam, dass Piaget davon ausging, strukturelle Veränderungen fundamentaler Denkoperationen und Erkenntniskategorien müssten sich synchron über viele Bereiche hinweg auswirken. Von Defiziten in einem Bereich leitete er deshalb verallgemeinernd ab, dass die kindliche Kompetenz generell eingeschränkt sei. Mit kindgemäßeren Untersuchungsmethoden wurde inzwischen nachgewiesen, dass Kinder viel früher als von Piaget angenommen bestimmte Leistungen erbringen können. Das hatte nun allerdings zur Folge, dass man heute geneigt ist, ins gegenteilige Extrem zu verfallen und die kindliche Kapazität zu überschätzen. Da jüngere Kinder ihr Verständnis in einem bestimmten Bereich häufig nicht artikulieren, wohl aber im Handeln bekunden können, spricht man von einem impliziten bzw. intuitiven Verständnis. Damit erhebt sich allerdings grundsätzlich die Frage, ob ein Verständnis, das sich im Handeln zeigt, dem entspricht, das sprachlich artikuliert werden kann. Leistungen, die von außen betrachtet äquivalent erscheinen, können auf unterschiedlich komplexen Mechanismen beruhen, und das wird leicht übersehen, wenn man nur vom Effekt her urteilt.

So reicht etwa die Feststellung, dass Babys sozial kompetent interagieren, allein noch nicht aus, um zu belegen, dass sie bereits Einsicht in die subjektive Verfassung einer anderen Person haben, wie in vielen Veröffentlichungen selbstverständlich gefolgert wird. Sozial adäquat interagieren auch Tiere, denen man nicht die anspruchsvollen Erkenntnismittel des menschlichen Verstandes unterstellen kann. Es muss also für die Erklärung gewisser Verhaltensweisen auch andere Lösungen geben. Und von diesen wäre zu prüfen, ob sie nicht ausreichen, um die in Frage stehenden Leistungen bei Kleinkindern auf möglichst sparsame Weise zu erklären. Um hier zu angemessenen Ergebnissen zu kommen, bietet die Betrachtung von Tieren eine fruchtbare Vergleichsbasis und gewährt zugleich eine Anschauungsgrundlage, wie die beim heutigen Menschen beobachtbaren Erkenntnisformen und Verhaltensstrategien während unserer Phylogenese entstanden sein könnten.

Die Herleitung aus der Phylogenese ist von der Überzeugung getragen, dass menschliches Verhalten nur angemessen verstehbar ist, wenn man den Aspekt der Adaptivität in der Analyse berücksichtigt. Der Mensch ist nicht vom Himmel gefallen. Lange bevor eine rationale Handlungsplanung möglich war, haben unsere Vorfahren über Mechanismen der Verhaltenssteuerung verfügt, die eine optimale Anpassung an Umweltbedingungen ermöglichten. Diese Mechanismen waren gleichsam das Ausgangsmaterial, an dem die Evolution menschlicher Erkenntnis- und Handlungsformen ansetzte. Diese haben nun aber die Vorläufer nicht abgelöst, sondern sie integriert und überformt. Verhaltensleistungen, die den modernen Menschen auszeichnen, haben also nicht nur eine ontogenetische Entwicklung, sondern auch eine phylogenetische Vorgeschichte, in der sich die Grundlagen bestimmter Fähigkeiten über Jahrmillionen herausgebildet und adaptiv bewährt haben. Nur unter Einbezug dieser Entstehungsgeschichte lässt sich das Komplexitätsniveau der Mechanismen angemessen einordnen, die zur Erklärung bestimmter Leistungen in Betracht kommen.

Aus dem evolutionären Bezugsrahmen ergibt sich ein weiteres Desiderat für die Abfassung dieses Buches. Die Entwicklungspsychologie konzentriert sich gegenwärtig vorzugsweise auf den kognitiven Bereich, während emotionale und motivationale Aspekte eher zu kurz kommen. Von besonderem Interesse ist indessen gerade die Frage, welche Funktion Emotionen als evolutionär ursprünglichere Anpassungen für die Erkenntnis und für die Verhaltenssteuerung haben, und umgekehrt, wie sich kognitive Entwicklungsschritte auf das emotionale und motivationale Geschehen auswirken. Um nun den Stellenwert der einzelnen Komponenten bei diesem Zusammenspiel adäquat zu bestimmen, ist es unerlässlich, zwei Perspektiven einzubeziehen, die ebenfalls kaum berücksichtigt werden. Bei der ersten handelt es sich um eine phänomenologische Betrachtung der zu analysierenden Bewusstseinsvorgänge. Sie ist die Basis für eine genaue Abgrenzung verwandter und deshalb leicht verwechselbarer Phänomene, deren Eigenqualität nicht selten durch die Einzwängung unter – nur scheinbar exakte – Fachtermini verwischt wird. Als zweites ist es dringend erforderlich, den phänomenologischen Aspekt durch eine erkenntnistheoretische Perspektive zu ergänzen. In diesem Rahmen ist insbesondere die Klärung der Konzepte Kognition, Repräsentation, Mentalismus und Intentionalität angesagt, deren Anwendung, vor allem in Anlehnung an den englischsprachigen Gebrauch, nicht selten die Ursache für widersprüchliche oder zumindest vieldeutige Aussagen sein kann.

Die Orientierung an der Adaptivität bestimmt die Schwerpunkte der in diesem Buch behandelten Themen. Da menschliches Verhalten konsequent aus phylogenetischen Vorformen hergeleitet werden soll, erklärt sich, dass emotionale und motivationale Kompetenzen von besonderem Interesse sind. Kognitiv-rationale Fähigkeiten werden dagegen eher selektiv vornehmlich unter dem Aspekt ihrer Funktion für Motivation und soziale Interaktion abgehandelt, wobei die Mechanismen der sozialen Erkenntnis besondere Beachtung finden. Aus Gründen der Strukturierung lässt es sich nicht vermeiden, zunächst einmal Grundtatsachen der kognitiven und der emotional-motivationalen Entwicklung jeweils gesondert darzustellen – auch muss dies nach Altersabschnitten erfolgen. Indes sollen diese Einzelbereiche, wo immer es sich ergibt, aufeinander bezogen und ihre Zusammenhänge kenntlich gemacht werden.

Bei der skizzierten Akzentsetzung würde es zu weit führen, flächendeckend alle zur sozialen Entwicklung zählenden Themenbereiche abzuhandeln. So wird in Bezug auf Veränderungen im Erwachsenenalter oder Einzelheiten der Lern- und Gedächtnisentwicklung auf die einschlägigen Lehrbücher verwiesen. Da dieses Buch ferner in erster Linie auf Grundlagen fokussiert, sind anwendungsorientierte Erörterungen nur an ausgewählten Stellen vorgesehen.

Das Buch gliedert sich in zwei Teile:

1. Im ersten Teil (Kap. 1–9) steht die motivationale und emotionale Entwicklung im Vordergrund. Die Darstellung wird ihren Schwerpunkt auf das Bindungsverhalten legen, das indessen nur in seiner Verschränkung mit der Entwicklung von Exploration und Autonomie angemessen erklärbar ist. Die Analyse wird durch die Darstellung kognitiver Entwicklungsschritte fundiert, die für das motivationale Geschehen und die soziale Interaktion von Relevanz sind.

2. Der zweite Teil (Kap. 10–18) fokussiert auf die Betrachtung sozialkognitiver Fähigkeiten und ihrer Auswirkungen auf die soziale Interaktion. Dabei stehen Empathie und Theory of Mind im Mittelpunkt der Betrachtung sowie weitere Leistungen, die auf die subjektive Verfassung anderer Bezug nehmen. Da das Erkennen fremden Seelenlebens nur in enger Verflechtung mit dem Selbstverständnis fortschreitet, ist die Entwicklung des Selbstbildes ebenfalls Gegenstand des Buches. In diesem Bezugsrahmen werden spezifisch menschliche Fähigkeiten in den Fokus der Betrachtung rücken, die sich in grundlegenden Veränderungen in der Handlungsorganisation auswirken.

1.1.2 Probleme in der Kleinkindforschung


In der zeitgenössischen psychologischen Theoriebildung ist es üblich, eine Reihe von Komponenten zu unterscheiden, die beim Handeln eine Rolle spielen1. Nachfolgend sind die wichtigsten aufgelistet:

  • Eine Situation mit bestimmten Charakteristika, die eine Handlung auslösen können.
  • Eine bewertende Beurteilung dieser Situation. Was bedeutet sie für den Betreffenden?
  • Eine Vorstellung davon, was man eigentlich verändern möchte.
  • Die Planung, wie sich eine Veränderung am besten herbeiführen ließe. Dabei müssen nicht nur die Schwierigkeiten des zu lösenden Problems eingeschätzt werden, sondern auch die eigenen Fähigkeiten in Bezug zu diesen...