Mord am Siel. Ostfrieslandkrimi

von: Sina Jorritsma

Klarant, 2017

ISBN: 9783955736330 , 160 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 4,99 EUR

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Mord am Siel. Ostfrieslandkrimi


 

1


 

Der erste Wochenenddienst in Ostfriesland begann für Kommissar Torsten Köhler mit einem Leichenfund. Der Kriminalist hatte gerade an seinem Schreibtisch im Polizeikommissariat Norden Platz genommen und sich eine Tasse Tee geholt. Köhler war wild entschlossen, sich den Sitten und Gebräuchen seiner neuen Heimat anzupassen. Schließlich hatte er sich aus freien Stücken für die freie Planstelle in dem idyllischen Landstrich beworben. Was keiner seiner früheren Kollegen verstehen konnte.

Köhlers Dienstpartner Gerrit Wolter betrat den Raum. Der blonde Ostfriese hob erstaunt die Augenbrauen, als er Köhler erblickte.

„Moin. Du bist schon da?“

„Wie du siehst, Gerrit. Erstaunt dich das?“

Wolter grinste und kratzte sich im Nacken.

„Nee, eigentlich nicht. Obwohl so ein Feiertagsdienst für uns Ermittler meist ruhiger verläuft als für die uniformierten Kollegen. Heute stehen die Dinge aber anders. In Freepsum wurde eine Frauenleiche entdeckt. FF sind schon vor Ort und sperren ab.“

Köhler nickte und erhob sich von seinem Schreibtischstuhl. FF war in der Dienststelle die gebräuchliche Abkürzung für Fenja Tonken und Fiete Brodersen. Die Polizeimeisterin und der Polizeimeister fuhren meist zusammen Streife.

Köhler zog seine Wildlederjacke an, bevor er gemeinsam mit seinem Dienstpartner aus dem Backsteingebäude Am Markt trat. Es war ein kühler Frühling, obwohl die Sonne schien. Köhler hatte gehört, dass man in Ostfriesland manchmal alle vier Jahreszeiten an einem Tag erleben konnte. Er wusste nicht, ob das nur ein dummer Schnack war, denn er lebte seit noch nicht einmal vier Wochen in dieser Gegend.

Sie stiegen in den zivilen VW Passat, den sie als Dienstfahrzeug benutzten. Wolter nahm hinter dem Lenkrad Platz.

„Du weißt nicht, wo Freepsum ist, oder? – Das Dorf liegt ungefähr dreißig Kilometer südlich von hier. Eine Polizeidienststelle gibt es dort nicht. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass ich schon mal zu einem Einsatz dorthin gerufen wurde.“

„Klingt nicht gerade nach einem sozialen Brennpunkt.“

Wolter grinste.

„Nee, das kann man nicht sagen. Freepsum hat noch nicht mal vierhundert Einwohner. Viele arbeiten noch in der Landwirtschaft, sind pensioniert oder pendeln für ihre Jobs ins nahe gelegene Emden.“

Diese Sätze waren für Wolters Verhältnisse beinahe schon eine Volksrede gewesen. Köhler hatte bereits gelernt, dass die Ostfriesen nicht gerne überflüssige Worte machten. Genau deshalb wollte er ja unbedingt in dieser Gegend arbeiten. Köhler hatte während der letzten Jahre viel zu viele Worte gehört. Vor allem finstere Drohungen, die oft auch in die Tat umgesetzt wurden.

„Wissen wir denn schon Näheres über die Leiche? Könnten wir von einem Tötungsdelikt ausgehen?“

„Die Lage war noch unklar, als ich mit FF gesprochen habe. Aber ein Kriminaltechnikteam aus Oldenburg sowie ein Gerichtsmediziner sind bereits angefordert. Das kann aber dauern, bis die Kollegen eintreffen. Schließlich haben wir Feiertag.“

Köhler nickte. Es war der 1. Mai. Er hatte höchstens mit Körperverletzungsdelikten oder häuslicher Gewalt gerechnet. In Großstädten waren zahlreiche Kollegen bei Demonstrationen eingesetzt. Aber von Metropolen hatte Köhler ohnehin die Nase voll. Er versuchte, nicht an die Vergangenheit zu denken, und konzentrierte sich lieber auf das schöne Wetter und die beruhigend grüne Landschaft.

 

Schmale Siele durchzogen die Felder. Die parallel zueinander verlaufenden Gräben waren für Köhler zunächst ungewohnt gewesen. Obwohl das Auto sich immer mehr von der Küste entfernte, war das feuchte Element allgegenwärtig. Köhler musste an seinen letzten Einsatz in der mexikanischen Wüste denken, wo nicht verseuchtes Wasser ein kostbares Gut gewesen war – beinahe teurer als Rauschgift.

Wolter starrte auf die schnurgerade Asphaltstraße vor ihnen. Köhler schätzte an seinem neuen Kollegen, dass er ihn nicht ständig ausfragte. Unter den ostfriesischen Polizisten war Köhler als ehemaliger Zielfahnder des Bundeskriminalamtes ein Exot, darüber machte er sich keine Illusionen. Trotzdem behandelten sie Köhler vom ersten Tag an als einen der ihren, obwohl sie insgeheim vielleicht wirklich wissbegierig waren. Oder bildete er sich das nur ein?

Wolter, FF und die anderen zeigten jedenfalls eine Unaufgeregtheit, die nach den langen Jahren unter ständiger Todesgefahr Balsam für Köhlers Seele war.

„Wir sind da.“

Wolters Worte rissen Köhler aus seinen Gedanken. Sie fuhren durch ein landwirtschaftlich geprägtes Dorf mit den typischen traditionellen Backsteinhäusern. Es gab Stallungen und Weiden, nichts sah nach Agrarfabrik aus. Während der Fahrt hatten sie Funkkontakt mit den uniformierten Kollegen gehalten. Daher steuerte Wolter direkt den Leichenfundort an. Er bog in eine Straße, die Kleiner Escherweg hieß und auf einer Seite mit Bäumen gesäumt war. Hier gab es keine Wohnbebauung mehr, sie hatten den winzigen Ortskern bereits hinter sich gelassen.

„Hast du Gummistiefel mit?“

Wolters Frage überraschte Köhler, er schüttelte zerstreut den Kopf.

„Dachte ich mir. Du kannst mein zweites Paar haben. Aber vielleicht solltest du dir demnächst mal selbst welche anschaffen. Noch gehört dieses Schuhwerk leider nicht zur Ausstattung für Zivilfahnder“, fügte Wolter augenzwinkernd hinzu.

Köhler erblickte den Streifenwagen, der vor ihnen am Wegesrand geparkt war. Polizeimeisterin Fenja Tonken winkte Köhler und Wolter zu. Sie stiegen aus, zogen ihre Gummistiefel an und gingen querfeldein zu den Kollegen, die dort gemeinsam mit einer zitternden Frau in Joggingkleidung standen. Köhler hatte für einen Moment die Hoffnung, dass es sich um eine Falschmeldung gehandelt hatte und niemand ums Leben gekommen war. Doch dann erblickte er die Leiche.

Polizeimeister Fiete Brodersen stand steif wie ein Zinnsoldat neben dem leblosen weiblichen Körper. Man konnte die Tote vom Weg aus nicht sofort sehen. Um sie zu erblicken, musste man zwischen den Bäumen hindurchgehen. Der Kopf und Oberkörper befand sich in einem der mit Wasser gefüllten Gräben. Der Leichnam war mit einem hellen kurzen Sommerkleid und Sandalen bekleidet. Die Beine wirkten unnatürlich weiß. Köhler dachte, dass sie an diesem frischen Frühlingstag doch frieren musste. Aber das war natürlich Unsinn, denn diese Frau konnte nichts mehr fühlen. Weder Hitze noch Kälte.

Wie von einem Magneten angezogen bewegte er sich auf die Leiche zu.

„Moin“, sagte Köhler zu Brodersen und kam sich dabei fast schon wie ein Einheimischer vor. „Ist die Leiche bewegt worden?“

Der schlaksige junge Polizist schüttelte den Kopf.

„Die Melderin hat die Leiche entdeckt und sofort die 110 angerufen. Sie sagte, dass die Frau da schon keinen Puls mehr gehabt hätte. Deshalb war es für Rettungsmaßnahmen zu spät. Wir wollten den Tatort nicht kontaminieren.“

„Gut gemacht“, murmelte Köhler. Er selbst hielt genau wie Brodersen Abstand zu der Toten. Es gab im Gras neben der Leiche frische Fußspuren, die aber vermutlich von der Joggerin stammten. Die Schuhgröße betrug 38 oder 39, wenn sich Köhler auf sein Augenmaß verlassen konnte. Ob der Täter ebenfalls verwertbare Spuren hinterlassen hatte? Das hing davon ab, wann die Tat begangen worden war. Köhler führte sich vor Augen, dass es während der Nacht stark geregnet hatte.

 

„Habt ihr die unmittelbare Umgebung bereits abgesucht?“

Brodersen beantwortete Köhlers Frage mit einem Kopfnicken.

„Ja, wir konnten keine persönlichen Gegenstände, Handtasche oder Ähnliches entdecken. Der Pfarrfennenschloot ist auch nicht sehr tief, daher ...“

„Der was?“

Köhlers verständnisloser Blick musste Bände gesprochen haben.

„Der Pfarrfennenschloot“, sagte der Polizist mit einer solchen Selbstverständlichkeit, als ob jeder den Namen des Siels kennen müsste. „So wird dieser Graben genannt. Durch ihn läuft das Wasser der umliegenden Äcker ab.“

Er deutete auf das Gewässer, in dem die Tote immer noch lag. Köhler hätte gern diesen unwürdigen Anblick beendet. Aber es war Sache der Spezialisten, den Leichnam zu bergen, ohne dabei Hinweise auf den Täter zu vernichten. Und wenn die Frau nun einfach ohne Fremdeinwirkung ertrunken war? Köhler führte sich vor Augen, dass es am Vorabend an unzähligen Orten einen Tanz in den Mai gegeben hatte. Das war in Ostfriesland nicht anders als in anderen Teilen Deutschlands. Und bei solchen Festen ging es meist feuchtfröhlich zur Sache. Doch falls ein Unfalltod vorlag, würden die Spezialisten das ebenfalls herausfinden.

Während Köhler mit dem Polizeimeister gesprochen hatte, wurde die Melderin von Wolter und Fenja Tonken befragt. Köhler ging zu ihnen hinüber.

„Das ist Ulrike Gorden“, stellte Wolter die Joggerin vor. „Sie hat die Tote gegen acht Uhr entdeckt....