AHAWAH. Das vergessene Haus - Spurensuche in der Berliner Auguststraße

von: Regina Scheer

Aufbau Verlag, 2020

ISBN: 9783841225320 , 336 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

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AHAWAH. Das vergessene Haus - Spurensuche in der Berliner Auguststraße


 

Vom Hekdesch zum Krankenhaus


Jüdische Gemeinden, die sich durch die Jahrhunderte immer wieder Verfolgung, Beschimpfung, Demütigung ausgesetzt fanden, konnten nur bestehen, indem sie sich als soziale Gemeinschaften verstanden, nicht nur durch den Glauben vereint, sondern auch durch die Verantwortung füreinander.

Zedakah ist ein hebräisches Wort und heißt Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in einem. Zedakah ist eine Gerechtigkeit, die natürliches und soziales Unrecht ausgleicht. Wer im Sinne der Zedakah handelt, ist ein Zadik, ein Gerechter.

Ein jüdisches Krankenhaus gab es in Deutschland schon um 1210 bei Regensburg. Seit dem 15. Jahrhundert entstanden dann viele solcher Häuser, nicht nur in größeren Städten. Oft waren sie nur eine Art Quarantänestation für Aussätzige, ähnlich den Pesthäusern des Mittelalters.

Die jüdische Ethik, der Gedanke der Zedakah, gebot, die Kranken zu besuchen, sie zu pflegen. Neben diesen Hospitälern gab es auch immer bescheidene Häuser, manchmal nur Stuben, die fremden Glaubensgenossen, und nicht nur solchen, Herberge boten. Auch arme Gemeindemitglieder konnten hier, an diesem Hekdesch genannten Ort, Obdach und Pflege finden.

Die sich für das Hekdesch, aber auch für andere Kranke verantwortlich fühlenden Gemeindemitglieder bildeten die Gesellschaft der Krankenbesucher, die Chewra Bikur Cholim.

Ein Grundgedanke jüdischer Krankenpflege ist die Zuwendung. Im Talmud heißt es:

»Du mußt den Kranken notfalls hundertmal am Tag besuchen, und allein das Interesse, das man ihm entgegenbringt, kann ihm Gutes tun.«

Die Krankenbesuchsgesellschaft gab es in Berlin schon im Mittelalter. Das erste Hekdesch war um die Mitte des 16. Jahrhunderts westlich des heutigen Alexanderplatzes zu finden, zwischen der ehemaligen Gollnow- und der Landwehrstraße. Aber jüdische Geschichte ist eine Geschichte von Verfolgung und Vertreibung. Hundert Jahre lang gab es keine Juden in der Mark Brandenburg, keine Hekdesch, keine Chewra Bikur Cholim …

1671 begann die neuere Geschichte der Jüdischen Gemeinde Berlins, nachdem Friedrich Wilhelm von Brandenburg, genannt der Große Kurfürst, das »Edikt wegen 50 aufgenommener Schutzjuden, jedoch, daß sie keine Synagoge halten«, erließ. Als ein Jahr später seine Landsleute gegen die Ansiedlung der reichen, aus Wien vertriebenen Familien protestierten, meinte der Große Kurfürst, die Juden seien »uns und dem Lande nicht schädlich, sondern vielmehr nutzbar«.

Also durften sie bleiben, ihre Rechte wurden je nach der politischen Lage und der Laune des jeweiligen Herrschers in den folgenden Jahrhunderten eingeschränkt oder erweitert, aber in Berlin konnte die Jüdische Gemeinde sich etwa ab 1700 niederlassen. Auch das Recht, eine Synagoge zu errichten, hatte die Gemeinde schließlich für 3000 Taler vom König gekauft, und seit 1714 gab es sie in der Heidereuthergasse. Die Synagoge wurde im zweiten Weltkrieg zerstört, aber sie stand noch, erst nach dem Krieg wurde sie abgerissen. Heute liegt ein Parkplatz ungefähr dort, wo die Heidereuthergasse die Rosenstraße und die Spandauer Straße miteinander verband.

Um 1703 wurde wieder ein Hekdesch errichtet. Das stand in einer schmalen Gasse zwischen der Kloster- und der Rosenstraße. Im Statut dieses Hekdesch von 1744 heißt es, wenn, »was Gott verhüten möge, ein Fremder kommt« oder auch ein Bedürftiger aus der eigenen Gemeinde, »der wert darin gebracht«. Er muß »sein gut Bett weiß überzogen« vorfinden. Am Bett soll ein Schlafrock hängen. Ihm steht Essen zu, die Hilfe eines von der Gemeinde beauftragten Arztes und Medizin, die ein Bote aus der Apotheke holen soll. »Und wenn der Vorsteher befindet, daß der Kranke eine gefährliche Wunde oder Krankheit hot, so ret der Arzt selber, man soll noch mehr Aerzte nehmen. Mit einem Wort an kein geld wird nischt gespahrt.«

Zedakah ist eine Gerechtigkeit, die natürliches und soziales Unrecht ausgleicht.

Der simple Materialismus meiner Schulzeit in der Auguststraße lehrte uns, die Menschen allein aus den Verhältnissen, unter denen sie leben, zu begreifen. Der Mensch sei das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln würde gleiche Bedingungen für alle schaffen, also Gerechtigkeit. Was wir an Bösem sähen, wären Überbleibsel, aus anderen gesellschaftlichen Verhältnissen auf uns gekommen. In jedem Gerichtsbericht stand stereotyp: Das Verhalten des Angeklagten ist unserer Gesellschaft wesensfremd. Aber wer Augen hatte, sah doch, wie ungleich die Umstände waren.

Heute schreien die Litfaßsäulen: TEST THE WEST!, und sie locken: JEDER HAT SEINE CHANCE!

Jeder?

»Schlagen Sie zu! Drei T-Shirts fünfzehn Mark, schlagen Sie zu!« brüllt der Händler am S-Bahnhof Leninallee, der wohl nicht mehr lange so heißen wird. Und die Leute kaufen, mit geröteten Gesichtern drängen sie sich um das Sonderangebot, folgen der gewalttätigen Aufforderung. Und manche schlagen wirklich zu.

Am Bahnhof Lichtenberg, wo im Sommer nach der »Wende« täglich Züge mit zerlumpten, umhergetriebenen Menschen aus dem Osten Europas ankamen, die auf der Flucht vor Pogromen waren und etwas vom Glanz der reichen Stadt Berlin für sich erhofften, schlugen, traten, stachen Menschen aufeinander ein. In den Zeitungen las ich täglich von Überfällen und Toten. Trotzdem fuhr ich hin, denn ich wollte eine Fahrkarte kaufen. Während ich anstand, sah ich einen schwarzhaarigen Jungen von etwa sechzehn Jahren zusammengerollt zwischen seinen Bündeln an der Treppe schlafen. Ein Mann, der vor mir eine Karte gekauft hatte, zweiter Klasse bis Ludwigslust, trat ein paar Schritte auf die Treppe zu und blieb stehen. Er suchte etwas in seiner Aktentasche, dabei betrachtete er den schlafenden Jungen. Plötzlich trat er gegen die Bündel, gegen den Jungen, trat auf ihn ein und rief: »Die füttern sich hier durch, wie die Ratten sind die, und wir können sehen, wo wir bleiben. Die schleppen uns Krankheiten ein, Dreckzeug!« Plötzlich war er von Männern umringt, braunhäutig und schmal wie der schlafende Junge, die erregt auf den Mann einschimpften, ihn an seinem blauen Anorak festhielten. Der Mann, in dessen schwammigem Gesicht jetzt helle Angst stand, versuchte sich loszureißen. Er schrie. Ich rannte aus der Bahnhofshalle, fort von diesem verzweifelten Knäuel der Gewalt. Ich rannte fort.

Zedakah ist eine Gerechtigkeit, die natürliches und soziales Unrecht ausgleicht.

Über den seit 1735 verbürgten Arzt des Hekdesch, Benjamin de Lemos, schreibt seine Tochter Henriette Herz in ihren Erinnerungen: »Er hatte in Halle die Arzneiwissenschaft studiert und war der erste Arzt jüdischer Nation, in Berlin bekam er schon bald Praxis bei seinen Glaubensgenossen, so wurde er doch zu Anfang so schlecht bezahlt, daß er manchen Mittag sich mit Kartoffeln oder Kaffee begnügen mußte.«

Und sie erinnert sich, wie ihr frommer Vater bis spät in die Nacht die Kranken der Gemeinde besuchte, von einem Diener geführt, der ihm mit der Stocklaterne den Weg wies. Oft sah sie ihn vom Regen durchnäßt oder mit Schnee bedeckt nach Hause kommen.

Benjamin de Lemos verheiratete seine Tochter sehr früh, wie es in jüdischen Familien damals üblich war. Ihr Mann wurde der um siebzehn Jahre ältere Marcus Herz, als Arzt, Physiker und Philosoph gleichermaßen bedeutend. Henriette Herz, von der es hieß, sie sei in ihrer Jugend die schönste Frau Berlins gewesen, trat wie viele ihrer Zeitgenossen im 19. Jahrhundert zum Christentum über. Ihr Salon wurde durch sie selbst berühmt und durch die Männer, die dort verkehrten: Schleiermacher, Jean Paul, die Brüder Humboldt, Börne, der sich um ihretwillen beinahe umbrachte, und andere.

Die Familie de Lemos kam ursprünglich aus Portugal, im 17. Jahrhundert war sie nach Hamburg oder Amsterdam ausgewandert. Der erste Arzt jüdischer Nation, wie Henriette Herz meinte, war ihr Vater nicht, vielleicht war er der erste jüdische Student an der Hallenser Universität, die im 18. Jahrhundert zu einem Zentrum der beginnenden Aufklärung geworden war. Jüdische Ärzte gab es schon am Hof der Merowinger, sogar einige Päpste hielten sich jüdische Leibärzte. In Berlin durften jüdische Familien ihre Söhne erst seit 1738 Medizin studieren lassen. Vorher geschah die Ausbildung jüdischer Ärzte entweder allein durch die Praxis, oder sie mußten im Ausland studieren, meist in Padua. Wenn Henriette Herz schrieb, daß Benjamin de Lemos »manchen Mittag sich mit Kartoffeln oder Kaffee begnügen mußte«, so entsprach diese Bescheidenheit des Arztes der traditionellen jüdischen Ethik. Danach hatte der Arzt seine Pflicht im Grunde kostenlos zu tun, er ist der Bote und ein Abgesandter Gottes, und so wie Gott gnädig ist, muß der Arzt heilen, ohne Bezahlung zu verlangen.

Dennoch bezahlte die Krankenbesuchsgesellschaft, später die Gemeinde, den Arzt. Und auch wer wohlhabend war, gab ihm natürlich Geld. Um 1700 kamen in Berlin auf einhundert Einwohner sieben völlig mittellose, die durch eine Kurfürstliche »Commission zur Beobachtung und Verwaltung von Armen und Unterstützungsbedürftigen« gezählt wurden. Insgesamt lebten 50 000 Menschen, einschließlich der Soldaten der Garnison, in Berlin. Diese Zahl stieg ständig, um 1743 war die Einwohnerzahl Berlins schon auf 100 000 angewachsen. 1945 von ihnen waren Juden, insgesamt 333 jüdische Familien.

Der preußische Staat duldete die Juden – solange sie der...