Unsere glücklichen Tage - Roman

Unsere glücklichen Tage - Roman

von: Julia Holbe

Penguin Verlag, 2020

ISBN: 9783641249373 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Unsere glücklichen Tage - Roman


 

Ich wusste eigentlich gar nicht mehr genau, warum ich mich auf das Treffen eingelassen hatte. So viele Jahre waren vergangen. Was hätten wir uns noch zu sagen? Mit vielen Menschen wurde es irgendwann mühsam. Und auf mühsam hatte ich in meinem Alter überhaupt keine Lust mehr.

Früher war es nie mühsam gewesen. Alles war immer leicht gewesen. Und es gab eine Freiheit. Eine Freiheit, die wir vielleicht nur in jungen Jahren haben. Wir hatten damals das Gefühl, es würde ewig so weitergehen.

Warum hatten wir uns überhaupt aus den Augen verloren?

Ich wusste es nicht mehr.

Und gleichzeitig wusste ich es genau.

Ich glaube, das ging uns allen so.

Jede von uns wusste es, jede auf ihre Weise.

Auch Lenica. Vor allem Lenica.

Aber Lenica war tot.

Irgendwann hatte ich eine Todesanzeige bekommen.

Ich las ihren Namen und die Namen der Trauernden, und mich überkam eine unbeschreibliche Traurigkeit.

Ich hatte so lange nichts von ihr gehört. Und hatte mich auch nicht von mir aus gemeldet. Doch ich habe immer an sie gedacht. An sie und Marie und Fanny.

An dem Abend damals trank ich viel zu viel Rotwein und hörte Musik. Aber auch die traurigste Musik war nicht traurig genug. Ich musste weinen, und ich war mir plötzlich gar nicht sicher, ob ich um Lenica weinte oder um mich selbst. Ich bin ein sentimentaler Mensch, das bin ich schon immer gewesen. Vielleicht trauerte ich um unsere Vergangenheit und unsere verlorene Jugend. Die nie wiederkommen würde. Und von der ich so sehr hoffte, dass wir sie ganz ausgeschöpft hatten.

Marie hatte keine Anzeige bekommen, sagte sie. Sie hatte es von irgendwem gehört. Sie und Lenica hatten auch keinen Kontakt mehr gehabt. Sie und Fanny auch nicht. Ich versuchte mich zu erinnern, ob Lenica geschieden war, da fiel mir ein, dass ich gar nicht wusste, ob sie überhaupt geheiratet hatten. Marie wusste noch weniger als ich. Das sagte sie mir jedenfalls, als wir uns auf der Straße in die Arme liefen.

Wir waren uns tatsächlich zufällig begegnet. An einem noch kühlen, aber sonnigen Junitag in Luxemburg. Ich saß auf dem Hauptplatz, im einst legendären Café de Paris. Ich hatte den Ort unserer gemeinsamen Schulzeit nur besucht, um einen neuen Pass zu beantragen, eigentlich zog mich nichts mehr hierher. Ich hatte etwas Zeit, aß Steak frites mit Sauce Béarnaise und trank zwei Gläser Wein, im Andenken an den früheren Besitzer des Cafés, der damals ein Freund gewesen war. Ich hatte gerade gezahlt, nahm meine Sonnenbrille, stand auf – und schon fiel sie mir in die Arme.

Marie sah gut aus, sie hatte sich fast gar nicht verändert. Die blonden Haare waren perfekt gesträhnt und etwas kürzer als früher, aber genauso wild, sie war so dünn wie immer und wahnsinnig gut gelaunt. Voller Energie. Sie quatschte mich voll und sagte, sie sei beruflich hier, auf einem Kongress, und ob wir heute Abend zusammen was trinken gehen. Ich wollte noch fragen, auf was für einem Kongress, aber sie war furchtbar in Eile und wir tauschten Nummern aus und schon wehte sie weiter und rief noch: »Elsa, bist du eigentlich noch mit Soundso zusammen?«, der Name meines Exmannes, und ich rief: »Nein.« Sie lachte ihr Ich-habs-dir-ja-gleich-gesagt-Lachen. Dabei kannte sie ihn gar nicht. Oder doch? Ich erinnerte mich nicht.

So war es mit Marie: Nichts war tragisch für sie. Traurig vielleicht, aber nicht tragisch. Sie war das, was man entwaffnend nannte.

Später schrieb Marie: »Ich sitze allein im Fernsehzimmer meiner Eltern und denke an die alten Zeiten. P.S. Sie haben doch tatsächlich mein Zimmer zum Fernsehzimmer gemacht!«

Ich erinnerte mich an Maries Zimmer. Ich konnte mir genau vorstellen, wie sie da saß, und auch, wie sie dabei aussah.

Vielleicht war es das, was mich dazu brachte, ich weiß es nicht, jedenfalls schrieb ich ihr zurück: »Ja, lass uns treffen, bevor wir alt und schrumpelig werden.«

Sie antwortete nur: »Wir werden nie alt und schrumpelig.«

Komischerweise beruhigte mich ihre Feststellung.

Ich war jetzt froh, dass ich beschlossen hatte, sie zu treffen. Beinahe froh zumindest.

Ich würde ja sehen. Einen Versuch war es wert. Menschen sind immer einen Versuch wert. Und manchmal zwang uns das Leben zu handeln. Wir hatten nicht ewig Zeit.

Und da waren wir nun.

Wir waren vier Freundinnen.

Die nichts trennen konnte und die sich doch verloren haben.

Statt wie geplant nach Frankfurt zurückzufahren, nahm ich mir kurzerhand ein Zimmer in einem kleinen Hotel an der Corniche. Es war Freitag, ich musste erst Dienstag wieder in der Schule sein, und viel Unterricht musste ich nicht vorbereiten, es war kurz vor den Sommerferien. Für die ich noch keine Pläne hatte. Scheinbar endlose Wochen Freiheit. Und ich hatte mich auch schon beinahe daran gewöhnt, dass meine Kinder seit einiger Zeit bei meinem Exmann in Boston studierten. Richtig daran gewöhnen würde ich mich nie, aber ich tat mein Bestes.

Mir fiel das Gefühl von früher wieder ein, das, was es damals auslöste, Sommerferien zu haben. So anders als heute war es gar nicht. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich Lehrerin geworden war. Das Gefühl von Sommerferien.

Ich saß auf dem winzigen gusseisernen Balkon und schaute auf die Altstadt mit dem kleinen Fluss und den alten Festungsmauern. Es war komisch, hier in einem Hotel zu schlafen, aber was sollte ich machen? In meinem Elternhaus lebten Fremde, und all meine alten Freunde, die, die geblieben waren, oder die wenigen, zu denen ich überhaupt noch Kontakt hatte, waren in der Welt verteilt.

Ich blickte auf die von Grün gesäumte Promenade unter mir und verlor mich etwas in Gedanken. Ein seltsames Gefühl durchströmte mich, ein wehmütiger Schmerz der Vergangenheit. Ich hätte gerne eine Zigarette geraucht, aber vom Rauchen wurde mir mittlerweile schlecht. Ich trank noch ein Glas Weißwein und dachte an früher. Daran, woran ich so unendlich lange nicht mehr gedacht hatte. An diesen einen Tag in diesem einen Sommer. Vor langer Zeit.

Es war so unsagbar heiß gewesen an diesem letzten Tag, an dem wir uns alle das letzte Mal gesehen hatten. In diesem einen Sommer. Diesem nicht enden wollenden Sommer am Atlantik.

Wir lagen auf unserem Felsen. Dem Felsen, auf dem wir jahrelang jeden Sommer gelegen hatten, Marie, Fanny und ich, und auf dem wir Lenica kennengelernt hatten. Und auf dem wir Freundinnen geworden waren, Lenica und wir. Lenica und ich.

Wir lagen lange dort, länger als an den anderen Tagen. Wir schwammen und redeten und tranken Bier.

Ich erinnerte mich noch, dass ich mit Lenica und Sean einen Schnorchelausflug unternommen hatte. Und dann ließen wir uns auf dem sonnenwarmen Stein trocknen. Ich schlief ein, und als ich die Augen wieder öffnete, sah ich, wie Lenica ganz am Rande des Felsens saß, die Knie eng an den Körper herangezogen, und aufs Meer blickte. Sie drehte sich um, als spürte sie meine Blicke in ihrem Rücken. Sie lächelte mich an. So wie immer, genau so. Dann schaute sie wieder aufs Meer. Plötzlich stand sie auf, kam zu mir und küsste mich. Dann ging sie zu Sean und küsste ihn.

Das Meer war gar nicht so kalt gewesen an diesem Tag.

Am Abend grillten wir sehr scharfe Merguez und aßen dazu die Reste, indem wir alles zusammenmischten. Es gab Tomaten-Mais-Thunfischsalat und wir rösteten das Baguette vom Vortag. Wir machten ein Lagerfeuer und wir hörten Musik.

Vor allem redeten wir uns ein, wir müssten auch den Alkohol aufbrauchen.

Wir saßen so lange am Feuer, bis es niedergebrannt war, und redeten darüber, was wir in diesem Sommer alles gemacht hatten.

Wir redeten über den Sommer, als sei er ein ganzes Leben gewesen.

Als würde er nie wiederkehren.

Wir kosteten den Abend aus. So gut wir konnten, und wir wollten es so sehr.

Am nächsten Morgen waren wir furchtbar verkatert und tranken starken Kaffee aus den bunten Steingutbechern, nur Sean trank viel zu lange gezogenen schwarzen Tee, und wir warfen verschlafen unsere Taschen ins Auto und umarmten uns.

Nichts war vorgefallen.

Wir haben uns nie wiedergesehen.

Als ich auf meinem kleinen Hotelbalkon in Luxemburg saß und auf die Stadt blickte, konnte ich nicht anders, als mich ganz den Erinnerungen hinzugeben. Diese Erinnerungen waren Dämonen, aber ich hatte sie vermisst. Wie eine Droge.

Manche Erinnerungswolken kamen langsam, wie Nebelschwaden, und manche schnell, wie Blitze. Ein Name oder ein Wort genügten und ein ganzes Szenario entstand im Kopf, so als sei es nie weg gewesen. Schlimmer als die Erinnerung im Kopf war diese Art Erinnerung, die man körperlich spürte. Dagegen hatte ich mich gesträubt, aber der kurze Moment, als Marie Lenicas Namen erwähnte, reichte aus für eine Explosion von Gedanken und Gefühlen, die beinahe unerträglich war. Über Fanny hatten wir gar nicht gesprochen, aber sobald ich an Lenica dachte, musste ich auch an sie denken. Und natürlich an Sean.

Ich beschloss, mir gegen meine Überzeugung oder eher Erfahrung der letzten Jahre beim Concierge Zigaretten zu holen. Ich sollte mich langsam wieder daran gewöhnen.

Der ganze Sommer damals trat mir wieder vor Augen.

Doch nicht nur das.

Ich erinnerte mich plötzlich wieder ganz deutlich an den Tag, an dem ich von Lenicas Tod erfuhr. Ich wollte mich eigentlich gar nicht daran erinnern. Nie mehr. Und ich hatte mich mit Erfolg schon lange nicht mehr daran erinnert.

Als ich damals von Lenicas Tod erfahren habe und begann den ganzen Rotwein zu trinken und diese bestimmte Musik zu...