Schattenmorellen - Kriminalroman

von: Sigrid Hunold-Reime

Gmeiner-Verlag, 2009

ISBN: 9783839234082 , 224 Seiten

7. Auflage

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Schattenmorellen - Kriminalroman


 

Kapitel 2


 

Eine kleine Leuchte im Fußbereich taucht das Zimmer in künstliches Dämmerlicht. Die Tür ist geschlossen. Das Fenster ist nur eine Handbreit geöffnet. Die Luft steht schwer im Raum.

Ich kann nicht schlafen. Das habe ich befürchtet. Ich konnte noch nie auf Kommando schlafen. Das hat sich mit dem Älterwerden verstärkt. Auch so eine Laune der Natur, dass man im Alter weniger Schlaf braucht. Ich bin eine Lerche geworden. Abends zeitig zu Bett und morgens sehr früh wach.

Anfangs habe ich mich dagegen gewehrt. Ich habe krampfhaft versucht, meinem Körper den alten Rhythmus aufzuzwingen. Davon bin ich immer müder geworden. Bis ich es zugelassen, später sogar genossen habe. Ich liebe den unberührten Morgen, seine sanften Farben und seine Stille.

Aber hier werde ich nicht schlafen können. Eingeklemmt zwischen zwei fremden Menschen und aus Rücksicht gezwungen, kein Licht zu machen. Dabei brauche ich das Gefühl, umherwandern zu können. Das Aufstehen haben sie mir ausdrücklich verboten. Kopfschmerzen, und wieder hinfallen und mir noch mehr Knochen brechen. Mit diesem Szenario haben sie versucht, mich zu beeindrucken. Als würde ich es sonst nicht begreifen. Ich habe ergeben genickt und mich noch einmal auf den Schieber setzen lassen und wirklich ein paar Tropfen gepinkelt. Der Druck auf meiner Blase ist geblieben. Das habe ich verschwiegen. Sie waren erst mal mit dem Ergebnis zufrieden und haben mich in Ruhe gelassen.

Die Nachtschwester hat kein großes Licht angemacht. Wie ein Schatten stand sie plötzlich neben meinem Bett. Eine angenehme Stimme und ein angenehmer Geruch. Ganz leicht und zitronig. Schwester Anneliese. Ein altmodischer Name für eine junge Frau. Ohne viele Worte hat sie mir noch eine Infusionsflasche angehängt. So viel Flüssigkeit. Meine Güte, ich habe mein ganzes Leben zu wenig getrunken, und mir ist es gut gegangen. Wie soll mein Körper mit dieser Flutwelle zurechtkommen?

Die Nachtschwester hat mir noch einmal über den Arm gestrichen und mich ermutigt, zu klingeln, wenn ich Hilfe bräuchte. Ich schließe die Augen. Vielleicht kann ich doch schlafen. Sonst wird diese Nacht endlos. Die redselige Frau am Fenster macht ganz zarte, leicht glucksende Geräusche im Schlaf. Lisa Backhaus heißt sie. Backhaus. Ich musste mir bei dem Namen ein Lachen verkneifen. Lisa Backhaus kommt aus Berensch, hat sie erzählt. Dort haben sie einen Bauernhof. Einen großen Bauernhof, hat sie betont.

Die neue Frau schnarcht dafür unerwartet laut und unrhythmisch. Als ihr Mann zu Besuch war, hat sie viel geweint, und sie hat gelogen. Sie wäre noch völlig verschlafen am Morgen mit dem Zug nach Cuxhaven gefahren und auf dem Bahnhof über einen Koffer gestolpert. Sie wollte zu ihrer Freundin Claudia. Die hätte ihre Hilfe gebraucht. Dringend. Er hat ihre Hand gehalten und sie liebevoll ›mein kleiner Morgenmuffel‹ genannt und gesagt, dass es von ihr sehr unvernünftig gewesen sei, so früh und überstürzt aus dem Haus zu gehen. Sie wisse doch, dass sie erst in aller Ruhe eine Kanne Kaffee intus haben müsse. Er war ein wenig ärgerlich auf Claudia. Die würde das schließlich auch wissen. Probleme könnten auch noch mittags gelöst werden. Sie hatte ihre Freundin dann vehement verteidigt und gesagt, es wären außergewöhnliche Gründe gewesen, das könne er glauben. Er hat nicht weiter nachgebohrt und es so stehen lassen. Das hat mir gefallen.

Als er gegangen ist, hat sie sofort diese Claudia angerufen und wieder geweint. Sie hat sie beschworen, ihr ein Alibi zu geben. Sie wäre in dieser Nacht in Cuxhaven unterwegs gewesen und hätte frühmorgens auf dem Weg nach Hause einen Unfall gehabt. Henning hätte keine Ahnung, er wäre zwei Tage auf einer Dienstreise gewesen. Die Freundin hat anscheinend keine weiteren Erklärungen verlangt und zugesagt. Eine wahre Freundin. Hatte ich jemals so eine Freundin? Eine, mit der ich ein Geheimnis geteilt habe? Ein Geheimnis, das über einen verbotenen Tanzabendbesuch hinausging? Nein, aber ich habe Rudolf. Es wäre undankbar, der Freundin hinterherzutrauern, die ich nie hatte. Rudolf hat mich ins Haus getragen, und er hat an meine gepackte Tasche gedacht. Schwester Nadine stand plötzlich mit meiner Tasche in der Hand im Zimmer. Ein Herr Knissel hätte die für mich abgegeben. Ich schiebe das beklemmende Gefühl beiseite, dass er von dieser Tasche gewusst und sie in meinem Schlafzimmer gefunden hat. Warum sollte er nicht? Rudolf weiß noch viel mehr von mir, also sollte mich das nicht stören. Wir teilen ein Geheimnis. Ein richtiges Geheimnis.

Wir kennen uns seit unserer Kindheit. Seit ich nach dem Krieg mit meiner Mutter und Helene in das Haus in Stickenbüttel gezogen bin. Mein Vater war bei der Marine und hatte es schon lange für uns gekauft. Er ist aus dem Krieg nicht zurückgekehrt. Meine Mutter hat ein Jahr gewartet und gehofft, eine Nachricht von ihm zu bekommen. Dann war sie durch einen Traum fest überzeugt, dass er ertrunken ist und wir Hannover verlassen und in das Haus nach Cuxhaven ziehen müssten. Dort hat Rudolf schon damals mit seinen Eltern auf dem Nachbargrundstück gewohnt. Die Gärten waren nur durch eine kurzgehaltene Buchsbaumhecke getrennt. Ich saß nach der Schule meistens auf der Schaukel im Garten. Ich hatte Heimweh nach Hannover und vermisste meine Freunde. Es fiel niemandem auf, nur Rudolf. Da war ich neun und er zwölf Jahre alt. Er war anders als andere Jungen in seinem Alter. Er kümmerte sich um mich und behandelte mich wie eine an Land gespülte Prinzessin. Der erste Sommer kam, und Rudolf zeigte mir seine Heimat. Er radelte mit mir auf dem Gepäckträger durch die Wälder, die bis an die Küste reichten. Wir lagen nebeneinander im hohen Gras und schauten in den Himmel. Der war viel weiter und näher, als ich ihn aus der Stadt kannte. Wir saßen an der Kugelbake und beobachteten die Schiffe, die aus der Elbmündung hier vorbeimussten. Und manchmal standen wir auf der ›Alten Liebe‹ im Hafen, schauten rüber zum Amerikahafen und spürten die Sehnsucht nach der großen, weiten Welt. Manchmal saßen wir auf den Holzstufen, und Rudolf erzählte mir die Geschichte der ›Alten Liebe‹. Die Liebesgeschichte von Lorenz und Else. Die beiden kannten sich seit ihrer Kindheit, und sie liebten sich. Als sie erwachsen waren, starben ihre Väter, und die Mütter zerstritten sich. Sie verboten ihren Kindern die geplante Heirat. Lorenz fuhr enttäuscht zur See, und Else half der Mutter in der Wirtschaft. So vergingen viele Jahre. Als Elses Mutter im Sterben lag, machte sie sich Sorgen um ihre Tochter und gab ihr den Segen für die Hochzeit. Lorenz’ Mutter folgte dem Beispiel. Die beiden konnten endlich heiraten. Sie verbrachten einen glücklichen Winter miteinander. Als der Frühling kam, musste Lorenz wieder auf See. Der Herbst brachte die ersten Stürme, und Else erwartete das Schiff mit ihrem Lorenz zurück. Sie stand an der Elbmündung am Deich und wartete in Sturm und Regen. Endlich konnte sie sein Schiff ausmachen. Ihr Lorenz stand auf dem Vorschiff und winkte ihr mit einem weißen Tuch zu. In dem Augenblick riss eine schwere Bö das Schiff auf die Seite, und Lorenz ging über Bord. Die verzweifelte Else konnte nur hilflos zusehen, wie ihr Lorenz nach kurzem Kampf mit den Wellen ertrank.

Entschlossen stürzte sich Else auch in die Fluten. Sie wurde am nächsten Tag tot an Land gespült und unter großer Anteilnahme der Bevölkerung beigesetzt.

Lorenz Schiff war genau zu der Uhrzeit, in der Else ihren Geliebten in der Elbmündung zu sehen meinte, mit Mann und Maus vor Helgoland im Sturm gesunken. Man war so ergriffen von ihrer großen Liebe und Treue, dass man seitdem diese Stelle ›Alte Liebe‹ getauft und einen Anleger gebaut hat.

Um die ›Alte Liebe‹ ranken sich viele Geschichten, aber diese gefiel mir am besten. Es war auch Rudolfs Lieblingsversion, und er erzählte sie mir immer und immer wieder. Diese Zeit mit ihm war schön. Eine unschuldige Freundschaft. Mehr nicht. Ich war nie in ihn verliebt. Später war ich Rudolf dann unendlich dankbar. Unendlich.

Nun leben wir längst beide allein. Jeder in seinem alten Haus in der Dorfstraße. Die letzten Mieter sind vor einem Jahr ausgezogen. Ich habe mich nicht um neue bemüht. Auch keine Feriengäste mehr. Selbst wenn es sehr egoistisch ist, es gefällt mir, dass ich das Haus für mich allein habe. Rudolf ist deswegen besorgt. Dabei weiß er, dass ich diese ritterliche Geste nicht besonders schätze. Und er hält sich zurück, so gut er kann. Bis auf eine Regelung, davon ließ er sich nicht abbringen. Ein Notfallzeichen in der Nacht. Wenn ich in Gefahr wäre, sollte ich dreimal mit der Taschenlampe am Fenster leuchten. Dann käme er sofort. Ich habe nicht widersprochen. Ich habe ihn auch nicht gefragt, wie er denn das Blinken überhaupt sehen wolle, falls er nicht die ganze Nacht über wach bliebe. Es ist unwichtig, weil ich diese Hilfe niemals in Anspruch nehmen werde.

»Hilfe!«

Der Schrei ist laut und voll Entsetzen und klingt in meinem Kopf nach. Ich fahre hoch. Mein Herz schlägt hart gegen den Brustkorb. Ich kann kaum denken. Dieser Schrei, so habe ich meine Mutter nur einmal schreien hören. Plötzlich stand sie neben mir im peitschenden Regen. Die mühsam gebrannten Locken fielen ihr wirr ins Gesicht. Sie starrte fassungslos den Mann an. Der saß da, als hätte er sich nur für einen Augenblick an den Kirschbaum gelehnt. Zum Ausruhen. Mitten in einem Gewitter. Doch er war eindeutig tot. Sein Lächeln war starr wie seine weit...