Sommerlügen

von: Bernhard Schlink

Diogenes, 2012

ISBN: 9783257600414 , 288 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Sommerlügen


 

[7] Nachsaison

1

Vor der Gepäckkontrolle mussten sie Abschied nehmen. Aber weil in dem kleinen Flughafen alle Schalter und Kontrollen in einem Raum untergebracht waren, konnte er ihr mit den Augen folgen, als sie ihre Tasche auf das Band legte, durch den Detektor ging, die Bordkarte vorzeigte und zum Flugzeug geführt wurde. Es stand gleich hinter der Glastür auf dem Rollfeld.

Sie sah immer wieder zu ihm und winkte. Auf den Stufen zum Flugzeug drehte sie sich ein letztes Mal um, lachte und weinte, legte ihre Hand auf ihr Herz. Als sie im Flugzeug verschwand, winkte er den kleinen Fenstern zu, wusste aber nicht, ob sie ihn sah. Dann wurden die Motoren angeworfen, die Propeller drehten sich, das Flugzeug rollte an, wurde schneller und hob ab.

Sein Flug ging erst in einer Stunde. Er holte sich Kaffee und Zeitung und setzte sich auf eine Bank. Seit sie sich kennengelernt hatten, hatte er keine Zeitung mehr gelesen und nicht mehr alleine über einem Kaffee gesessen. Als er nach einer Viertelstunde noch immer keine Zeile gelesen und keinen Schluck getrunken hatte, dachte er: Ich habe das Alleinsein verlernt. Er mochte den Gedanken.

[8] 2

Vor dreizehn Tagen war er angekommen. Die Saison war zu Ende und mit ihr das schöne Wetter. Es regnete, und er verbrachte den Nachmittag mit einem Buch auf der überdachten Veranda seines Bed & Breakfast. Als er sich am nächsten Tag in das schlechte Wetter schickte und im Regen am Strand zum Leuchtturm wanderte, begegnete er der Frau zuerst auf dem Hin- und dann auf dem Rückweg. Sie lächelten einander an, neugierig beim ersten Mal und schon ein bisschen vertraut beim zweiten. Sie waren weit und breit die einzigen Wanderer, und sie waren Leidens- und Freudengenossen, hätten beide lieber einen klaren, blauen Himmel gehabt, genossen aber den weichen Regen.

Am Abend saß sie alleine auf der großen, mit Plastikdach und -fenstern bereits herbsttauglich gemachten Terrasse des beliebten Fischrestaurants. Sie hatte ein volles Glas vor sich und las ein Buch – Zeichen, dass sie noch nicht gegessen hatte und nicht auf ihren Mann oder Freund wartete? Er stand unschlüssig in der Tür, bis sie aufschaute und ihn freundlich anlächelte. Da fasste er sich ein Herz, ging zu ihrem Tisch und fragte, ob er sich zu ihr setzen dürfe.

»Bitte«, sagte sie und legte das Buch zur Seite.

Er setzte sich, und weil sie schon bestellt hatte, konnte sie ihn beraten, und er wählte den Kabeljau, den sie auch gewählt hatte. Dann wussten beide nicht, wie sie ins Gespräch finden sollten. Das Buch half nicht; es lag so, dass er den Titel nicht lesen konnte. Schließlich sagte er: »Hat was, ein später Urlaub auf dem Cape.«

»Weil das Wetter so gut ist?« Sie lachte.

[9] Machte sie sich über ihn lustig? Er sah sie an, kein hübsches Gesicht, die Augen zu klein und das Kinn zu kräftig, aber der Ausdruck nicht spöttisch, sondern fröhlich, vielleicht ein bisschen unsicher. »Weil man den Strand für sich hat. Weil man in Restaurants einen Tisch findet, in denen man in der Saison keinen fände. Weil man mit wenigen Menschen weniger alleine ist als mit vielen.«

»Kommen Sie immer nach dem Ende der Saison?«

»Ich bin das erste Mal hier. Eigentlich müsste ich arbeiten. Aber mein Finger macht noch nicht mit, und seine Übungen kann er ebenso hier machen wie in New York.« Er bewegte den kleinen Finger der linken Hand auf und ab, beugte und streckte ihn.

Sie sah dem kleinen Finger verwundert zu. »Wofür übt er?«

»Für die Flöte. Ich spiele im Orchester. Und Sie?«

»Ich habe Klavier gelernt, spiele aber nur noch selten.« Sie wurde rot. »Das meinen Sie nicht. Ich bin als Kind mit den Eltern oft hier gewesen und habe manchmal Heimweh. Und nach dem Ende der Saison hat das Cape den Reiz, den Sie beschrieben haben. Alles ist leerer, ruhiger – ich mag das.«

Er sagte nicht, dass er sich einen Urlaub während der Saison nicht leisten könnte, und nahm an, dass es ihr ebenso ging. Sie trug Turnschuhe, Jeans und Sweatshirt, und über der Lehne des Stuhls hing eine ausgeblichene gewachste Jacke. Als sie zusammen die Weinkarte studierten, schlug sie eine billige Flasche Sauvignon Blanc vor. Sie erzählte von Los Angeles, von ihrer Arbeit bei einer Stiftung, die Kinder aus dem Ghetto Theater spielen ließ, von dem Leben ohne Winter, von der Gewalt des Pazifik, vom Verkehr. Er [10] erzählte vom Sturz über ein falsch verlegtes Kabel, bei dem er sich den Finger gebrochen hatte, vom Armbruch beim Sprung aus dem Fenster mit neun und vom Beinbruch beim Skifahren mit dreizehn. Sie saßen zuerst alleine auf der Terrasse, dann kamen weitere Gäste, und dann saßen sie bei einer zweiten Flasche wieder alleine. Wenn sie aus dem Fenster sahen, lagen Meer und Strand in völliger Finsternis. Der Regen rauschte auf das Dach.

»Was haben Sie morgen vor?«

»Ich weiß, dass Sie im Bed & Breakfast Frühstück kriegen. Aber wie wär’s mit Frühstück bei mir?«

Er brachte sie nach Hause. Unter dem Schirm nahm sie seinen Arm. Sie redeten nicht. Ihr kleines Haus lag an der Straße, an der eine Meile weiter sein Bed & Breakfast lag. Vor der Tür ging von selbst das Licht an, und sie sahen einander zu plötzlich zu hell. Sie umarmte ihn kurz und gab ihm den Hauch eines Kusses. Ehe sie die Tür zumachte, sagte er: »Ich heiße Richard. Wie heißen…«

»Ich heiße Susan.«

3

Richard wachte früh auf, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und hörte den Regen in den Blättern der Bäume und auf dem Kies des Wegs. Er hörte das gleichmäßige, beruhigende Rauschen gerne, auch wenn es für den Tag nichts Gutes verhieß. Würden Susan und er nach dem Frühstück am Strand wandern? Oder im Wald um den See? Oder Fahrrad fahren? Er hatte kein Auto gemietet und vermutete, dass [11] auch sie keines gemietet hatte. So war der Radius gemeinsamer Unternehmungen begrenzt.

Er beugte und streckte den kleinen Finger, damit er später weniger üben musste. Er hatte ein bisschen Angst. Wenn Susan und er nach dem Frühstück tatsächlich den Tag gemeinsam verbringen und auch noch gemeinsam essen oder sogar kochen würden – was kam danach? Musste er mit ihr schlafen? Ihr zeigen, dass sie eine begehrenswerte Frau war und er ein begehrensstarker Mann? Weil er anders sie kränken und sich blamieren würde? Er hatte über Jahre mit keiner Frau geschlafen. Er fühlte sich nicht besonders begehrensstark und hatte sie am letzten Abend auch nicht besonders begehrenswert gefunden. Sie hatte vieles zu erzählen und zu fragen, hörte aufmerksam zu, war lebhaft und witzig. Dass sie, ehe sie etwas sagte, immer einen winzigen Augenblick zögerte und, wenn sie sich konzentrierte, die Augen zusammenkniff, hatte Charme. Sie weckte sein Interesse. Sein Begehren?

Im Salon war für ihn das Frühstück gerichtet, und weil er das ältere Ehepaar, das Orangensaft gepresst, Rühreier geschlagen und Pfannkuchen gebacken hatte, nicht enttäuschen mochte, setzte er sich und aß. Die Frau kam alle paar Minuten aus der Küche und fragte, ob er noch Kaffee wünsche oder mehr Butter oder andere Marmelade oder Obst oder Joghurt. Bis er begriff, dass sie mit ihm reden wollte. Er fragte sie, wie lange sie schon hier lebe, und sie setzte die Kaffeekanne ab und blieb neben dem Tisch stehen. Vor vierzig Jahren hatte ihr Mann eine kleine Erbschaft gemacht, und sie hatten das Haus auf dem Cape gekauft, in dem er schreiben und sie malen wollte. Aber aus dem Schreiben und [12] Malen wurde nichts, und als die Kinder groß waren und die Erbschaft aufgebraucht war, machten sie aus dem Haus ein Bed & Breakfast. »Was Sie über das Cape wissen wollen, wo es am schönsten ist und wo man am besten isst, fragen Sie mich. Und wenn Sie heute rausgehen – Strand ist auch bei Regen Strand, Wald ist nur nass.«

In den Bäumen des Walds hing der Nebel. Er hüllte auch die Häuser ein, die abseits der Straße standen. Das kleine Haus, in dem Susan wohnte, war ein Pförtnerhaus, neben dem eine Auffahrt zu einem großen, nebelverhüllten, geheimnisvollen Haus führte. Er fand keine Klingel und klopfte. »Gleich«, rief sie, und es klang weit weg. Er hörte sie eine Treppe hinauflaufen, eine Tür zuwerfen und einen Gang entlangrennen. Dann stand sie vor ihm, außer Atem und eine Flasche Champagner in der Hand. »Ich war im Keller.«

Der Champagner machte ihm wieder Angst. Er sah Susan und sich mit den Gläsern vor einem Feuer im Kamin auf einem Sofa sitzen. Sie rückte näher. Es war so weit.

»Was stehst du und guckst? Komm rein!«

In dem großen Zimmer neben der Küche sah er tatsächlich einen Kamin, daneben Holz und davor ein Sofa. Susan hatte in der Küche gedeckt, und wieder trank er Orangensaft und aß Rühreier, und danach gab es Obstsalat mit Nüssen. »Es hat wunderbar geschmeckt. Aber jetzt muss ich raus und laufen oder Fahrrad fahren oder schwimmen.« Als sie zweifelnd in den Regen sah, erzählte er ihr von seinem doppelten Frühstück.

»Du wolltest John und Linda nicht enttäuschen? Was für ein Schatz du bist!« Sie sah ihn vergnügt und bewundernd an. »Ja, warum nicht schwimmen! Du hast keine Badehose? [13] Du willst…« Sie schaute zweifelnd, war aber einverstanden, packte Handtücher in eine große Tasche und legte einen Schirm, den Champagner und zwei Gläser dazu. »Wir können übers Grundstück gehen, es ist schöner und geht schneller.«

4

Sie kamen an dem großen Haus vorbei, einem mit hohen Säulen und geschlossenen Läden auch aus der Nähe geheimnisvollen Bau....