Kuchentage - Kommissar Kattenstrohts dritter Fall

von: Hans-Peter Boer

Landwirtschaftsverlag, 2013

ISBN: 9783784390567 , 184 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Kuchentage - Kommissar Kattenstrohts dritter Fall


 

Bereits in der Luft war Stellmacher klar, dass das danebengehen musste. Unter sich sah er im Sekundenbruchteil das dunkel blinkende Wasser des Grabens, als er schon auf dem anderen Steil-ufer landete, seine Stiefelspitzen sich in die braunen Grassoden bohrten und diese augenblicklich nachgaben. Die Knie tauchten ins Feuchte, das sofort durch den Hosenstoff drang. Mit ruckartigen Bewegungen seiner Füße versuchte Stellmacher, Halt zu finden, wo es kein Halten mehr gab: Mit verzweifelt anmutenden Bewegungen grabschte der Leitende Oberstaatsanwalt aus Münster nach einem verloren dastehenden Ginsterstrauch und erwischte tatsächlich noch einen der harten, dünnen grünen Zweige. Aber der gab nach, wenn auch erst, nachdem er eine kleine Schrunde in seine Hand gerissen hatte. Der Uferrand indes war unter Stellmachers Gewicht längst weggedrückt worden, so dass der sich mit seinen Füßen teilweise bereits im Wasser, teilweise am verschlammten Ufer wiederfand. Mit den Knien steckte er im feuchten Wintergras, und ans Aufstehen war kaum zu denken, denn der Modder des Grabenrandes hatte fast magisch die Stiefel eingezogen. Gequält schaute sich Stellmacher um und meinte schon zu spüren, wie das kalte Wasser in seine Stiefel schwappte.

Über dem Rand des tief eingeschnittenen Vorfluters kam einer seiner Treibergenossen in Sicht, ein älterer, aber drahtiger Bauer, der sich das Grinsen nicht verkneifen konnte, als er die Situation des Stadtfracks erfasste. Er schüttelte nachsichtig den Kopf und stieg dann, die Füße vorsichtig seitlich aufsetzend, den Grabenrand so weit herunter, dass er Stellmacher seine kräftige Hand reichen konnte: „Nun man to, Herr Doktor! Packen Se feste zu, dat wir Sie aus der Driete rauskriegen!“ Zweifellos schwang da ein wenig Schadenfreude mit.

Dankbar packte der Münsteraner zu und sah sich schon bald wieder am oberen Grabenrand auf festem Boden. Reichlich selbstmitleidig schaute er an sich herunter: die Stiefel total verdreckt, die Hose an beiden Knien feucht, eine Hand aufgerissen und die andere mit Schlamm verschmiert. Schlagartig wurde Stellmacher klar, dass Abenteuer wie
diese Treibjagd in seinem Leben eine Ausnahme bleiben würden. Seine ausgeprägte Affinität zu einem sauberen Schreibtisch, seine Freude an einer gepflegten Umgebung und sein – zugegebenermaßen etwas eitler – Hang zu einer gekonnten Selbstdarstellung waren zweifelsfrei stärker als der urtümliche Trieb, sich in freier Natur als ganzer Mann zu erweisen und dem Wilde nachzustellen.

So ein Unfug aber auch, zwei Tage nach Weihnachten bei nasskaltem Wetter an einer solchen Veranstaltung teilzunehmen. Stellmachers Jagdeifer hatte sich bisher auf Übeltäter im Landgerichtsbezirk Münster beschränkt, aber dessen Präsident, der sich jeden Tag über sein schönes Amt in der früheren Provinzialhauptstadt zu freuen schien, hatte über Monate gedrängt und getrieben, Stellmacher möge doch wenigstens einmal als Gast an einer der großen Veranstaltungen der Wodansjäger teilnehmen. Immerhin sei das eine der ältesten, ehrwürdigsten und angesehensten Jagdgesellschaften in ganz Norddeutschland, schon eine Einladung sei eine Ehre, von dauernder Mitgliedschaft ganz zu schweigen; aber in etwa sieben, acht Jahren würde ein Platz für einen aktiven Jäger frei werden, und als jüngerer Jurist in Münster müsse sich der Leitende Oberstaatsanwalt doch rechtzeitig bei dieser noblen Gesellschaft in Erinnerung bringen und auf die Liste setzen lassen. Den Jagdschein könne er bis dahin ganz nebenbei auch noch machen.

Zugegeben, schlecht war der Tag bisher nicht verlaufen. Bereits am frühen Morgen waren die Jäger in Münster aufgebrochen und hatten sich am Kirchplatz in Rechterfeld getroffen. In der kleinen Dorfkirche wurde dann ein Gottesdienst gefeiert, in dem man der Verstorbenen der fast 125 Jahre alten Jagdgesellschaft gedachte. An der Messe nahmen die etwa 25 Jäger, aber auch die Treiber und viele Neugierige aus dem Dorf teil, denn die Weihnachtsjagd der Wodansjäger war für Rechterfeld immer ein großes Ereignis. Autark und stolz, wie diese Gesellschaft nun einmal war, brachte sie auch einen eigenen Priester mit: Hochwürden Prälat Lieftüchter, im Zivilberuf ein gelehrter Domherr, stammte selbst von einem münsterländischen Bauernhof, sprach neben Latein und Italienisch auch die Sprache des Landes; der hochwürdige Herr konnte und wollte seinen Jagdtrieb nie verleugnen.

Nach dem Gottesdienst versammelten sich alle in einem kleinen Gasthaus nahe der Kirche, wo ein deftiges Frühstück mit Schinken und Rühreiern vorbereitet war, das Jäger und Treiber gemeinsam einnahmen. Die meisten Teilnehmer der Weihnachtsjagd kannten sich schon über viele Jahre, die Teilnahme an diesem Ereignis war für viele Familien in Rechterfeld ein fester Termin im Jahreslauf.

Nachdem sich alle gestärkt und im Gespräch auf den Tag eingestimmt hatten, stellte sich die Gesellschaft malerisch auf dem Kirchplatz auf, auf der einen Seite die Jäger, auf der anderen die Treiber, und die Jagd wurde festlich angeblasen. Hell klangen die Jagdhörner durch das Dorf, und die Hunde, die man aus den Anhängern dazugeholt hatte, vervollständigten mit frohem und erwartungsvollem Gebell und Gejaule die malerische Szenerie. Der Jagdherr, im Zivilberuf eben wohlbestallter Präsident des Landgerichtes, begrüßte die Teilnehmer nun auch offiziell und erläuterte noch einmal kurz den Plan des Tages, der mit dem Berufsjäger, den die Gesellschaft in Rechterfeld angestellt hatte, vorbereitet war. Vom Landgasthof „Im halben Mond“, wo die Gesellschaft seit Jahrzehnten ihre feste Station hatte, würde man der Reihe nach die Reviere rund um Rechterfeld durchstreifen und nach Plan das Wild auftreiben. Mit Ermahnungen zur Sicherheit auf der Jagd und mit einem kräftigen „Waidmanns Heil“ schloss der Präsident. Die Hörner bliesen zur Jagd, und Jäger wie Treiber und Hunde eilten ungeduldig zu ihren Wagen.

Treckerbespannte Anhänger, auf denen man grobe Bänke montiert hatte, fuhren die Jagdgesellschaft hinaus in die Reviere. Treiber und Jäger nahmen an den festgelegten Punkten Aufstellung, und bald begannen die Büchsen, rund um Rechterfeld zu knallen. War ein Jagdbereich durchkämmt, sammelte man sich bei den Wagen, hängte die Beute auf die Streckenständer und machte sich auf den Weg in das nächste Revier. Die Wodansjäger, so musste Stellmacher feststellen, schossen gut; einer Reihe von Rehen, Hasen und Fasanen war schon gegen Mittag das Lebenslicht ausgeblasen, und die Stimmung der Männer war trotz des Wetters mit seinen nasskalten Nebeln prächtig. Auch eine kleine Rotte von Wildschweinen hatte man aufgestöbert und ihr den Garaus gemacht.

An einem Waldrand loderte ein großes Feuer; die Wirtin des „Halben Mondes“ hatte eine kräftige Fleischsuppe gekocht und herausgefahren, allen mundete es gut, und auf den groben Bänken an der wärmenden Glut wurde eine erste Bilanz dieser Weihnachtsjagd gezogen.

Oberstaatsanwalt Stellmacher war schon zu dieser Stunde absolut klar, dass das mit der Jägerei nichts für ihn sein würde. Er musste für sich feststellen, dass er einfach „schussbange“ war und bei jedem Knall erschrak. Zudem hatte er, der im Restaurant ein Wildragout oder einen Rehrücken durchaus zu schätzen wusste, erstmals an einer Treibjagd teilgenommen. Die Spannung und Freude der Jäger, die ersten Berichte über die Taten des Morgens blieben ihm etwas fremd. Er grübelte ein wenig herum, bis er das Urteil Otto von Bismarcks wieder komplett auf seinem Schirm hatte: „Es wird nie so viel gelogen wie vor der Wahl, im Kriege und nach der Jagd!“ Allerdings musste er zugeben, dass trotz seiner Erlebnisse im nassen Vorfluter die Bewegung an frischer Luft und die Arbeit mit den kernigen und humorvollen Treibern ihm irgendwie Spaß machten. Lange auch hatte er nicht so ein schönes Plattdeutsch gehört wie hier.

Bis zum späten Nachmittag durchkämmten die Wodansjäger ihre Reviere. Gegen drei Uhr klarte es langsam auf, so dass das Büchsenlicht länger als erwartet anhielt. Am Waldrand nahe dem Gasthaus wurde bei schon einbrechender Dunkelheit die Strecke gelegt, und Stellmacher musterte neugierig die Reihe der erjagten und teilweise schon ausgenommenen Tiere, die im Lichte eines Feuers und mehrerer Fackeln auf Tannenzweigen angeordnet worden waren. Der Präsident der Wodansjäger ließ die für die einzelnen Tiere festgelegten Totsignale blasen, dankte in einer kurzen Ansprache allen Beteiligten für das waidgerechte Verhalten und erklärte die Weihnachtsjagd für geschlossen. Ein letztes Mal erklangen die Hörner, festlich wurde die Jagd abgeblasen, und die Männer richteten sich auf das Schüsseltreiben ein, das wie seit unvordenklichen Tagen im Kaminzimmer des „Halben Mondes“ abgehalten werden sollte.

Man wechselte an den Autos Mäntel, Jacken und Schuhe, verstaute die Waffen und versorgte die Hunde. Ein Teil der Treiber rückte zwischendurch ab, da man auf den Höfen rund um Rechterfeld auch Vieh zu versorgen hatte, die anderen fanden sich mit den Jägern am flackernden Herdfeuer zusammen und warteten auf das gemeinsame Essen. Ein erster Umtrunk lockerte Stimmung und Zungen, und auch die Mittel und Wege wurden diskutiert, wie man denn am Abend nach Hause kommen wollte. Praktischerweise hatten sich die Damen der Wodansjäger dahin verabredet, mit mehreren Wagen von Münster aus nach Rechterfeld zu kommen, um am späten Abend dort ihre Nimrode wieder einzusammeln. Stellmacher hatte derartige Vorsichtsmaßnahmen nicht geregelt gekriegt, guckte ziemlich leidend in sein Glas alkoholfreien Biers und war sich sicher, baldmöglichst aufbrechen zu wollen, obwohl die Unterhaltung nicht schlecht war. Der Leitende Oberstaatsanwalt saß nämlich zwischen...