Ein Traum vom Glück - Die Ruhrpott-Saga. Roman

von: Eva Völler

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2020

ISBN: 9783732586349 , 460 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Ein Traum vom Glück - Die Ruhrpott-Saga. Roman


 

Kapitel 2


Nach der Arbeit wartete Johannes, bis Katharina und die beiden Mädchen wieder ins Haus gegangen und nach oben verschwunden waren.

Dann erst versuchte er, sich im Flur die Stiefel auszuziehen. Doch sosehr er auch daran zog und zerrte – er bekam sie nicht von den Füßen.

»Lasse an und komm erst ma rein«, sagte Mine zu ihrem Enkel. Sie ging voraus in die Küche und befahl ihm, sich dort an den Tisch zu setzen.

Johannes legte den Kittel ab. Den Mantel hatte er bereits vor dem Kohleschaufeln ausgezogen und an der Garderobe im Flur aufgehängt. Die Sachen, die er darunter trug, waren abgetragen, wirkten aber nicht zerlumpt – ein grob gestrickter Pullover, dazu eine an den Knien geflickte Hose aus dickem Stoff. Unter dem Stuhl, auf dem er saß, hatte er seinen Rucksack deponiert. Viel schien nicht darin zu sein, er lag schlaff zusammengefallen auf dem Fußboden.

Mine hängte den verdreckten Kittel an einen Türhaken und wandte sich dann wortlos dem Herd zu. Sie brachte das Feuer in Gang und stellte die große gusseiserne Pfanne auf die Kochplatte, dann schnitt sie mit geübten Bewegungen geräucherten Speck klein und ließ ihn aus. Während er in der Pfanne vor sich hin schmurgelte, schälte sie ein halbes Dutzend große Kartoffeln und hobelte sie in dünne Scheiben, die zum Speck in die Pfanne kamen. Auf dieselbe Weise verfuhr sie mit zwei dicken Zwiebeln. Sie wendete alles sorgfältig, gab Salz dazu und ließ es anschließend unter gelegentlichem Umrühren auf kleiner Flamme braten. Im großen Topf daneben erhitzte sie Wasser. Die ganze Zeit drehte sie sich nicht zu ihrem Enkel um und sprach kein einziges Wort. Er selbst schwieg ebenfalls.

Irgendwann fragte sie schließlich: »Hasse Läuse?«

»Momentan nicht«, antwortete er. »In meinen Sachen auch nicht. Wir haben vor dem Rücktransport noch saubere Kleidung bekommen.«

Die Küchentür öffnete sich knarrend, und Bärbel kam hereingehüpft. »Ich hab’s gerochen«, sagte die Kleine mit einem Kichern. »Bräterkes! Krieg ich auch welche, Oma?«

Mine deutete mit dem Kinn zum Tisch. Bärbel setzte sich und begann sofort ohne jede Scheu eine Unterhaltung mit Johannes.

»Wie lange warst du in Russland gefangen?«

»Fast sechs Jahre.«

»Mein Vater war auch Soldat. Er ist vermisst. Kennst du ihn?«

»Er ist mein Onkel. Ich bin ihm vor langer Zeit einmal begegnet, als ich hier zu Besuch war.«

»Hast du ihn auch in Russland getroffen?«

Mine hielt jäh die Luft an, doch die Antwort fiel wie erwartet aus.

»Leider nicht.«

»Warum warst du in Gefangenschaft?«

»Weil ich bei der Wehrmacht war.«

»Das war mein Vater auch. Vielleicht ist er auch in Gefangenschaft gekommen.«

»Ja, vielleicht. Es gibt immer noch sehr viele Kriegsgefangene in Russland.«

»Warum durftest du nach Hause und die anderen nicht?«

»Das weiß ich nicht. Man hat es uns nicht gesagt. Mir nicht, und den Übrigen auch nicht.«

An dieser Stelle geriet das Gespräch ins Stocken.

»Deck den Tisch«, sagte Mine zu Bärbel, während sie die Schalen aus den zerbrochenen Eiern pickte. Sie kippte die zerlaufene Masse über die Bratkartoffeln und rührte ein paarmal um, dann legte sie einen Untersetzer auf den Tisch und stellte die heiße, dampfende Pfanne darauf. Bärbel hatte drei Teller vom Wandbord genommen und auf dem Tisch verteilt, auf derselben alten Wachstuchdecke, die bereits bei Johannes’ letztem Besuch dort gelegen hatte. Mine entsann sich, wie der stille, verlegene Junge, der damals ungefähr so alt gewesen war wie Bärbel jetzt, mit dem Fingernagel ein paar Rillen hineingedrückt hatte. Auch die hatten sich über die Jahre erhalten. Anscheinend erinnerte er sich ebenfalls daran, denn er fuhr mit den Fingerspitzen darüber, als würde er einer verlorenen Fährte nachspüren.

Mine entging nicht, wie sehr seine Hände zitterten. Wie stark sein Körper sich angespannt hatte, wie seine Nasenflügel bebten, als der Duft des Essens ihm entgegenwehte. Es kostete ihn sichtlich Beherrschung, ruhig sitzen zu bleiben, und sie wusste warum.

Der Hunger war ihr ein vertrauter Begleiter gewesen, sie hatte ihn mehr als einmal nur knapp überlebt. Im Steckrübenwinter 1916/17 hatte es Tage gegeben, an denen sie vor Entkräftung nicht mehr hatte aufstehen können, weil sie alles, was es noch zu beißen gab, ihren Kindern überlassen hatte. Zwei ihrer Schwestern waren damals verhungert, und die anderen in der Familie, die in jenem Winter dem Tod von der Schippe gesprungen waren, hatten auch nicht mehr lange gelebt. Zwei weitere Schwestern und der Vater waren im Folgejahr an der Spanischen Grippe gestorben, zwei Brüder im Schützengraben an Chlorgas zugrunde gegangen.

Doch sie selbst lebte noch und häufte ihren Enkelkindern nun Bratkartoffeln auf die Teller. Ein paar Essiggurken packte sie als Dreingabe daneben. Das Kind bekam eine kleine Portion, der hungernde Mann den Rest, und sie legte noch die Gabeln dazu, die Bärbel vergessen hatte. Sie selbst aß nichts. Ein Stück Brot mit Gurke würde ihr später reichen.

Sie stand auf und machte sich wieder am Herd zu schaffen, denn sie wollte den Jungen nicht beim Essen beobachten, weil es ihm den Genuss daran verdorben hätte. Auch ohne hinzusehen wusste sie, dass er die Mahlzeit auf eine bestimmte Weise verzehrte. Die meisten lange hungernden Menschen aßen so, wenn ihnen eine Speise gereicht wurde, die ihnen keiner mehr wegnahm – nicht gierig und überstürzt, sondern bedächtig, Bissen für Bissen. Jedes Stück musste ausgiebig gekaut und lange im Mund behalten werden, auch wenn der Wunsch, alles blitzschnell hinunterzuschlingen, übermächtig war. Der Vorgang des Essens wurde auf beinahe religiöse Weise zelebriert, das Ende ewig hinausgezögert.

Bärbel hatte längst aufgegessen, als Johannes noch kaum ein Viertel seiner Portion vertilgt hatte.

»Hol ma wacker eingemachte Kirschen hoch«, sagte Mine zu ihr.

»Au ja! Kann ich auch welche haben?«

»Wenne hinterher beim Abwaschen hilfs.« Mine reichte Johannes ein Glas kaltes Wasser. Er bedankte sich höflich und trank es sofort in durstigen Zügen leer. Sie füllte nach und stellte es ihm hin.

Er blickte sie an. In seinen Augen flackerte etwas auf, und sie spürte, dass es Angst war.

»Darf ich hierbleiben?«, fragte er leise.

Sie nickte schweigend. Er war das Kind ihrer Tochter. Und er hätte Karl sein können.

Nach dem Essen scheuchte sie Bärbel nach oben, dann opferte sie eine genau bemessene Menge kostbarer Kaffeebohnen, die sie fein mahlte und in einer Tasse mit heißem Wasser aufgoss. Anschließend rührte sie noch einen Löffel Zucker hinein.

Johannes schloss die Augen und sog den aus der Tasse aufsteigenden Duft lange ein. Mine wollte ihm erklären, dass echter Bohnenkaffee heiß am besten schmeckte, aber dann ließ sie es sein. Er war erwachsen, ein fast sechsundzwanzigjähriger Mann.

Sie füllte eine Waschschüssel mit warmem Wasser und stellte sie auf den Boden, dann holte sie Jupps alten Stiefelknecht aus den Tiefen ihres Kleiderschranks. In seinen späten Jahren hatte ihr Mann ihn oft gebraucht, weil es mit dem Bücken nicht mehr geklappt hatte.

Es kostete Johannes einige Mühe, doch schließlich gelang es ihm, die festsitzenden Stiefel mitsamt den Strümpfen abzustreifen. Zum Vorschein kamen Narben, wie Mine sie schon öfters an den Füßen anderer Kriegsheimkehrer gesehen hatte – Folgen von Erfrierungen, häufig vereiterten Blasen und bis auf die Knochen entzündeter Geschwüre. Wie sie schon vermutet hatte, wies er auch Hungerödeme auf, man erkannte es an den geschwollenen Knöcheln.

Mine gab ein paar Schnitzer Kernseife in die Schüssel, und Johannes stellte mit einem tiefen Aufseufzen seine Füße hinein.

»Samstag kannsse richtig baden«, sagte sie.

*

Nach dem Fußbad kredenzte Mine ihm einen Aufgesetzten mit schwarzen Johannisbeeren.

»Nur ausnahmsweise«, stellte sie klar. »Nich datte denks, du kriss dat getz immer.«

Er nickte und trank den Alkohol in winzigen Schlucken, wieder mit geschlossenen Augen. Mine schenkte sich selbst auch einen ein. »Wie bisse eigentlich hergekommen?«

»Zu Fuß und per Anhalter.«

»Wat?! Von Russland?«

Er lachte, ein überraschend voller Klang.

»Nein, von Herleshausen. Es sollte von da aus weitergehen, nach Friedland zum Ankunftslager, aber ich hab mich vorher abgesetzt.«

»Warum dat denn?«

»Weil ich in kein Lager mehr wollte. Die registrieren einen da, Großmutter.« Der kurze Anflug von Heiterkeit war wie weggeblasen, sein Gesicht wurde mit einem Mal völlig ausdruckslos, als würde er bereuen, dass er schon zu viel verraten hatte.

»Sach lieber Omma Mine für mich. Wir sind ja hier nich inne Märchenstunde. Jung, wegen wat hasse Angst?«

Er schluckte schwer, dann fuhr er mit erkennbarer Anspannung fort: »Man erzählt sich, dass viele Freigelassene in die russischen Lager zurückgebracht werden. Sie werden von kommunistischen Einsatzkommandos verschleppt und wieder in die Waggons nach Osten gesperrt.«

Mine runzelte die Stirn. Ob das tatsächlich stimmte? Wundern würde es sie jedenfalls nicht. Die deutschen Kommunisten steckten mit dem Iwan seit jeher unter einer Decke, ein einziges verfilztes Gesocks. Jemand vom Roten Kreuz hatte ihr erzählt, dass die Spätheimkehrer in der Ostzone kein Sterbenswörtchen über ihre russische Lagerhaft verlieren durften, aus Sorge der Parteibonzen um den guten Ruf ihrer sowjetischen Brüder. Wer sich...