Die Sekte - Es gibt kein Entkommen - Thriller

von: Mariette Lindstein

Blanvalet, 2019

ISBN: 9783641214609 , 544 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Die Sekte - Es gibt kein Entkommen - Thriller


 

1

Die kleine Fähre lehnte sich auf dem dunklen Wasser in den Seegang. Sie waren jetzt nicht mehr weit entfernt, konnten die Insel aber immer noch nicht sehen, Frühnebel lag wie eine dicke Decke über dem Meer. Kein Horizont in Sicht.

Sofia war erleichtert gewesen, als das Festland auf der anderen Seite hinter dem Nebelvorhang verschwand. Der Abstand zu Ellis war immer größer geworden. Es war schön, sich zusehends von ihm zu entfernen, wenn auch nur für den Moment.

Die Beziehung mit Ellis war irgendwie schon immer eine Achterbahn gewesen, und das mit einer Intensität, dass sie eigentlich nur in einer Katastrophe hatte enden können. Seine miese Laune hätte bei ihr schon am Anfang alle Alarmglocken in Gang setzen müssen, aber da hatte sie ausgerechnet das besonders reizvoll an ihm gefunden. Sie hatten sich im Prinzip über alles gestritten, und am Ende hatte er sie im Internet öffentlich verunglimpft. Das hatte sie so aus der Bahn geworfen, dass sie bei ihrer letzten Prüfung an der Universität fast durchgefallen wäre. Mit Müh und Not hatte sie dann doch noch die Kurve gekriegt.

Genau zu diesem Zeitpunkt war die Einladung zu einem Vortrag von Franz Oswald eingetrudelt. Nur deshalb befand sie sich nun auf dieser Fähre und reiste zu einer fremden Insel weit draußen in den Schären.

Wilma, Sofias beste Freundin, saß neben ihr und starrte ebenfalls in den Nebel. Die leichte Anspannung war ihnen beiden anzumerken, die Unruhe, weil sie nicht wussten, was sie auf der Insel erwartete.

Bevor die Einladung zu dem Vortrag gekommen war, hatte Sofia den ganzen Morgen damit verbracht, am Computer Worte wie »Zukunftsvision« und »Berufswahl« zu googeln. Doch am Ende hatte sie einsehen müssen, dass sie im Internet keine Hilfe finden würde und nach wie vor nicht wusste, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Als sie die Mail entdeckte, wunderte sie sich erst, dass die Nachricht nicht im Spamordner gelandet war.

Ein Vortrag von Franz Oswald über ViaTerra. So lernst du, wie du auf dem Weg der Erde wanderst, stand da.

Was bitte hatte das zu bedeuten? Sie fand, dass die Sache merkwürdig klang, aber von Franz Oswald hatte sie schon gehört. An der Universität sprach man über ihn. Er war aus dem Nichts aufgetaucht und hielt Vorträge über seine Lehre vom reinen Leben, die er ViaTerra nannte. Unter den Studentinnen wurde gemunkelt, er sei attraktiv und habe etwas Geheimnisvolles an sich.

Sie las die Mail noch einmal und vergewisserte sich, dass der Vortrag kostenlos war. Schaden konnte es nicht, sich anzuhören, was dieser Oswald zu sagen hatte. Sie schickte Wilma eine SMS. Die Freundin war schnell überredet. Zurzeit unternahmen sie fast alles gemeinsam.

Sie waren spät dran und setzten sich in dem bereits voll besetzten Saal in die erste Reihe. Über der Bühne hing ein großes Banner, auf dem in riesigen grünen Buchstaben stand: ViaTerra: Wir wandern auf dem Weg der Erde! Ansonsten war der Saal eher kalt und steril, und in der Luft hing der durchdringende Geruch von Putzmittel.

Ein verwundertes Raunen ging durch das Publikum, als Oswald mit einer Schubkarre auf der Bühne auftauchte. Sie war bis zum Rand mit etwas Weißem beladen. Mehl oder Zucker. Sofia konnte nicht genau erkennen, was es war, denn das Licht war auf das Podium ausgerichtet, doch ausgerechnet dort, wo Oswald stehen blieb, war es schummrig. Die Frau, die neben Sofia saß, stöhnte leise. Hinter ihr flüsterte jemand: »Was soll das denn?«

Oswald stellte die Schubkarre ab und hielt einen Moment inne, bevor er nach vorn aufs Podium ging.

»Zucker«, sagte er. »Hier seht ihr die Menge, die eine durchschnittliche Familie in drei Monaten zu sich nimmt.«

Mit einem Mal ärgerte sich Sofia, dass sie gekommen waren. Sie spürte den deutlichen Impuls, einfach aufzustehen und zu gehen – so stark, dass ihre Beine schon zuckten. Sie sollte lieber Bewerbungen schreiben, schoss ihr durch den Kopf, statt sich Vorträge anzuhören. Außerdem machte Oswald sie nervös.

Er war groß, athletisch und trug ein graues Sakko über einem schwarzen T-Shirt. Das dunkle Haar hatte er sich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Das Gesicht war gebräunt, vermutlich künstlich, aber es stand ihm gut. Oswald sah gepflegt und kultiviert aus, gleichzeitig hatte er etwas Primitives, fast Animalisches an sich. Aber vor allem war es seine ungewöhnliche Autorität, die die Luft zum Flimmern brachte, weil alle vor Erwartung ganz unruhig waren.

Eine Weile stand er schweigend da. Die Stimmung im Publikum wurde ruhiger, verhaltener. Dann begann er in schwindelerregendem Tempo mit seinen Ausführungen und steigerte das Tempo des Vortrags in den folgenden Minuten zusätzlich. Die Worte kamen nur so aus ihm herausgeschossen, wie aus einem Maschinengewehr. Mithilfe einer PowerPoint-Präsentation demonstrierte er, wie Gehirne, Nervensysteme, Lungen und fettleibige Körper Giften und Stress zum Opfer fielen.

Allmählich konnte Sofia seine Position erahnen. Eine Art Zurück-zu-Mutter-Erde-Philosophie, in der alles Künstliche der Anfang vom Ende war.

»Machen wir eine Pause«, verkündete Oswald unvermittelt. »Und danach werde ich euch die Lösung für dieses Debakel präsentieren.«

Den zweiten Teil seines Vortrags bestritt er deutlich ruhiger und entspannt. Er pries an, in vollständiger Dunkelheit zu schlafen, sauberes Wasser zu trinken und ökologisch angebaute Lebensmittel zu essen. Nichts Neues, keine Sensation. Dennoch klang es aus seinem Mund wie eine bahnbrechende Erkenntnis.

»Zu unserem Programm gehört auch eine besondere Geisteshaltung«, erklärte er. »Aber nicht das, was ihr jetzt vielleicht glaubt. Daher folgt mir jetzt bitte aufmerksam.«

Er legte eine Kunstpause ein. Plötzlich war Sofia, als starrte er sie direkt an. Sie rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum. Während er weitersprach, ließ er sie nicht aus den Augen.

»Seid ihr es nicht leid, euch immer anzuhören, man müsse im Hier und Jetzt leben? Wir sollten aufhören, auf diese religiösen Spinner zu hören, die predigen, dass nur die Gegenwart zähle. Hören wir auf, ihre Bücher zu kaufen und ihre Kurse zu belegen, und lernen wir lieber, still dazusitzen, ins Leere zu schauen und tief einzuatmen. Bei ViaTerra wird die Vergangenheit nicht totgeschwiegen. Wir ziehen Energie aus ihr.«

Sofias Hand schoss wie von allein in die Höhe.

»Und wie tun wir das?«

Oswald lächelte milde.

»Dein Name ist …?«

»Sofia.«

»Sofia. Gut, dass du nachfragst. Die Antwort findest du in unseren Thesen. Das physische Programm versorgt den Körper. Die Thesen sind die Nahrung für den Geist. Aber, kurz gesagt, ist es so, dass du aus allem Kraft schöpfst, was in deinem Leben geschehen ist. Auch aus den negativen Erinnerungen.«

»Und wie soll das gehen?«

»Das versteht man, wenn man die Thesen studiert. Es hat mit Intuition zu tun. Wenn man beginnt, seine Vergangenheit anzunehmen, verschwinden die Hemmungen. Unsere Fähigkeiten werden dann nicht mehr blockiert, und man kann wieder ganz auf seine Intuition vertrauen.«

»Kann man diese Thesen irgendwo nachlesen?«, hakte sie nach.

»Natürlich kann man das, aber dafür muss man das komplette Programm absolvieren. Wir haben auf Västra Dimö vor der Küste von Bohuslän ein Zentrum, eine Art Herberge, wo wir unseren Gästen helfen, die Balance in ihrem Leben wiederzufinden. Nur in einer ungestörten Umgebung kann man unsere Thesen wirklich verinnerlichen. Genau deshalb befindet sich unser Zentrum auf einer Insel.«

Hinter Sofia meldete sich ein Mann.

»Ist ViaTerra eine Religion?«

»Nein, wir sind vielmehr die erste Antireligion.«

»Antireligion? Was soll das sein?«

»All das, was euch an einer Religion am meisten missfällt, gibt bei uns nicht«, erklärte Oswald.

»Dass man beispielsweise in den meisten Religionen zu einem Gott beten muss«, ging der Mann dazwischen.

»Richtig. Und bei ViaTerra beten wir zu keinem Gott. Wir sind Realisten und stehen mit beiden Füßen fest auf dem Boden.«

Eine kräftige, rothaarige Frau aus der ersten Reihe sprang auf.

»Oder diese blöden Bücher und Texte, die man lesen muss! Und dann soll man diesen Mist auch noch glauben!«

Die meisten Zuhörer lachten.

»Wir bei ViaTerra haben keine Bücher. Nur ein paar simple Thesen, mit denen wir arbeiten. Aber das ist freiwillig.«

So ging es noch eine Weile. Oswald konterte die Fragen und Zwischenrufe sehr geschickt. Er war in seinem Element.

Dann erhob sich ein Mann in einem eleganten schwarzen Anzug und mit einer runden Brille.

»Hast du für deine Erkenntnisse wissenschaftliche Belege? Vertrittst du eine anerkannte Wissenschaft oder nur eine Sekte?«

»Alles, was wir tun, basiert auf dem gesunden Menschenverstand. Das hat nichts mit Wissenschaft oder Religion zu tun. Und das Wichtigste ist doch, dass es funktioniert, nicht wahr?«

»Und woher weiß man, dass das Konzept funktioniert?«

»Kommt vorbei und probiert es aus. Oder auch nicht.«

»Danke, ich verzichte.«

Der Mann bahnte sich einen Weg durch die Stuhlreihen und verließ den Raum.

»Tja«, sagte Oswald und zuckte mit den Schultern. »Dann fahren wir doch fort mit all denen, die ernsthaft interessiert sind.«

Als der Vortrag zu Ende war, wurden sie von jungen Leuten in grauen Anzügen hinausgeschleust. Sie gelangten in eine geräumige Garderobe, wo vor den Wänden mehrere Tische aufgereiht standen. Fragebögen und Stifte wurden verteilt. Ein dünner Typ mit nach hinten gekämmtem Haar und Kinnbart blieb bei Sofia und Wilma stehen, bis sie ihre Bogen ausgefüllt hatten, und zupfte sie ihnen begierig aus den Händen, kaum dass sie fertig waren....