Ehrenmord - Schweden-Krimi

von: Björn Hellberg

Saga Egmont, 2020

ISBN: 9788726445077 , 284 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Ehrenmord - Schweden-Krimi


 

Jan Carlsson


Der Kriminaloberinspektor Jan Carlsson genoss das Frühstück zusammen mit seiner Ehefrau Gun auf der kleinen Terrasse in dem blickgeschützten Garten hinter ihrem Haus. Die Sonne schüttete Junihitze über sie aus. Gun war vollständig angezogen, während er in seinem abgetragenen, blau gefransten Morgenmantel dasaß. An den Füßen trug er offene Sandalen.

»Na, heute Abend wirst du sicher etwas später als sonst kommen«, sagte sie eher feststellend als vorwurfsvoll.

Er hob seinen Blick von den Sportseiten der Zeitung. Seine Augen waren blaubeerfarben und klar wie Quellwasser. Ihnen war sie zuerst verfallen, als sie sich kennen lernten. Und immer noch konnten sie sie so anschauen, dass es in ihrer Magenkuhle kribbelte. Seine Haut war dagegen nicht so anziehend. Er hatte eine Reihe von Pickeln auf der Stirn, und Kinn, und die Wangen waren vernarbt.

»Dass ich für ein paar Wochen zum stellvertretenden Chef werde, bedeutet ja nicht zwingend, dass ich mehr arbeiten muss als sonst«, sagte er.

»Das meinte ich eigentlich auch nicht. Sten tritt doch heute seinen Urlaub an, oder?«

Er nickte.

»Und fährt morgen nach Bornholm?«

Jetzt begriff er, worauf sie hinauswollte. Trotzdem tat er vollkommen unwissend.

»Natürlich«, sagte er. »Genau wie immer. Sten ist nicht der Typ, der seine Gewohnheiten unnötigerweise verändert. Aber was ...«

»Spiel kein Theater«, sagte sie und legte genau so viel Härte in die Stimme, wie erforderlich war, um das Ruder in der Hand zu behalten. »Du weißt genauso gut wie ich, wie es jedes Mal abläuft, bevor er losfährt. Da schleift er dich mit in den Pub. Und dann kommst du angesäuselt nach Hause, wachst am nächsten Morgen als ein Wrack auf und bereust alles. Du kannst keinen Schnaps mehr ab. Das ist nun einmal so. Denk doch nur daran, was Pfingsten passiert ist! Da hast du einen ganzen Tag lang vollkommen erledigt herumgelegen, und schließlich hatten Vivi und Stellan davon die Nase voll, haben sich die Kinder geschnappt und sind nach Hause gefahren. Und ich stand mit der Schande da.«

Wütend legte er die Zeitung auf den Tisch. Er liebte seine Frau, aber hin und wieder führte sie ein allzu strenges Regiment. Mein Gott, er war doch kein wildes Fohlen mehr, sondern ein pflichtgetreuer, verantwortungsbewusster Kriminalbeamter mittleren Alters mit tadellosem Ruf. Er war nicht gerade begeistert davon, dass sie jedes Mal auf ihm herumhackte, wenn er sich ein Glas genehmigte.

Gun war eine liebevolle, treue und wunderbare Frau. Er hätte keine bessere finden können. Und er wusste, dass ihr Nörgeln seinen Ursprung in ihrer Sorge um ihn hatte. Sie wollte immer nur sein Bestes und litt mit ihm, wenn er sich jammernd aus sporadisch auftretenden Formtiefs hervorarbeitete.

Aber manchmal ging sie einfach zu weit mit ihrer Bevormundung (und dabei wusste er nicht einmal, dass seine Kollegen ihn wegen seiner großen Nachgiebigkeit heimlich als Pantoffelhelden bezeichneten).

»Zum einen«, sagte er schroff, »ist ...«

»Noch Kaffee?«

»Ja, danke. Zum einen ist es nicht so, dass er mich vor seinem Urlaub jedes Mal in den Pub mitschleppt.Vielleicht ist es ein paar Mal vorgekommen, aber es ist ja wohl auch mein gutes Recht, oder?«

»Mach weiter.«

»Und zum Zweiten ist Sten vorsichtig mit dem Alkohol, wenn er später Auto fahren muss. Das solltest du auch wissen.«

»Er ja. Aber du nicht«, sagte sie und lächelte ihn sanft an. Die Angst vor einer Niederlage ließ ihn die Stimme heben. »Zum Dritten trinken wir fast immer nur Bier.«

»Du bist süß«, stellte sie fest.

Die Streitlust verließ ihn.

Er schaute sie dumm an.

»Und zum Vierten?«, fragte sie.

»Vergiss es«, sagte er, beugte sich über den Tisch und küsste sie mitten auf den Mund.

Ihr Atem war immer frisch und appetitlich, und der Kuss zog sich in die Länge.

Schließlich machte sie sich los und schnappte nach Luft.

»Jetzt musst du aber aufhören, sonst komme ich zu spät zur Arbeit.«

Er schaute viel sagend zu dem geöffneten Schlafzimmerfenster hinauf, in dem eine Gardine flatterte.

»Vielleicht heute Abend?«, schlug er vor.

»Kann schon sein«, neckte sie ihn und bekam plötzlich ein Funkeln in den Augen. »Natürlich nur, wenn du nicht Stens Gesellschaft im Pub vorziehst. Heute musst du abdecken. Tschüs!«

Sie trippelte über den mit Kopfsteinpflaster belegten Hinterhof und verschwand um die Ecke. Er rief ihr noch einen Abschiedsgruß hinterher, setzte sich wieder und las noch einige Minuten lang die Zeitung. Dann stand er auf und fegte vereinzelte Brötchenkrümel vom Tisch.

Zwei mutige Spatzen stürzten sich auf das Angebot, und Jan ging ins Haus, um zu duschen.

Kurze Zeit später stand er auf der Treppe und schloss die Haustür ab. Er hatte unglaubliches Glück gehabt, als er vor gut fünfundzwanzig Jahren auf dieses geräumige, charmante Haus in Gamleby gestoßen war, in dem mit Abstand attraktivsten Teil von Stad. Das Viertel bestand aus ein paar Häuserzeilen mit winkligen Gassen, pittoresken Häusern (darunter viele Fachwerkhäuser) und gepflegten Gärten. Im gleichen Jahr, in dem das alte, aber von Grund auf renovierte Traumhaus einzugsbereit dastand, heiratete Jan auch seine Jugendliebe, womit er also wirklich einen doppelten Volltreffer verzeichnen konnte.

Ihre Ehe war kinderlos geblieben. Immer wieder hatten sie die Möglichkeit einer Adoption diskutiert, aber vor nicht allzu langer Zeit hatten sie beschlossen, lieber weiterhin nur zu zweit zu bleiben.

Er war nicht besonders gläubig; dennoch kam es vor, dass er an gewissen Abenden ein stummes Gebet gen Himmel schickte, eine ihm gewogene Macht möge ihn zuerst fortschicken. Mit erschreckender Gewissheit musste er einsehen, dass er es nicht schaffen würde, Gun zu überleben. Vielleicht wäre er in der Lage, sich notdürftig praktisch zu versorgen, aber emotional konnte er sich ein Leben ohne Gun an seiner Seite einfach nicht vorstellen. Deshalb verließ er sich auf die gerechte Hand des Schicksals, wenn es denn Zeit für den Aufbruch sein würde. Gun war eine stärkere Natur, realistisch, gewandt und bodenständig: Sie würde auch ohne ihn in Würde alt werden können.

Das stellte er ohne Gemütsbewegung fest, während er gleichzeitig die hellblaue Himmelslandschaft betrachtete. Das Wetter war herrlich, mild, mit einer sanften Brise.

Da er reichlich Zeit hatte, beschloss er, seinen Morgenspaziergang auszudehnen und eine Runde um die Kirche zu machen. Wenn er den üblichen Weg nehmen würde, käme er eine Viertelstunde vor Dienstbeginn in der Polizeistation an, und so versessen war er auf seinen zeitweiligen Job als Chef nun auch nicht. Er wollte auf keinen Fall wie ein Streber wirken. Sonst würden die Kollegen gleich wie die Geier über ihn herfallen.

Stad war stolz auf seine mittelalterliche Kirche. Das sakrale Gebäude in romanischem Stil war nicht nur mächtig – nur wenige Provinzkirchen waren größer –, sondern auch rein architektonisch äußerst ansprechend. Das Schiff stammte vom Ende des 13. Jahrhunderts, und über diesem Haus des Herrn ruhte eine Art majestätischer Eleganz. Hinzu kam die ausgesuchte Lage auf einer Anhöhe direkt oberhalb des Flusses, der sich um das Zentrum der Gemeinde schlängelte.

Vor sich hin pfeifend und in ausgezeichneter Laune umrundete Jan Carlsson den Friedhof und kam am Gemeindehaus vorbei. Die japanischen Kirschbäume, die noch vor wenigen Wochen in voller Blüte gestanden hatten, waren bereits wieder in ihre geduldige Wartestellung auf die kurze, aber beeindruckende Glanzperiode im nächsten Jahr übergegangen. Jetzt hingen die verwelkten rosa und weißen Blüten wie finstere Reminiszenzen einer Größe da, die vergangen war und erst in ferner Zukunft wiederkehren sollte.

Er dachte an die nahe Zukunft, an den kommenden Abend. Wie sollte er sich entscheiden?

Für den Kneipenbesuch mit Sten Wall? Oder für ein Schäferstündchen mit Gun?

Es hieß entweder – oder. Im Alter von fünfzig Jahren konnte er nicht mehr beide Angebote mit ausdauerndem Enthusiasmus annehmen; jedenfalls nicht, wenn er sich an die Reihenfolge hielt. Natürlich konnte er sie umdrehen, sodass Gun zuerst drankam und dann das Bier – das würde er zweifellos schaffen. Aber er hatte das sichere Gefühl, dass seine Frau nicht begeistert wäre, wenn er sich direkt nach liebevollen Intimitäten im Schlafzimmer in die Kneipe aufmachte.

Dann würde es also ein ruhiger Abend daheim werden, mit allem, was dazugehörte, auch wenn er dadurch vielleicht Sten Wall verärgern würde (der Gedanke, dass sein Kollege vielleicht gar keine entsprechenden Pläne für den Abend schmiedete, kam ihm nicht).

Das Wetter war außerdem ideal für die Romantik. Daran gab es gar keinen Zweifel.

Am Eingang zur Polizeistation kontrollierte er seine Armbanduhr.

Sechs Minuten vor acht – das war akzeptabel.

Sein Erscheinen würde keine höhnischen Kommentare seiner Kollegen hervorrufen.

Aber sobald er sich in den großzügigen Arbeitsräumen im ersten Stock zeigte, hagelten die sarkastischen Sprüche nur so auf ihn nieder:

»Weg mit dem Kartenspiel, der Chef ist gekommen!«

»Versteck das...