Zwanzig/11 - Kriminalroman

von: Pierre Emme

Gmeiner-Verlag, 2011

ISBN: 9783839237366 , 323 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Zwanzig/11 - Kriminalroman


 

1. Kapitel


Der Anruf hatte Max am Donnerstag, dem 3. November so gegen 16.30 Uhr erreicht. Kurz vor München. Ja, genau, der ICE war eben in den Ostbahnhof eingefahren, als sich sein Handy mit dem üblichen schwachsinnigen Tidelidü Tidelida bemerkbar gemacht hatte.

Es war Anne gewesen, die ihn mit der schlimmen Nachricht konfrontiert hatte. »Die Polizei hat hier angerufen«, hatte sie zögernd begonnen, »nachdem sie sonst niemanden erreichen hatte können. Maurice ist …, hat heute am frühen Morgen auf der Autobahn zwischen Seewalchen und Sankt Georgen einen schweren Unfall gehabt.« Sie hatte gestockt. »Er ist …«

»Ja, gut, und?«, war es Max entfahren. Und dann als erste substanzielle Frage: »Lebt er noch?«

»Ja, ja, er lebt, aber er ist sehr schwer verletzt«, Max konnte hören, wie seine Frau leise weinte. »Entschuldige, die Sache macht mir mehr zu schaffen als ich dachte.«

O Gott, ging es Max durch den Kopf, das war wieder typisch. Da wurden täglich in aller Welt Menschen geschlagen, geschändet und getötet und seine Frau brach schon bei einem simplen Verkehrsunfall in Tränen aus. Gut, das Opfer zählte zu ihrer angeheirateten Verwandschaft, aber trotzdem.

»Und wohin hat man ihn gebracht?«, er ging nicht weiter auf die Befindlichkeit Annes ein. Dazu war jetzt keine Zeit. Schließlich ging auch ihm die Sache an die Nieren, und wie. Hatte er doch nicht die geringste Ahnung, wie er sich jetzt verhalten sollte. Was wurde von einem in so einer Situation erwartet?

»Ich meine, in welchem Krankenhaus liegt Maurice?«

Sein Bruder hieß eigentlich Moritz, der Vorname war ihm aber immer zu bieder gewesen. Max und Moritz, Maurice hatte nie verstanden, was sich die Eltern eigentlich dabei gedacht hatten.

Also hatte sich Moritz Maurice genannt, das hatte etwas, und Max tat ihm seither den Gefallen, ihn so zu nennen. Meistens, wenn er den Kleinen nicht gerade ärgern wollte.

»Im Landeskrankenhaus in Vöcklabruck, auf der Intensivstation.« Max hatte Anne schon wieder schniefen gehört. »Er ist noch immer ohne Bewusstsein.«

»Was ist mit Katharina?«, das war Maurice’ zweite Frau, eine gebürtige Weißrussin, die aber bereits seit mehr als 15 Jahren in Österreich lebte und die Staatsbürgerschaft besaß.

Natürlich hatte Anne ebenso wenig Ahnung über den aktuellen Aufenthaltsort seiner Schwägerin wie er. Zwar war bekannt, dass sie sich mit ihrer Tochter Nadja seit mehr als einer Woche bei Verwandten in Minsk befand. Wie diese Leute hießen und wie man sie erreichen konnte, war allerdings ein großes Geheimnis. Und würde es möglicherweise auch bleiben, denn er konnte sich nicht an Katharinas früheren Namen erinnern. Der klang wie ›Bstralovschinsky‹ oder so ähnlich, war ihm jedoch nicht mit der für Nachforschungen nötigen phonetischen Exaktheit in Erinnerung. Und selbst wenn: Wie transkribierte man das ins Kyrillische?

»Du könntest ja Katharinas Mädchennamen über das Standesamt im 3. Bezirk in Erfahrung bringen«, hatte Max angeregt. Dort hatten die beiden vor etwa zwei Jahren geheiratet. »Außerdem wird sich ihre Handynummer wahrscheinlich in Maurice’ Sachen finden.«

Anne hatte gerade noch gemeint, sich darum kümmern zu wollen, als ein gnädiges Funkloch dem Gespräch brutal ein Ende bereitet hatte.

Max war ganz mulmig im Magen geworden. Ein Verwandter im Krankenhaus, das hatte ihm gerade noch gefehlt. Darüber hinaus einer, um den man sich kümmern musste, wollte man nicht als mieser Charakter dastehen. So ein alter Onkel oder ein entfernter Cousin – dem schickte man Blumen und die besten Genesungswünsche. Aber bei einem Bruder wurde eindeutig mehr erwartet.

Also gut, da musste er durch. Obwohl ihm der Unfall zu dem Zeitpunkt so gar nicht ins Konzept passte. Den Termin morgen Nachmittag mit Eggenbach konnte er mit Sicherheit vergessen. Und den Samstagmittag wahrscheinlich auch. Andererseits wieder, war der Produzent nicht als praktizierender Familienmensch verschrien, dem ein mitfühlender zukünftiger Drehbuchlieferant am Bett des schwerverletzten Bruders sicher gut gefallen würde?

Erschrocken über seine eigenen Gedanken rief sich Max zur Ordnung. Was war los mit ihm, dass er den Unfall des Bruders danach beurteilte, ob er ihm ins Konzept passte oder nicht? Würde ihm ein schwerverletzter Moritz weniger ausmachen, hätte er keine Termine in den nächsten Tagen?

Kurz vor 19 Uhr hatte Max dem Zug in Attnang-Puchheim adieu gesagt und sich von einem Taxi zum Krankenhaus in Vöcklabruck bringen lassen. Dann war es ihm gelungen, eine hartnäckige Oberschwester davon zu überzeugen, ein Verwandter des auf der Intensivstation liegenden Moritz Petrark zu sein. Und damit ein Recht darauf zu haben, den schwer verletzten, Gott sei dank aber nicht mehr in Lebensgefahr befindlichen Patienten zu sehen.

Also stand Max jetzt in einem, neben einem Bett mit technischen Geräten, Bildschirmen und diversen anderen furchteinflössenden Dingen vollgerammelten Raum. Schockiert betrachtete er die trotz ihrer ursprünglich immerhin 1,86 Meter Größe ganz klein und zerbrechlich wirkende Gestalt des Bruders. Der bandagierte Kopf, das leichenblasse Gesicht mit einem deutlichen Bartschatten, ein eigenartiger kleiner Schlauch in der Nase, eine Infusion, die im rechten Arm mündete – es sah schrecklich aus. Immerhin schien der Bewusstlose selbst atmen zu können, denn der Max aus verschiedenen Folgen einschlägiger Fernsehbildung bekannte Beatmungsschlauch fehlte, der Mund war frei.

Während er versuchte, den Schock des dramatischen Anblicks zu verkraften, hatte sich die Türe leise geöffnet und ein etwa 40-jähriger Mann im weißen Kittel betrat das Zimmer.

»Doktor Sommerauer«, stellte sich der Arzt vor. »Wir mussten Ihren Bruder operieren. Der Druck auf das Gehirn wäre sonst zu groß geworden. Jetzt besteht aber keine Gefahr mehr.«

Im Übrigen hatte sich Maurice noch das linke Wadenbein, den linken Arm sowie einige Rippen gebrochen. Dazu jede Menge eher harmloser Schürf-, Riss- und Quetschwunden.

»Sieht schlimmer aus als es ist«, beruhigte der Arzt. »Nichts, was nicht wieder zusammenwachsen würde. Ihr Bruder hatte Glück im Unglück, dass er nicht angeschnallt war. Wäre er nicht vor der eigentlichen Kollision aus dem Wagen geschleudert worden, er hätte bei dem Aufprallwinkel trotz des Airbags wohl keine Chance gehabt.«

»Und wann wird er wieder zu Bewusstsein kommen?«, Max blickte den Arzt direkt an.

»Nun ja«, Sommerauer war die Frage offenbar etwas unangenehm. »Das lässt sich nicht so genau sagen. In den nächsten Stunden, in ein paar Tagen.« Er zuckte unmerklich mit den Achseln.

»Was Sie eigentlich meinen ist, dass Sie es selbst nicht wissen«, brachte Max es auf den Punkt. »Man könnte auch sagen, Sie haben keine Ahnung.« Das hatte unfreundlicher geklungen als er beabsichtigt hatte.

»Tja«, konzidierte der Arzt, »etwas hart formuliert, aber Sie haben recht. Bei einem so schweren Schädel-Hirn-Trauma wird jede Prognose letztlich zur Glaubenssache.«

»Kann ich über Nacht hier bleiben?«, Max hatte plötzlich das ungemein starke Bedürfnis, seinen Bruder jetzt nicht allein zu lassen. Wenn er schon aus seinem bequemen Tagesablauf gerissen wurde und die ganz normalen Annehmlichkeiten missen musste, dann wollte er das richtig auskosten. Mitleiden, eine unvergessliche Erfahrung gewinnen.

»Wir werden sicher irgendwo ein freies Bett für Sie finden«, stimmte Sommerauer zu. »Ich werde gleich eine Schwester bitten, sich darum zu kümmern.«

»Ich will nicht nur im Krankenhaus bleiben, ich will hier bleiben, in diesem Raum, bei meinem Bruder«, insistierte der zu allem entschlossene Max. Mit »Vielleicht wacht er ja auf, dann möchte ich bei ihm sein« hatte er sogar eine plausible Erklärung für sein leicht an Masochismus grenzendes Verlangen.

»Ja, aber …«, Sommerauer blickte sich um, »… hier ist kein Platz für ein weiteres Bett. Sie sehen ja selbst«, er deutete in die beengte Runde.

»Ich brauche auch kein Bett, mir genügt ein Liegestuhl oder ein etwas bequemerer Sessel«, stellte Max fest. »Und eine Decke vielleicht.« Obwohl das fast schon zu viel Komfort war.

Im Blick des Oberarztes lag so etwas wie leise Bewunderung. »Na gut«, meinte er dann. »Ich habe einen Schaukelstuhl im Büro. Wenn Ihnen der recht ist? Und morgen werden wir weiter sehen. Vielleicht können wir Ihren Bruder in den nächsten 24 Stunden ohnehin schon auf Normalstation verlegen. O. K.?«

*

»Lass mich endlich mit deinem Jammern in Ruhe«, herrschte Janina Petrark ihren ältesten Sohn Georg an. »Was kann ich dafür, dass dein Vater …«, sie sprach dieses Wort so aus, als ob es sich dabei um eine unappetitliche, ja obszöne Sache handelte, mit der sie absolut nichts zu tun haben wollte, »… sich jetzt nicht einmal mehr an eure Geburtstage erinnert. Er war schon immer und ist nach wie vor ein Schwein, das nur seine eigenen Angelegenheiten im Kopf hat. Und seit er mit diesem Weib beisammen ist …«, die Art, wie Janina dieses Wort aussprach, ließ noch schlimmere Assoziationen befürchten als ›Vater‹ vorhin, »… ist ihm auch der letzte Rest Hirn in die Hose gerutscht.« Dabei blickte sie selbstzufrieden durch die starken Brillengläser, die ihre Augen ungewöhnlich groß erscheinen ließen.

Ihr konnte Moritz nichts vormachen. Das hatte er nie gekonnt und würde er nie können, dieser Bastard. Aber ihre armen Lieblinge, ihre Buben, die glaubten hin und wieder immer noch, dass ihr Vater...