Cryptos - Spiegel-Bestseller

Cryptos - Spiegel-Bestseller

von: Ursula Poznanski

Loewe Verlag, 2020

ISBN: 9783732014637 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Cryptos - Spiegel-Bestseller


 

Heute lasse ich in Kerrybrook die Sonne scheinen. Das ist angemessen nach drei Tagen mit wolkenverhangenem Himmel und Nieselregen. Es ist acht Uhr morgens, und die ersten Bewohner sind bereits vor Ort. Vierzehn Prozent, zeigt der Zähler an. Achtzehn. Siebenundzwanzig.

Kerrybrook ist die kleinste meiner Welten und die, die am wenigsten Arbeit, dafür aber den meisten Spaß macht. Ich habe sie nach dem Vorbild irischer Dörfer modelliert: hügelig, mit viel Grün, geduckten Häuschen und einer Burgruine, die über der Landschaft thront. Es gibt Schafe, gemütliche Pubs und jede Woche einen Markt auf dem Hauptplatz. Unendlich friedlich, all das. Manchmal ein bisschen eintönig vielleicht, aber das ist dann meine Schuld. Am liebsten würde ich selbst dort leben; das Schlimmste, was sich in den letzten vier Wochen getan hat, war eine Schlägerei im Goldenen Horn.

Zweiunddreißig Prozent. Ich gleite im Ansichtsmodus die Küste entlang. Die Sonne steht über dem Meer, lässt das Wasser funkeln. Ein paar Möwen kreisen um den Turm der Burg, eine von ihnen trägt einen Fisch im Schnabel. Am Fuß des Hügels spaziert eine Frau mit einem Korb über dem Arm, den Blick aufmerksam auf den Wegrand gerichtet. Sie sucht Goldschwämmchen, schätze ich. Ich habe die Pilze vor etwa zwei Monaten eingeführt, und sie sind ein voller Erfolg. Wer vierzig davon sammelt, kann sich einen Pass für eine von drei Welten aussuchen. Die Jagd nach den kleinen, golden schimmernden Hütchen hält meine Bewohner ziemlich auf Trab. So schön Kerrybrook auch ist, niemand hat etwas gegen eine Reise einzuwenden.

Acht Uhr dreißig, und neunundfünfzig Prozent der Bewohner sind anwesend. Ein Blick auf die Statistik: nur drei Transfers in andere Welten. Das ist ein ausgezeichneter Wert. Wer einmal hier ist, fühlt sich so wohl, dass er bleibt.

Auf Transfers muss ich nicht reagieren, nur auf Ausfälle, also wenn jemand, der zuletzt in meiner Welt war, überhaupt nicht mehr auftaucht. Weder hier noch anderswo im System. Meistens bedeutet das, die Person ist schwer krank oder tot. Bei einem Ausfall muss ich den jeweiligen Personalcode heraussuchen und Meldung machen, damit jemand beim entsprechenden Wohndepot vorbeisieht.

Acht Uhr fünfunddreißig, und in Kerrybrook weht kühler Wind vom Meer her. Ich seufze und wische mir den Schweiß von der Stirn. Hier bei uns ist es jetzt schon heiß, und das wird über den Tag hin noch schlimmer werden. Die Kühlung schaltet sich nie vor elf Uhr ein, und auch dann ist sie nur ein schlechter Scherz. Aber die vorhandene Energie wird für andere Dinge gebraucht.

Ich beginne den Funktionscheck für die nächste meiner Welten, Macandor. Bereits vierundachtzig Prozent der Bewohner anwesend. Ruhiger Schlaf ist dort schwieriger geworden, denn ich habe vor drei Tagen eine Horde von Feuerdämonen losgelassen. War nicht nett von mir, aber Macandor ist im Moment rettungslos überlaufen. Die Dämonen sollen ein wenig Platz schaffen; wer von ihnen gegrillt wird, der muss erst mal anderswo hingehen, je nachdem, welche Pässe er zur Verfügung hat. Der für Macandor ist dann futsch. Ich überprüfe die Statistik der letzten acht Stunden. Sieben Prozent sind den Dämonen zum Opfer gefallen, ich hatte auf acht abgezielt, aber was nicht ist, kann ja noch …«

»Hey, Jana!« Jemand tippt mir auf die Schulter, es ist Matisse, der mit einiger Verspätung in unserem gemeinsamen Workspace eintrifft. Er hält einen großen Becher in der Hand, auf dessen Außenseite sich Kondenswasser gebildet hat. Ich greife danach, das Gefäß ist verführerisch kalt.

»Danke dir!« Eistee mit Zitronenaroma. Ich trinke einen großen Schluck und schiele auf Matisse’ Trinkbecher. »Oh nein! Ehrlich? Synthetische Schokolade?«

Er blinzelt glücklich. »Ja. Eisgekühlt.«

Mich schaudert. »Da würde ich ja lieber in Milch pürierten Fisch trinken als dieses widerliche Gebräu. Sieht aus wie Dünnpfiff.«

»Jajaja, ich weiß. Du kannst das noch hundertmal sagen, mir schmeckt es trotzdem.« Er setzt sich vor den halbkreisförmigen Schild seiner drei Monitore, jeder davon fast zwei Meter hoch. »Wie läuft’s mit den Dämonen?«

»Gut eigentlich. Die Bevölkerung ist geschrumpft, aber es ist immer noch eine ziemliche Drängelei. Ich überlege schon, ob ich nicht ein paar Landstriche dazumodellieren soll. Einen großen Sumpf oder noch ein unterirdisches Höhlensystem. Oder eine Wüste, was meinst du?«

Matisse rümpft die Nase und schüttelt den Kopf. Seit drei Wochen ist sein dunkles Haar zu Cornrows geflochten; bei jeder Bewegung klirren am Ende der Zöpfchen bunte Perlen. »Als ob wir nicht schon Wüste genug hätten.«

Das Argument ist nicht von der Hand zu weisen. Ausgedehnte Wüsten auf allen Kontinenten, und sie erobern sich immer noch neuen Raum, auch wenn die Baumbepflanzungen an den Rändern langsam Wirkung zeigen. Aber eben nur langsam. Wer Wüste will, muss in keiner der virtuellen Welten leben; schwitzen kann man auch ganz ohne Realitätsbereinigung.

Ein kleiner Trupp meiner Dämonen macht sich auf den Weg in Richtung Zaina. Die Stadt wird hauptsächlich von Elfen bewohnt, sie wurde erst vor drei Monaten gegründet, die Befestigungsanlagen sind noch schwach. Mit etwas Glück machen sie bis heute Mittag ein bisschen Feuer innerhalb der Mauern, und die acht Prozent Einwohnerreduktion sind geschafft.

»Du bist ganz schön gnadenlos zu deinen Leuten«, sagt Matisse grinsend.

»Es muss doch interessant bleiben.« Die ersten Elfen verlassen fliegend die Stadt, aber ich habe praktischerweise auch geflügelte Dämonen auf Lager. »Hey, wir gehören zu den Jungstars hier. Unsere Welten sollten aus der Masse herausstechen, findest du nicht?«

Nachdenklich nippt Matisse an seiner Schokolade und rollt mit seinem Arbeitsstuhl näher heran. »Ich fühle mich überhaupt nicht wie ein Jungstar, eher wie ein Fehlschlag. Ich kapiere nach wie vor nicht, warum manche Welten so gut funktionieren und andere nicht. Bei Venedig dachte ich, es wird der absolute Renner, aber es hat kaum Transfers gegeben.«

Ich kann ihm das Bedauern darüber immer noch ansehen, Venedig war eines seiner Lieblingsprojekte. »Vielleicht«, sage ich, »weil es schon so lange versunken ist. Es lebt doch keiner mehr, der es wirklich gesehen hat, also hat niemand Sehnsucht danach.«

Er zuckt mit den Schultern. »Glaube ich nicht. Die Fidschi-Inseln sind mein größter Hit, und die sind noch länger weg.«

Da ist was dran. Rick, unser Kollege mit dem zweifelhaften Humor, nennt sie deshalb auch gern Futschi-Inseln. Doch eigentlich war die Phase, in der Designer hauptsächlich die gute alte Zeit virtuell wieder zum Leben erweckt haben, schon längst vorbei, als ich hier angefangen habe. Zu Beginn war das wichtig – den Leuten blieb ihre vertraute Umgebung erhalten, und kaum einer wollte sie gegen die Schrecken der echten Welt eintauschen. Jetzt gibt es so gut wie niemanden mehr, der sich daran erinnern kann, wie es früher war, und …

»Seltsam«, unterbricht Matisse meine Gedanken. »Kann es sein, dass mit dem Zähler in Kerrybrook etwas nicht stimmt?«

Ich lasse die Dämonen Dämonen sein und wende meine Aufmerksamkeit den grünen Hügeln und der Burgruine am Meer zu. In dem Ausschnitt, den ich sehe, wirkt alles so harmonisch wie immer. Ein Paar spaziert Händchen haltend über eine Wiese, ein Hirte treibt Schafe vor sich her. Ich werfe einen schnellen Blick auf die Statistik. Sechsundneunzig Prozent Anwesenheit, fünfundzwanzig Neuzugänge – aber drei Ausfälle in den letzten zehn Minuten.

Das ist alarmierend. Drei Ausfälle in so kurzer Zeit? Dafür muss es Gründe geben – entweder ein Wohndepot hat einen Stromausfall, oder es gibt Schwierigkeiten innerhalb der Welt. Ich öffne meinen Infoassistenten.

»Hallo, Jana«, schallt mir eine fröhliche Stimme entgegen. »Was kann ich für dich tun?«

»Ich müsste wissen, ob es vor Kurzem zu Zwischenfällen in Wohndepots gekommen ist. Stromschwankungen irgendwo? Stürme, beschädigte Leitungen?«

»Nein«, gibt der automatische Assistent unmittelbar zurück. »Keine Störungsmeldungen an Depots in den letzten achtzehn Stunden.«

Ich nicke, mein Blick hängt am linken der drei Monitore, dem mit der Statistik. Sechs Ausfälle mittlerweile, keine Erklärung. Ich rufe die Servicedaten für Kerrybrook auf, doch die erscheinen nicht, stattdessen erhalte ich eine Meldung. Fünf mickrige Worte. Es ist ein Fehler aufgetreten.

Ein Fehler? Ich drehe mich zu Matisse um. »Läuft bei dir alles rund?«

»Na sicher«, sagt er und zieht eine Augenbraue hoch. »Würde ich sonst so ruhig hier sitzen?«

Ich werfe ihm freundschaftlich meinen Stressball an den Kopf und versuche es noch einmal. Es ist ein Fehler aufgetreten. Mit tiefem Seufzen lehne ich mich in meinem Stuhl zurück. So etwas passiert mir zum ersten Mal.

»Welcher Fehler ist aufgetreten?«, frage ich den Infoassistenten. »Gibt es eine Fehlernummer?«

»Dazu liegen mir keine Informationen vor«, erklärt das Programm gut gelaunt.

Ich knalle den Becher mit dem Eistee auf den Tisch. Wie soll ich herausfinden, was los ist, wenn das System mir die Daten verweigert? »Hilft nichts«, murmle ich. »Dann muss ich eben selbst rein.«

Das Nebengebäude ist so etwas wie die Mini-Version eines Wohndepots. Vierundvierzig Einheiten, für jede Person fünf Quadratmeter, auf denen auch die Kapsel Platz finden muss. Ich laufe nach drüben, meinen Overall über dem Arm, und grüße zwei Arbeiter, die draußen zu tun haben.

Mürrisch grüßen sie zurück, sichtlich unglücklich über ihr Schicksal. Niemand wird gern in die Realwelt zurückbeordert, aber ganz ohne menschliche Arbeitskraft geht...