Die Wahrheit über Jürgen - Ein Künstlerroman

Die Wahrheit über Jürgen - Ein Künstlerroman

von: Nikolaus Klammer

epubli, 2018

ISBN: 9783746778181 , 229 Seiten

9. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 4,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Die Wahrheit über Jürgen - Ein Künstlerroman


 

 

 

 

 

Ich lernte Jürgen in der Fachoberschule kennen. Wir besuchten sie vor sieben Jahren gleichzeitig. Da er, wenn ich richtig informiert bin, auf Drängen seiner Eltern ausgerechnet den von ihm ungeliebten Wirtschaftszweig besuchte, gingen wir nicht in die gleiche Klasse. Wir wären wahrscheinlich nie aneinandergeraten, wenn nicht durch einen Zufall jemand bei einer Gemäldeausstellung der Kunstkurse unserer Schule seine Arbeit neben die meine gehängt hätte.

Jürgens Werk war eine Collage aus Zeitungsartikeln über die Wiedervereinigung und dicken, schwarzen Kreidestrichen, die ein grob skizziertes Pissoir andeuteten. Darüber war quer in Kreuzform wie mit einer Wasserpistole etwas unangenehm Bräunlich-Rotes gespritzt, das ich zuerst für Farbe hielt. Es handelte sich um ordinäres, eingetrocknetes Ketschup, wie ich bei genauerer Untersuchung erleichtert feststellen konnte. Es klebte auf dem Bild und roch sogar schwach nach Essig und faulen Tomaten. Dennoch war diese Collage gelungen, das musste ich ein wenig neidisch anerkennen. Soweit ich es damals überhaupt beurteilen konnte, war das eine ordentliche Arbeit. Sie war handwerklich überzeugend, das Werk hatte Tiefe und Inspiration. Es erregte sofort heftige Debatten bei den Besuchern der Ausstellung, die das Gemälde daneben - meine bunte, expressionistisch ausgeführte Fabrik, auf die ich sehr stolz war -, mit einem Achselzucken abtaten. Und wirklich, neben diesem durchaus als Geniestreich zu bezeichnenden, im Wortsinn originellen Werk war mein Bild unbedeutend, epigonenhaft und dilettantisch.

Wie bei allen anderen Ausstellungsstücken klebte auch neben dem von Jürgen ein Foto, das den Künstler zeigte. Ich sah mir das Bild an, um mir das Gesicht einzuprägen, denn es war wahrscheinlich eines, das man sich merken musste. Wie ich bald darauf Gelegenheit hatte festzustellen, glich ihm dieses Foto nur in groben Zügen, es war offensichtlich eine etwas ältere und auch noch unscharfe Aufnahme.

Während ich durch die Aula schlenderte und mir die anderen Kunstwerke ansah, wurde ich auf eine Versammlung von vielleicht acht oder neun jungen Männern aufmerksam. Sie hatten sich am anderen Ende des Raumes um ein etwas größenwahnsinniges, abstraktes Triptychon eines Freundes von mir versammelt. Es waren wohl Schüler der Fachoberschule, weil ich ein paar der Gesichter kannte, aber ich hatte noch mit keinem von ihnen gesprochen. Ich trat unauffällig näher, um ihre Meinungen zu erlauschen. Es gab unter ihnen allerdings nur eine einzige. Denn in der Mitte der Gruppe, direkt vor dem Bild, stand Jürgen in der Rolle des gnadenlosen Kritikers. Jetzt fiel mir auf, dass mir sein Charakterkopf schon häufig begegnet war. Ich kannte seine eindrucksvolle Erscheinung nicht nur vom Pausenhof und von einem Informatikkurs, den er allerdings regelmäßig schwänzte. Jeder hat das schon einmal erlebt: Er war für mich ein „öffentliches“ Gesicht, das ich immer wieder einmal gesehen hatte: Selbstredend auf dem Pausenhof, aber auch auf der Straße, im Bus, in einem Lokal, bei einer Vernissage. Es war schon ein seltsames Spiel des Zufalls, durch das wir uns nicht schon früher kennengelernt hatten. Dies hier ist schließlich eine sehr übersichtliche Stadt. Wie sich später herausstellte, besaßen wir sogar ein paar gemeinsame Bekannte.

Ich fand es irritierend, nun zum ersten Mal Jürgens tiefe Stimme zu hören. Bis jetzt war er für mich ein Gesicht in der Masse der alltäglichen Begegnungen gewesen. Es fällt mir schwer, ihn so zu beschreiben, wie ich ihn damals während der Ausstellung sah; als ich ihn zum ersten Mal wirklich aufmerksam musterte. Einiges mag sich jetzt in meine Beschreibung von ihm mischen, das mir damals noch nicht in den Sinn kam. Ich weiß aber noch, wie unproportioniert er auf mich wirkte, er war ein statisch nicht ganz ausgewogenes Bauwerk. In seinem schmalen, langgezogenen und hageren Schädel, der so aussah, als habe er ihn einem Bild von El Greco entliehen, brannten dunkle, in schwermütigen Höhlen liegende Augen mit einem ernsten, fast wahnhaften Feuer. In seinen Blicken war kein bisschen Humor zu finden oder auch nur ein Anflug von Ironie, die diesen Eindruck ein wenig hätten abmildern können. Auf der Bühne hätte wirklich einen wunderbaren „Misanthrop“ in dem Stück von Molière abgegeben. Dazu schaukelte sein Asketenkopf auf einem dünnen, zerbrechlichen Hals mit einem abnormen, spitz hervorstechenden Adamsapfel. Jürgens massiver, untersetzter Leib jedoch, der entschieden zur Korpulenz neigte, stand dazu in einem geradezu grotesken Gegensatz.

Ich sah auf seine Hände, die er erhoben hatte, um ein Detail des Triptychons näher zu erläutern. Der Anblick erschütterte mich. Seinem fetten Unterarm folgte ein breiter und grober Handteller, eine tiefe Speckfalte kennzeichnete die kaum sichtbare Abgrenzung. Aber Jürgens Finger waren dürr, lang und fein, er besaß Finger wie Jean Cocteau. Wenn der Schöpfer überhaupt jemandem jemals den Kopf und die Finger eines Künstlers geschenkt hatte, dann ihm. Der Rest seines Körpers war jedoch für einen ungeschlachten, primitiven Bauer gedacht. Ob mir damals schon der Gedanke kam, er müsse unter jenem Gegensatz leiden?

Er stand vor dem Triptychon und sprach kurze, wirkungsvolle Sätze mit seiner klaren, dunklen Stimme. Verblüfft registrierte ich, wie andächtig und – ich finde kein anderes Wort - „fromm“ ihm die anderen zuhörten. Er hatte seine Jünger vollkommen in seinen Bann gezogen. Ich schob mich noch näher an die Gruppe heran und bemühte mich, Jürgens Worten zu folgen. Es war herablassend und gemein, was er sagte. Es mochte zwar im Kern wahr sein, aber mir missfiel der offensichtliche Genuss, den er dabei empfand, das wässrige Aquarell-Triptychon meines Freundes unter dem Beifall dieser Gruppe von Speichelleckern mit Worten zu zerfleddern. Diese Häme war unter Kollegen unnötig und vor allem war sie arrogant. Schließlich waren wir doch alle Anfänger und der Kritik schutzlos ausgeliefert. Was machte es da für einen Sinn, wenn wir uns gegenseitig ans Messer lieferten? Jeder von uns suchte unsicher nach einem Weg, den er beschreiten konnte und kopierte unbeholfen und frech falsch verstandene Vorbilder. Wie konnte Jürgen nur glauben, ausgerechnet er sei die geniale Ausnahme, die das Recht hatte, die anderen verächtlich abzuurteilen?

Er trat zum nächsten Ausstellungsobjekt, die anderen folgten ihm. Erneut vernichtete er Sinn und Gestalt des Bildes mit seiner herablassenden, leider jedoch auch zutreffenden und gerade in ihrer Kürze bösartigen Kritik. Dann gingen alle weiter zum folgenden Gemälde. Jürgen war ihr König, ihr Führer. Sie waren nur sein johlendes Gefolge ohne eine eigene Meinung. Jede Spitze von ihm fand lachenden und zustimmenden Beifall. Für einen Gänsehaut erzeugenden Moment sah ich statt Jürgen Joseph Goebbels vor mir. Ein bitterer Geschmack lag plötzlich auf meiner Zunge.

Nachdem Jürgen auch mein Bild mit einem von einem herablassenden Schulterzucken begleiteten Verriss dem Gespött der Gruppe preisgegeben hatte, was ich, obwohl ich es erwartet hatte, wie einen Tritt in den Unterleib empfand, konnte ich mich auf keinen Fall mehr zurückhalten, als alle, vor Ehrfurcht erstarrt, ergriffen schwiegen und über das Wahre, Gute und Schöne meditierend vor seiner Collage standen. Ich musste mich rächen. Ich musste den weihevollen Augenblick kaputt machen. Das war ich den anderen Malern und der bohrenden Kränkung in meinem Herzen schuldig. Voller Abscheu stieß ich meine Worte wie Hagens Speer in Jürgens Rücken und hoffte, dass ich seine verwundbare Stelle fand:

»Schade, dem Bild fehlen ein paar vertrocknete Pommes frites. Dann wäre es gelungener und ausgewogener«, stieß ich zornig hervor. Zehn wütende Augenpaare wandten sich zu mir. Sie musterten mich feindselig und auch ein wenig unsicher. Ich empfand eine ehrliche Befriedigung dabei, ihnen ihre heilige Kuh geschlachtet zu haben. Jürgen zuckte erschreckt zusammen, fuhr herum und sah mich sehr überrascht an. Er bemerkte mich erst jetzt. Er kniff die Augen zu einem schmalen Schlitz zusammen und schob das Unterkiefer mit einem hörbaren Knacken nach vorn. Dadurch verwandelten sich seine vergeistigten Gesichtszüge plötzlich in eine brutale und aggressive Maske. Ein sezierender Blick glitt sehr langsam an mir herab. Ich wich unwillkürlich einen Schritt zurück, mich gegen einen körperlichen Angriff wappnend, der nun als eine unausgesprochene Drohung in der Luft lag. Doch dann lachte Jürgen überraschend auf. Dieses freudlose und kurze Lachen war ein Markenzeichen von ihm.

»Da hast du recht, ich hatte leider Angst vor Schmerzen und Konsequenzen«, stellte er wegwerfend fest. Dabei klang er äußerst unzufrieden. Ich verstand damals seine Bemerkung nicht. Aber ich verschränkte die Arme, hob die Augenbrauen und lächelte wissend. Wenn sich zwei Künstler unterhalten, hat der verloren, der zuerst seine Unwissenheit bekennen muss. Diese Regel hatte ich damals bereits gelernt und gut verinnerlicht. Ich wartete auf die unvermeidliche verbale Auseinandersetzung, die mir besser lag und bei der ich einige Punkte gut machen wollte. Doch mit Jürgen konnte man solche Spiele nicht machen. Er musterte mich noch einmal scharf und nickte einmal, zu einem sicherlich nicht schmeichelhaften Ergebnis kommend. Dann ließ er mich und die ganze Gruppe einfach stehen, ging mit schnellen Schritten aus der Aula. Fast rannte er. Seine Epigonen eilten nach einer Schrecksekunde hinter ihm her. Einer fand noch die Zeit, mir im Vorbeigehen ein Schimpfwort zuzuflüstern. Ich sah diesem ungeordneten Rückzug nach und glaubte, ich wäre als Sieger auf dem Schlachtfeld verblieben. So naiv war ich damals noch.

Das war meine erste Begegnung mit Jürgen....