Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht - Ein SPIEGEL-Buch

von: Uwe Klußmann, Dietmar Pieper

Deutsche Verlags-Anstalt, 2012

ISBN: 9783641093693 , 288 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,49 EUR

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Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht - Ein SPIEGEL-Buch


 

In Briefen an den Zaren beklagt der Abtrünnige dessen gewalttätiges Regiment. Iwan wiederum wirft Kurbski vor, er habe ihn wegen materieller Vorteile verraten und »des Leibes wegen die Seele vernichtet«. Die »Selbstherrschaft« des Zaren, so Iwan, sei nun einmal »nach Gottes Ratschluss« gegründet. Eindringlich beschreibt der Monarch, wie er seine Aufgabe versteht: »Und immerdar geziemt es den Herrschern, umsichtig zu sein: hier sehr milde, dort grimmig; für die Guten Gnade und Milde, für die Bösen Grimm und Pein. Wenn er aber das nicht hat, so ist er gar kein Zar; denn der Zar ist nicht in den guten Werken, sondern den bösen zu fürchten.« Die Affäre Kurbski macht aus Iwan IV. endgültig Iwan Grosny, den »Gestrengen«, den man im Westen bald »den Schrecklichen« nennen wird. Dass er sich die Bojaren zu Feinden auf Lebenszeit gemacht hat, weiß der Potentat schon lange, spätestens seit einer schweren Erkrankung im Jahre 1553. Da zögern angeblich viele Fürsten, die Bitte des Zaren zu erfüllen, seinem kleinen Sohn Dmitrij die Treue zu schwören – um dem Zaren die Erbfolge zu sichern, falls er stirbt. Der Fall Kurbski zeigt aus Sicht des Selbstherrschers, dass die Bojaren sogar potentielle Landesverräter sind, bereit, sich an ausländische Feinde Russlands zu verkaufen.

Ein halbes Jahr danach, im November 1564, entschließt sich der Zar zu einem dramatischen Schritt. Er ruft Bojaren und Geistliche im Moskauer Kreml zusammen. In einer Rede klagt er über Untreue und Verrat. Überraschend verkündet er, er lege seine Herrschaft nieder. Vor den verblüfften Zuhörern zieht er sein Ornat aus, setzt die Krone ab und verlässt bald darauf den Kreml. Am 3. Dezember lässt er mehr als hundert Schlitten beladen und fährt mit Familienangehörigen und Gefährten auf verschneiten Wegen aus der Hauptstadt. Die Reise endet in Alexandrowa Sloboda, einem Landsitz 100 Kilometer nordöstlich von Moskau.

Die Moskauer sind bestürzt und hilflos. Da bringen Reiter Anfang Januar 1565 eine Zaren-Botschaft, die vor dem Volk verlesen wird. Iwan klagt erneut die verräterischen Bojaren an und verkündet sogleich, gegen das Volk von Moskau hege er keinen Groll. Nun geschieht, worauf der Zar gesetzt hat: Eine große Delegation der Moskauer zieht nach Alexandrowa Sloboda, mit Kirchenfahnen und Ikonen, singend und betend. Das Volk will seinen Zaren zurück. Der stellt Bedingungen: Mit »Verrätern« werde er verfahren, wie er es für richtig halte. Und der Staat werde radikal umgebaut.

Opritschnina heißt das Zauberwort der erneuerten Zarenherrschaft. Der Begriff bedeutete ursprünglich den abgesonderten Teil eines Erbes. Praktisch geht es um einen Staat im Staate. Die Opritschniki, eine dem Zaren ergebene Garde, bilden die neue Stütze der Herrschermacht. Die Männer gehören überwiegend zum Dienstadel, einer Schicht, die gut 18000 Mann zählt. Iwan Grosny unterstellt der Opritschnina große Teile des russischen Territoriums, den Südwesten Moskaus inklusive. Die restlichen Gebiete verbleiben als »Semschtschina« unter der Bojaren-Duma.

Die Opritschniki, zunächst 1000 Mann, bald darauf 6000 Kämpfer, leisten dem Zaren einen besonderen Treueeid. Sie tragen schwarze Kittel und führen an ihren Pferden einen Hundekopf und Besen als Abzeichen. Als Sicherheitsdienst sollen sie Feinde des Herrschers wie Hunde aus der Heimat jagen. Erstmals zeigt sich, so der Moskauer Historiker Andrej Firsow, »dass Russland Krisen mit außerordentlichen Kommissionen bewältigt« – eine Anspielung auf die spätere bolschewistische Geheimpolizei. Mit den Opritschniki, meist jungen Aufsteigern aus dem Dienstadel, kommt ein Terrorregime auf Touren. Der Orden unter dem Hundekopf verschafft seinen Mitgliedern Landgüter der Bojaren, die gewaltsam umgesiedelt werden. In Alexandrowa Sloboda errichtet der Zar mit der Opritschnina eine zweite Hauptstadt. Diese Festung hinter Wall und Graben verlässt der Herrscher nur unter dem Schutz einer Sicherheitstruppe. Entspannung findet Iwan bei den Klängen seines 27-köpfigen Chores. Dessen Sänger stimmen Loblieder an auf Gott, den Zaren und die Heimat.

AUTOKRATIE

Macht ohne Rechenschaft

Als Autokratie bezeichnet man die Regierung eines Alleinherrschers, dessen Machtfülle nicht durch Kontrollinstanzen eingeschränkt ist. In diesem Sinne waren die russischen Zaren stets Autokraten. Ihr zentralistisches System der »Selbstherrschaft« sah eine Teilhabe des Volkes an der Staatsgewalt nicht vor. Ein Autokrat ist niemandem Rechenschaft schuldig. Er allein verkörpert den souveränen Staat. Im Zarentum findet die Macht des Herrschers ihre Beschränkung nur im göttlichen Recht und in der Verpflichtung des Monarchen auf die Idee des Reiches.

In der Opritschnina dienen gläubige Gefolgsleute des Monarchen, aber auch zynische Abenteurer wie der Deutsche Heinrich von Staden aus dem Münsterland. Der prahlt damit, dass Strafexpeditionen gegen Bojaren in Raubzüge ausarten, bei denen sich Opritschniki schamlos bereichern. Weil sie sicher sind, straffrei auszugehen, lassen die Gardisten immer öfter alle Hemmungen fallen. Besonders arg treiben es die Opritschniki bei einem Überfall auf die Handelsstadt Nowgorod 1570.

Sie rauben Kirchenschätze, plündern den Hof des Erzbischofs und die Häuser von Handwerkern und Kaufleuten. Sie foltern vermeintliche Verräter am offenen Feuer. Die Gequälten liefern alle gewünschten Geständnisse. In Nowgorod sperrt ein Opritschnik einen Amtmann mit einem Bären in ein Zimmer. Das Tier zerfetzt dem zu Tode Erschrockenen die Kleidung. Als auch die orthodoxe Kirche sich gegen die Opritschnina wendet, lässt der Zar den Metropoliten Filipp II., der dem Zaren den Segen verweigert, in ein Kloster verbannen. Später erwürgt ihn dort ein führender Opritschnik.

Allmählich aber dämmert es Iwan Grosny, dass mit rauen Gesellen allein auf Dauer kein Staat zu machen ist. So lässt der Zar zahlreiche Opritschniki umbringen. 1571/72 wehren Opritschniki und Bojarentruppen gemeinsam einen Angriff des Krim-Khanats auf Moskau ab. Es ist für Russland ein Krieg um Sein oder Nichtsein. Der Zar scheint zu begreifen, dass er sich eine Spaltung des Landes nicht länger leisten kann. Schließlich bleibt nach Säuberungen ab 1572 kaum ein Fünftel der alten Opritschniki im Hofdienst. Der Zar löst die Opritschnina im gleichen Jahr auf. Und er verbietet, sie künftig auch nur zu erwähnen. Mindestens 4000 Menschen sind unmittelbar durch die Opritschniki ums Leben gekommen. Der Schaden für das Land, das etwa acht bis zehn Millionen Einwohner zählt, geht tiefer. Angst und Misstrauen bestimmen weiterhin das öffentliche Leben. Der dunkelbärtige Herrscher, 1,78 Meter groß, verbreitet mit seinen unruhig umherschweifenden Blicken eine Atmosphäre der Furcht. Vor der brodelnden Wut des zornigen Zaren sind nicht einmal nahe Familienangehörige sicher.

Im November 1581 trifft er bei einem Streit seinen Sohn Iwan mit der eisernen Spitze eines Stabes an der Schläfe. Blutend bricht der 27 Jahre alte Zarewitsch zusammen. Wenige Tage später stirbt er. Der Totschlag im Affekt erschüttert den 51-jährigen Täter tief. Denn der zügellose Zar wollte seinen Sohn nicht umbringen. Iwan Grosny setzt die Zarenkrone nicht mehr auf. Er legt auch seinen fürstlichen Schmuck nicht mehr an. Der fanatisch religiöse Monarch, der seine innere Zerrissenheit auf das ganze Land übertragen hat, zeigt überraschend Züge von Altersmilde.

Nach Jahrzehnten, in denen er fast ununterbrochen Krieg geführt hat, schließt er 1582 Frieden mit Polen-Litauen. Er spendet große Geldsummen an Klöster und lässt für die Seelen jener vermeintlichen Feinde beten, die er hinrichten ließ. Iwan IV. versucht, »die Rolle und die Maske eines Peinigers gegen die eines Wohltäters auszutauschen«, so der russische Historiker Ruslan Skrynnikow. Dazu hat er allen Anlass. Russland ist verarmt und verödet. Es wird heimgesucht von Missernten und Pest. Am 18. März 1584 stirbt der Zar im Alter von 53 Jahren, plötzlich, während er ein letztes Mal Schachfiguren setzt. Trotz seiner düsteren Seiten hat Iwan IV. in Russland weiterhin viele Verehrer. Denn er verschafft dem entstehenden Imperium mit dem gestärkten Dienstadel eine staatstragende Schicht. Und er weist die Richtungen, wohin das Reich sich ausdehnen wird: zum Kaukasus und zum Schwarzen Meer, an die Ostsee und nach Sibirien.

Josef Stalin lässt den Regisseur Sergej Eisenstein im Zweiten Weltkrieg einen Film über Iwan Grosny drehen. Das Volk soll sich am Beispiel dieses Zaren aufrichten. Das Verdikt von Karl Marx über die »unglaublich grausamen Untaten der Opritschniki« ist für Stalin nicht bindend. Eisensteins Monumentalfilm zeigt Iwan IV. als begnadeten Volksführer. Im russischen Vorspann heißt es, das Werk handele »von einem Menschen, der als erster unser Land einte und einen mächtigen Staat schuf«. Die Zuschauer erleben einen entschlossenen Zaren, bedrängt von arglistigen Bojaren und beschützt von treuen Opritschniki. Ein zweiter Teil des Epos, in dem Eisenstein auf Stalins Schreckensherrschaft anspielt, wird zunächst verboten und erreicht die Zuschauer erst nach dem Tod des roten Zaren.

Ein gänzlich anderes Bild Iwans bietet der 2008/09 gedrehte Film »Zar« des liberalen Moskauer Regisseurs Pawel Lungin. Der zeigt ein Grosny-Land voller an Galgen baumelnder Leichen, ein Reich der Finsternis, regiert von einem psychopathischen Despoten. Ironie der Geschichte: Gefördert wurde der Film vom Bankier Andrej Borodin, während der Dreharbeiten Boss der »Bank Moskwy«, Vertrauter des damaligen...