Die Cellistin - Ein Gabriel-Allon-Thriller | Vom Meister der politischen Spannung - Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste

Die Cellistin - Ein Gabriel-Allon-Thriller | Vom Meister der politischen Spannung - Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste

von: Daniel Silva

HarperCollins, 2022

ISBN: 9783749904990 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 10,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Die Cellistin - Ein Gabriel-Allon-Thriller | Vom Meister der politischen Spannung - Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste


 

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JERMYN STREET, ST. JAMES’S, LONDON

Sarah Bancroft beneidete die glücklichen Menschen, die sich einbildeten, ihr Schicksal selbst in der Hand zu haben. Für sie war das Leben nicht komplizierter als eine Fahrt mit der U-Bahn. Fahrkarte an der Sperre entwerten, an der richtigen Station aussteigen – Charing Cross statt Leicester Square. Diesen Blödsinn hatte Sarah nie geglaubt. Ja, man konnte sich vorbereiten, man konnte kämpfen, man konnte zwischen Optionen wählen, aber letzten Endes war das Leben doch ein kompliziertes Spiel aus Vorsehung und Wahrscheinlichkeit. In ihrem Arbeits- und Liebesleben hatte sie ein frappierendes Geschick für die Wahl des falschen Zeitpunkts an den Tag gelegt. Sie war immer einen Schritt zu schnell oder einen zu langsam dran, fast immer mit katastrophalen Folgen.

Auch ihr jüngster Karriereschritt schien wieder unter einem schlechten Stern zu stehen. Nachdem sie zu einer der prominentesten Museumskuratoren New Yorks aufgestiegen war, hatte sie sich dafür entschieden, nach London umzuziehen, um die Geschäftsführung von Isherwood Fine Arts, seit 1968 auf hochwertige italienische und holländische Altmeister spezialisiert, zu übernehmen. Erwartungsgemäß brach kurz nach ihrer Ankunft eine tödliche Pandemie aus. Selbst der Kunsthandel, der davon lebte, die Launen der Superreichen dieser Welt zu befriedigen, war nicht gegen das hochansteckende Virus gefeit. Praktisch über Nacht glitt der Umsatz der Galerie in einen Zustand ab, der fast einem Herzstillstand gleichkam. Klingelte das Telefon überhaupt noch, war ein Käufer oder sein Beauftragter dran, um von einem Kauf zurückzutreten. Seit der West-End-Premiere der Musical-Version von Susan … verzweifelt gesucht, behauptete Sarahs spitzzüngige Mutter, habe London kein weniger hoffnungsvolles Debüt mehr erlebt.

Isherwood Fine Arts hatte schon früher schwierige Zeiten durchgemacht – Kriege, Terroranschläge, Ölschocks, Marktzusammenbrüche, katastrophale Liebesaffären –, es aber stets irgendwie geschafft, den Sturm abzuwettern. Vor fünfzehn Jahren hatte Sarah schon einmal kurz in der Galerie gearbeitet, damals als Undercover-Agentin der Central Intelligence Agency. Die Operation war ein amerikanisch-israelisches Unternehmen unter Leitung des legendären Gabriel Allon gewesen. Mithilfe eines verschollenen Van-Gogh-Gemäldes hatte er sie mit dem Auftrag ins Gefolge des saudischen Multimilliardärs Zizi al-Bakari eingeschleust, den darin tätigen Terrorplaner aufzuspüren. Das hatte Sarahs Leben für immer verändert.

Nach diesem Unternehmen hatte sie sich mehrere Monate lang in einem sicheren Haus der Agency – eine Pferderanch im Norden Virginias – erholen müssen. Anschließend hatte sie im CIA-Zentrum für Terrorismusbekämpfung in Langley gearbeitet und auf Veranlassung Gabriels an mehreren amerikanisch-israelischen Unternehmen teilgenommen. Die britischen Nachrichtendienste wussten natürlich von ihrer Vergangenheit und ihrer Anwesenheit in London – kaum verwunderlich, weil sie gegenwärtig mit einem MI6-Offizier namens Christopher Keller zusammenlebte. Normalerweise waren solche Beziehungen strikt verboten, aber in Sarahs Fall war eine Ausnahme gemacht worden. Graham Seymour, der MI6-Generaldirektor, war ebenso ein persönlicher Freund wie Premierminister Jonathan Lancaster. Tatsächlich waren Sarah und Christopher nicht lange nach ihrer Ankunft zu einem privaten Abendessen in der Number Ten gewesen.

Mit Ausnahme von Julian Isherwood, dem Besitzer der bezaubernden Galerie, die seinen Namen trug, wussten die Protagonisten der Londoner Kunstszene von alledem nichts. Für Sarahs Kollegen und Konkurrenten war sie die schöne und brillante amerikanische Kunsthistorikerin, die in einem lange zurückliegenden trüben Winter ihre Welt aufgeheitert hatte, nur um sie für Leute wie Zizi al-Bakari, er ruhe in Frieden, schnöde sitzen zu lassen. Und nun, nach einer turbulenten Reise durch die Welt der Geheimdienste, war sie zurückgekehrt und hatte damit ihre Theorie über Vorsehung und Wahrscheinlichkeit bewiesen.

London hatte sie mit offenen Armen empfangen und nur wenige Fragen gestellt. Sie hatte kaum Zeit, ihre Angelegenheiten zu ordnen, bevor die Epidemie ausbrach. Anfang März infizierte sie sich unwissentlich auf der European Fine Art Fair in Maastricht und steckte prompt Julian und Christopher an. Julian verbrachte schreckliche zwei Wochen im University College Hospital. Sarah blieben die schlimmsten Symptome erspart, aber sie litt einen Monat lang an Fieber, Erschöpfung, Kopfschmerzen und Kurzatmigkeit, die ihr bei jedem Aufstehen zusetzte. Wenig überraschend spürte Christopher nichts, kam gänzlich ohne Symptome davon. Sarah rächte sich dafür, indem sie sich von vorne bis hinten von ihm bedienen ließ. Irgendwie überlebte ihre Beziehung.

Im Juni erwachte London aus dem Lockdown. Nach drei negativen PCR-Tests trat Christopher wieder seinen Dienst in Vauxhall Cross an, aber Sarah und Julian warteten bis zur Sonnenwende, bevor sie die Galerie wieder öffneten. Sie lag im Mason’s Yard, einem stillen gepflasterten Innenhof zwischen der Vertretung einer kleinen griechischen Reederei und einem Pub, in dem in der unschuldigen Zeit vor der Seuche hübsche Mädchen verkehrt hatten, die in Büros arbeiteten und Motorroller fuhren. Im obersten Stock lag ein prachtvoller Showroom nach dem Vorbild von Paul Rosenbergs berühmter Galerie in Paris, in der Julian als Kind viele glückliche Stunden verbracht hatte. Sarah und er teilten sich ein großes Büro im ersten Stock mit Ella, der attraktiven, aber untauglichen Vorzimmerdame. In der ersten Woche nach der Wiedereröffnung klingelte das Telefon nur dreimal. Ella ließ alle drei Anrufer auf den Anrufbeantworter sprechen. Sarah teilte ihr mit, ihre Dienste – soweit man von welchen sprechen konnte – würden nicht länger benötigt.

Einen Ersatz für sie einzustellen hatte keinen Zweck. Die Virologen warnten vor einer noch heftigeren zweiten Welle, wenn das Wetter kälter wurde, und die Londoner Geschäftswelt war bereits vor weiteren staatlich verordneten Lockdowns gewarnt worden. Unter diesen Umständen wollte Sarah keine Angestellte durchfüttern müssen. Sie beschloss, diesen Sommer zu nutzen. Sie würde ein Gemälde verkaufen, irgendein Gemälde, auch wenn es sie das Leben kostete.

Eigentlich mehr zufällig fand sie eines, während sie die katastrophal vielen unverkauften Gemälde in Julians übervollen Lagerräumen inventarisierte. Die Lautenspielerin, Öl auf Leinwand, 152 x 134 Zentimeter, anscheinend Frühbarock, ziemlich schmutzig und beschädigt. In Julians Archiv fand sich außer der Originalrechnung noch eine vergilbte Kopie der Provenienz. Der früheste bekannte Besitzer war ein Graf Soundso in Bologna, der das Gemälde im Jahr 1698 einem Angehörigen des liechtensteinischen Fürstenhauses schenkte, der es seinerseits einem Baron Soundso in Wien verkaufte, wo es bis 1962 verblieb, als ein römischer Kunsthändler das Werk kaufte, um es viele Jahre später Julian anzudrehen. Zugeschrieben worden war das Gemälde abwechselnd der Italienischen Schule, einem Schüler Caravaggios und – vielversprechender – dem Künstlerkreis um Orazio Gentileschi. Sarah hatte einen bestimmten Verdacht. Sie zeigte das Werk in Julians dreistündiger Mittagspause dem gelehrten Niles Dunham von der National Gallery. Niles erklärte sich vorläufig mit Sarahs Zuschreibung einverstanden, behielt sich aber eine technische Untersuchung mit Röntgen und IR-Reflektographie vor. Dann bot er Sarah an, ihr das Gemälde für achthunderttausend Pfund abzukaufen.

»Es ist fünf Millionen wert, wenn nicht mehr.«

»Nicht während der Schwarze Tod wütet.«

»Warten wir’s ab.«

Normalerweise wäre ein neu entdecktes Werk einer bedeutenden Künstlerin mit großem Trara auf den Markt gebracht worden – erst recht dann, wenn die Malerin wegen ihrer tragischen Biografie in letzter Zeit wieder populär geworden war. Aber wegen der allgemeinen Flaute auf dem Kunstmarkt und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das Gemälde in seiner eigenen Galerie entdeckt worden war, hielt Julian einen Privatverkauf für angebracht. Er rief einige seiner zuverlässigsten Kunden an, von denen keiner auch nur Interesse zeigte. Daraufhin wandte Sarah sich diskret an einen reichen Sammler, der ein Freund eines Freundes war. Er war sofort interessiert, und man einigte sich nach mehreren Besprechungen in seinem Londoner Stadthaus auf einen fairen Preis. Sarah verlangte eine Million Pfund als Anzahlung, auch um die Kosten der aufwendigen Restaurierung zu decken, die beträchtlich sein würden. Der Sammler bat sie, an diesem Abend gegen 20 Uhr bei ihm vorbeizukommen, um den Scheck in Empfang zu nehmen.

Das alles erklärte teilweise, weshalb Sarah Bancroft an einem regnerischen Mittwochabend Ende Juli an einem Ecktisch in der Bar von Wilton’s Restaurant in der Jermyn Street saß. Die Stimmung im Raum war unsicher, das Lächeln gezwungen, das Gelächter dröhnend, aber irgendwie unecht. Julian lehnte am Ende der Theke. In seinem Anzug aus der Savile Row und mit üppigen grauen Locken wirkte er recht elegant, aber auch etwas anrüchig: ein Look, den er als würdevolle Verderbtheit bezeichnete. Er starrte in seinen Sancerre und gab vor, sich für etwas zu interessieren, das Jeremy Crabbe, bei Bonhams für Altmeister zuständig, ihm aufgeregt ins Ohr murmelte. Amelia March von ARTNews belauschte unauffällig ein Gespräch zwischen Simon...