Das Totenbuch der Tibeter - Neuausgabe des Klassikers

von: F. Fremantle, Chögyam Trungpa

Diederichs Verlag, 2020

ISBN: 9783641260859 , 176 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Das Totenbuch der Tibeter - Neuausgabe des Klassikers


 

Einleitung

Es hat sich ergeben, dass diese im Rumtek-Kloster in Sikkim geschrieben wird. Vom Kloster blickt man über das Tal nach Gangtok, wo vor einem halben Jahrhundert die erste englische Version des Bardo Thödol von Kazi Dawa-Samdup übersetzt und von W. Y. Evans-Wentz herausgegeben wurde. Eine weitere Verbindung stellt die Tatsache dar, dass diese neue Übersetzung (die englische Originalausgabe) als Teil einer Schriftenreihe erscheint, die Herrn Evans-Wentz gewidmet ist.

Die Arbeit von Kazi Dawa-Samdup und W. Y. Evans-Wentz ist so bekannt und löste ein solch großes Interesse am Buddhismus aus, dass man fragen mag, ob eine neue Fassung überhaupt nötig sei. Einen Teil der Antwort gibt Evans-Wentz in seiner eigenen, die ›den Pionier-Charakter der Arbeit‹ betont. Seit jener Zeit, besonders nach der Flucht vieler der höchsten Lamas aus Tibet, ist das Ausmaß der Information über den tibetischen Buddhismus und das Interesse daran beträchtlich gewachsen. Er ist nicht mehr nur Thema akademischer Studien, sondern eine lebendige Tradition, die nun im Westen Wurzeln schlägt. So wird eine neue Auffassung der Übersetzungsarbeit möglich, die der praktischen Anwendung des Textes und der Vermittlung seines vitalen und unmittelbaren Charakters besonderes Gewicht beimisst.

Im Sommer 1971 hielt Chögyam Trungpa, Rinpoche, in der ›Tail of the Tiger Contemplative Community‹ in Vermont ein Seminar mit dem Titel Das Totenbuch der Tibeter, welches in diesem Band als Kommentar zum Totenbuch enthalten ist. Während des Seminars benutzte er einen tibetischen Text, während die Zuhörerschaft ihm anhand der Evans-Wentz-Ausgabe folgte. Da immer wieder Fragen zur Übersetzung und zum Stil des Ausdrucks auftauchten, wurde beschlossen, eine neue Version zu erarbeiten. Als Grundlage für diese Übersetzung wurden die von E. Kalsang herausgegebene tibetische Ausgabe (Varanasi, 1969) sowie drei Blockdrucke benutzt. Ein paar geringfügige Auslassungen und Irrtümer wurden im Rückgriff auf die Blockdrucke korrigiert, doch weisen die vier Texte keinerlei Abweichungen in den wesentlichen Punkten auf. So ist es doch recht überraschend, hier beträchtliche Widersprüche zur früheren Übersetzung zu finden. Ohne auf alle Einzelheiten einzugehen, sollen einige der besonders auffallenden Punkte erwähnt werden.

Kazi Dawa-Samdup hat in der Übersetzung des Öfteren den Wortlaut des Originals verändert, da er ihn als fehlerhaft ansah. In den Anmerkungen führt der Herausgeber die benutzten tibetischen Texte an – ein Manuskript und einen Blockdruck – und fügt oft hinzu, der Übersetzer habe gewisse Irrtümer korrigiert. Mit den meisten dieser Veränderungen wurde offenbar angestrebt, das System der Entsprechungen von Gottheiten, symbolischen Farben usf. mit den Systemen, die sich in anderen Texten finden, in Übereinstimmung zu bringen. (Die von Francesca Freemantle an dieser Stelle angeführten Unstimmigkeiten in der englischen Ausgabe der Version von W. Y. Evans-Wentz, Oxford University Press, 1960, wurden von Lama Anagarika Govinda in der von ihm neu bearbeiteten deutschen Ausgabe z. T. im Text berichtigt, oder aber in den Fußnoten angemerkt. Anm. d. Übs.)

In der buddhistischen Ikonografie findet sich jedoch keine absolute Übereinstimmung. Offensichtliche Unregelmäßigkeiten, wie in diesen Fällen, sind häufig, und es gibt immer einen Grund dafür. In allen Fällen stimmen unsere vier Texte mit dem Blockdruck von Evans-Wentz, in den meisten Fällen auch mit seinem Manuskript überein, sodass diese Übereinstimmung mit großer Wahrscheinlichkeit auf die korrekte Fassung des Textes hindeutet.

Andere Unterschiede der beiden Übersetzungen bestehen in der Behandlung der spezifisch buddhistischen Terminologie. Die ursprünglichen Schriften des Buddhismus sind in Sanskrit oder Pāli (das sich aus dem Sanskrit herleitet) geschrieben und wurden seit etwa dem siebenten Jahrhundert ins Tibetische übersetzt. Zu jener Zeit war die tibetische Sprache noch von keinem hoch entwickelten Denksystem beeinflusst, weshalb das buddhistische System ohne allzu große Schwierigkeiten übernommen werden konnte. Tatsächlich wurde sogar zur Übermittlung der buddhistischen Lehren eine neue philosophische Sprache geschaffen. Diese Texte in eine europäische Sprache des zwanzigsten Jahrhunderts zu übersetzen, stellt jedoch eine völlig andere Situation dar. Das westliche Denken hat sich in ganz anderen Bahnen als das östliche entwickelt. Wählt man also ein Wort aus dem Vokabular der europäischen Philosophie oder Religion, so wird es unvermeidlich alle möglichen Assoziationen und Implikationen enthalten, die den zugrunde liegenden buddhistischen Vorstellungen durchaus fremd sein mögen. Umgekehrt mag der volle Bedeutungsspielraum eines Sanskritwortes sich nicht durch ein einziges Wort einer westlichen Sprache wiedergeben lassen. In solchen Fällen würde das entsprechende Wort im Englischen oder Deutschen genauso vieler Erklärung bedürfen wie das Original, während das Sanskritwort jedoch den Vorteil hat, von möglicherweise irreführenden Assoziationen im Denken des Lesers frei zu sein.

Gewisse Ausdrücke sind deshalb in Sanskrit, ihrer ursprünglichen Sprache wiedergegeben, obwohl das Bardo Thödol in tibetischer Sprache geschrieben wurde. Ebenso sind die Namen der Gottheiten in Sanskrit gegeben, da sie in dieser Form bekannter sind und in anderen Texten leichter wiedererkannt werden können. Dieser Vorgehensweise folgten oft auch die tibetischen Übersetzer, im Falle des Totenbuches jedoch nicht durchgängig.

Es mag inkonsequent erscheinen, dass zwei tibetische Wörter verwendet werden, so ›Bardo‹ selbst und das Wort ›Yidam‹. Ein Grund ist, dass diese Wörter am einfachsten zu gebrauchen sind, und dass sie zum anderen der am Buddhismus interessierten Leserschaft vertraut sind. Die mögliche Übersetzung von Bardo als ›Zwischenzustand‹ wirkt in häufiger Wiederholung unschön, genauso wie das Sanskrit-Wort ›Antarābhāva‹, das zudem ein ungewöhnlicher Ausdruck ist, da diese Lehre mehr in Tibet als in Indien beheimatet ist. Yidam hat im tibetischen Buddhismus ganz andere Implikationen als das Sanskritwort Istadevatā, welches die ›auserwählte Gottheit‹ im Hinduismus bezeichnet. Man hat Yidam als ›Schutzgottheit‹ übersetzt (ein Ausdruck, der eher der Beschreibung der Dharmapālas vorbehalten sein sollte) oder auch als ›betreuende Gottheit‹, aber alle diese Ausdrücke erwecken den Anschein, dass es sich dabei um äußere Wesenheiten handelt, die als persönliche Beschützer oder Helfer wirken, während die wahre Bedeutung von Yidam ganz innerlich und psychologisch ist. Der Yidam ist ein Ausdruck des eigenen fundamentalen Wesens, das in einer göttlichen Form vorgestellt wird, damit man sich darauf beziehen und seine ganze latente Kraft ausdrücken kann.

Es ist auffällig, dass einige der Wörter, die am besten geeignet sind, die Lehren des Buddhismus auszudrücken, Bestandteile der Sprache der modernen Psychologie sind. Die Einstellungen mancher Schulen der westlichen Psychologie kommen dem Buddhismus oft näher als die der westlichen Philosophie und Religion.

Die Vorstellung der Sünde zum Beispiel wird unvermeidlich mit der Erbsünde in Verbindung gebracht, mit Schuld und Sühne, die in den meisten östlichen Lehren keinen Platz haben. Der Buddhismus sucht stattdessen nach der letzten Ursache von Sünde und Leid und entdeckt, dass es der Glaube an ein Selbst oder Ich als Zentrum der Existenz ist. Dieser Glaube wird nicht von einem eingeborenen Übel verursacht, sondern ist Folge der Unbewusstheit, des Unwissens um das wahre Wesen des Seins. Da wir die Gesamtheit des Lebens von diesem falsch zentrierten Gesichtspunkt her erleben, können wir die Welt nicht erkennen, wie sie wirklich ist. Dies ist gemeint, wenn gesagt wird, die Welt sei unwirklich. Das Heilmittel ist, die Illusion zu durchschauen, die Leere – das Nichtvorhandensein dessen, was unwahr ist – zu erkennen. Untrennbar von der Leere ist das Licht – das Vorhandensein dessen, was wirklich ist –, der Urgrund, in dem das Spiel des Lebens stattfindet.

Begriffe wie Konditionierung, neurotische Gedankenstrukturen und unbewusste Einflüsse scheinen in diesem Buch angebrachter als konventionelle religiöse Begriffe. Im Kommentar werden Wörter wie Neurose und Paranoia gebraucht, nicht um pathologische Umstände, sondern um die natürlichen Folgen dieses zugrunde liegenden Geisteszustandes zu beschreiben. ›Projektionen‹ stehen für unsere Art, die Dinge zu sehen, nämlich gefärbt von unseren Einstellungen. Im Haupttext wird damit ein tibetisches Wort (snang) übersetzt, das grundsätzlich ›Licht‹ oder ›Erscheinung‹ bedeutet, sowohl innerlich als auch äußerlich, und das Kazi Dawa-Samdup mit ›Gedankenform‹ oder ›Vision‹ übersetzt. ›Projektion‹ überwindet diese Unterscheidung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven.

Ein ganz kurzer Abriss der für dieses Buch bedeutsamen buddhistischen Psychologie mag als Grundlage für die ausführlichen Erklärungen im Kommentar von Nutzen sein. Die Entwicklung des egozentrischen Zustandes des Seins wird im System der fünf Skandhas analysiert. Skandha ist wörtlich ein Haufen oder eine Gruppe, aber seine Bedeutung ist besser wiedergegeben mit ›psychologische Komponente‹.

Die erste Komponente ist Form (Rūpa), der Anfang von Individualität und getrennter Existenz und die Aufspaltung der Erfahrung in Subjekt und Objekt. Jetzt gibt es ein primitives ›Ich‹, das sich einer äußeren Welt bewusst ist. Sobald dies eintritt, reagiert das Ich auf seine Umgebung: dies ist die zweite Stufe, Empfindung (Vedanā). Es ist noch nicht voll entwickeltes Gefühl, nur...