Die Griechen - und die Erfindung der Kultur

von: Edith Hall

Pantheon, 2018

ISBN: 9783641244194 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,99 EUR

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Die Griechen - und die Erfindung der Kultur


 

VORWORT

Zwischen 800 und 300 v. Chr. machten Menschen, die Griechisch sprachen, zahlreiche geistige Entdeckungen und hoben die mediterrane Welt auf eine neue Stufe der Zivilisation. Wie sie sich auf diese Weise kontinuierlich selbst weiterbildeten, wurde von den Griechen und Römern der folgenden Jahrhunderte sehr bewundert. Doch begann, wie dieses Buch zeigt, die Geschichte der alten Griechen schon 800 Jahre vor dieser Phase, und sie dauerte anschließend noch mindestens sieben Jahrhunderte lang an. Und als die Texte und Kunstwerke der griechischen Antike in der europäischen Renaissance wiederentdeckt wurden, veränderten sie die Welt ein zweites Mal.

Dieses Phänomen hat man das Griechische Wunder genannt. Es ist viel vom »Ruhm Griechenlands« geschrieben worden, dem »griechischen Genie«, »griechischen Triumph«, von der »griechischen Aufklärung«, dem »griechischen Experiment«, der »griechischen Idee« oder gar dem »griechischen Ideal«. Doch in den letzten zwanzig Jahren wurde die Ausnahmestellung der Griechen zunehmend in Zweifel gezogen. Die Historiker hoben hervor, dass die Griechen letztlich nur eine von vielen ethnischen Gruppen und Sprachgemeinschaften im antiken Mittelmeerraum waren. Lange bevor die Griechen ihren Auftritt hatten, waren mehrere hoch entwickelte Zivilisationen entstanden: die Mesopotamier und Ägypter, die Hattier und Hethiter. Und es waren andere Völker, die den Griechen entscheidende technologische Fortschritte ermöglichten: Von den Phöniziern lernten sie das phonetische Alphabet, von den Lydiern, wie man Münzen prägt und möglicherweise von den Luwiern, wie man kunstvolle kultische Gesänge komponiert. Als die Griechen nach 600 v. Chr. die rationale Philosophie und Wissenschaft erfanden, war es die Expansion des Persischen Reiches, die ihren geistigen Horizont erweiterte.

Seit dem späten 19. Jahrhundert entwickelte sich unser Wissen über die anderen Kulturen des antiken Nahen Ostens rapide. So verstehen wir inzwischen das Denken der Vorläufer und Nachbarn der Griechen weit besser als noch vor der bahnbrechenden Entdeckung des auf Tontafeln eingeritzten Gilgamesch-Epos im Tigristal 1853. Immer mehr Schriften in den Sprachen der Sumerer, Akkadier, Babylonier und Assyrer, die nacheinander die fruchtbaren Ebenen Mesopotamiens beherrschten, werden erschlossen; hethitische Schriften, die man bei Hattusa in der Zentraltürkei fand, wurden genauso entziffert wie die ebenfalls auf Tontafeln eingravierten Texte in der Nähe des nordsyrischen Ugarit. Bislang unbekannte altägyptische Dokumente und deren Interpretationen machen es nötig, etwa die Bedeutung der Nubier für die nordafrikanische Geschichte neu zu bewerten.

Viele dieser interessanten Entdeckungen haben gezeigt, wie viel die Griechen mit ihren Vorläufern und Nachbarn gemein hatten. Detaillierte komparatistische Studien legen nahe, dass das griechische »Wunder« nur Bestandteil eines andauernden interkulturellen Austauschs war. Die Griechen waren erfinderisch, hätten jedoch ohne die Fertigkeiten, Ideen und Praktiken ihrer Nachbarn niemals so enorme Fortschritte gemacht. Inzwischen herrscht Konsens darüber, dass die Griechen ihren nahöstlichen Nachbarn in Mesopotamien, Ägypten, der Levante, Persien und Kleinasien sehr ähnlich waren. Manche Forscher zweifeln sogar an, dass die Griechen überhaupt etwas Neues geschaffen haben – oder ob sie lediglich das gesamte Wissen aller Zivilisationen des östlichen Mittelmeerraums kanalisierten und in den Gebieten verbreiteten, die Alexander der Große eroberte, ehe es an Rom und die Nachwelt weitergegeben wurde. Andere wollen rassistische Motive erkennen und werfen den Althistorikern vor, »älteste tote weiße europäische Männer« zu schaffen (Bernard Knox); manche behaupten sogar, die Altphilologen hätten systematisch die Fakten verzerrt und jene Quellen unterschlagen, die belegen, dass die alten Griechen den semitischen und afrikanischen Völkern mehr verdanken als den indoeuropäischen Traditionen.

Somit wurde die Frage politisch aufgeladen. Kritiker des Kolonialismus und Rassismus neigen dazu, die Sonderstellung der alten Griechen herunterzuspielen. Für diejenigen jedoch, die daran festhalten, dass die Griechen außergewöhnlich, ja sogar überlegen gewesen seien, dient dies vor allem dazu, die grundsätzliche Überlegenheit westlicher Ideale zu dokumentieren und die Kulturen gegeneinander auszuspielen. Mein Problem ist, dass ich mich weder der einen noch der anderen Seite zugehörig fühle. Ich verurteile Kolonialismus und Rassismus und habe selbst zur reaktionären Vereinnahmung des klassischen Erbes geforscht. Aber je länger ich mich mit den alten Griechen und ihrer Kultur beschäftige, desto überzeugter bin ich, dass sie herausragende Eigenschaften besaßen, die man in dieser Fülle kaum anderswo im Mittelmeerraum oder Nahen Osten findet. Nach einer Skizze dieser Eigenschaften in der Einführung nehmen die zehn Kapitel des Buches den Leser mit auf eine chronologische Reise durch wichtige Phasen der griechischen Geschichte. Damit geht zugleich eine geographische Reise einher, denn im Lauf der Zeit verlagerte sich das Zentrum der griechischen Unternehmungen und ihrer Errungenschaften sukzessive von der Halbinsel und den Inseln, die heute die griechische Nation bilden, hin zu bedeutenden Siedlungen in Italien, Asien, Ägypten, Libyen und im Schwarzmeerraum. Doch so verstreut sie auch zeitlich und räumlich waren, die Mehrheit der alten Griechen teilte die meiste Zeit fast alle diese Eigenschaften. In diesem Buch versuche ich zu erklären, welche Eigenschaften ich damit meine.

Jede einzelne dieser griechischen Errungenschaften findet sich auch in der Kultur mindestens eines ihrer Nachbarn. Die Babylonier kannten den Satz des Pythagoras Jahrhunderte vor dem Namengeber. Die Stämme im Kaukasus hatten den Bergbau und die Verhüttung auf ein noch nie dagewesenes Niveau gehoben. Die Hethiter hatten die Technologie der Streitwagen weiterentwickelt und waren hochgebildet: Sie verschriftlichten die geschliffenen und mitreißenden Reden, die an ihrem königlichen Hof bei offiziellen Anlässen gehalten wurden, ebenso wie die ausgefeilten juristischen Plädoyers. Ein Hethiterkönig wurde zu einem Vorläufer der griechischen Historiographen, als er während der Belagerung einer hurritischen Stadt detailliert beschrieb, wie enttäuscht er von der Unfähigkeit einiger seiner Armeeoffiziere war. Die Phönizier waren ebenso bedeutende Seefahrer wie die Griechen. Die Ägypter erzählten der Odyssee ähnliche Geschichten von Seefahrern, die vermisst wurden und nach Abenteuern jenseits der Meere zurückkehrten. In einem archaischen, aramäischen Dialekt Syriens, den man in jüdischen Kultstätten sprach, wurden pointierte Fabeln verfasst, die denen Äsops vergleichbar sind. Architektonische Gestaltung und technisches Wissen gelangten von den Persern nach Griechenland – und zwar über die unzähligen ionischen Handwerker, die in persischen Texten Yauna genannt werden und beim Bau von Persepolis, Susa und Pasargadai halfen. Aber keiner dieser Volksstämme brachte etwas hervor, das sich mit der athenischen Demokratie, mit der Komödie, mit philosophischer Logik oder Aristoteles’ Nikomachischer Ethik messen könnte.

Ich bestreite nicht, dass die Griechen die Errungenschaften anderer antiker Völker weiterverbreiteten. Aber schon diese Vermittlerfunktion kann man als außergewöhnlich bezeichnen, denn dafür sind zahlreiche Begabungen und Fähigkeiten nötig: Sich fremdes technisches Wissen anzueignen erfordert das Geschick, eine glückliche Begegnung oder Fügung als solche zu erkennen, es erfordert ausgezeichnete kommunikative Fertigkeiten und das Talent sich vorzustellen, wie eine Technik, eine Erzählung oder ein Gegenstand an ein anderes sprachliches und kulturelles Umfeld angepasst werden kann. In diesem Sinn agierten auch die Römer erfolgreich, indem sie wesentliche Errungenschaften ihrer eigenen Zivilisation von den Griechen übernahmen, genau wie die Humanisten der Renaissance. Natürlich waren die Griechen weder von Natur aus noch von ihrer Leistungsfähigkeit her anderen Menschen überlegen, weder physisch noch geistig. Vielmehr wiesen sie selbst häufig darauf hin, wie schwierig Griechen von Nichtgriechen zu unterscheiden seien (ganz zu schweigen freie Menschen von Sklaven), wenn man Kleidung und Schmuck ignorierte sowie alles, was auf deren Kultur hindeuten könnte. Und dennoch: Sie waren das richtige Volk zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um jahrhundertelang den Staffelstab des geistigen Fortschritts zu tragen.

Das vorliegende Buch versucht, die Geschichte der alten Griechen über einen Zeitraum von 2000 Jahren zu erzählen, von etwa 1600 v. Chr. bis 400 n. Chr. Sie lebten in Tausenden kleinen Dörfern und Städten von Spanien bis Indien, vom eiskalten Don am nordöstlichen Ende des Schwarzen Meeres bis zu abgelegenen Nilzuflüssen im afrikanischen Hochland. Sie waren kulturell anpassungsfähig, denn sie verheirateten sich freizügig mit anderen Volksstämmen; sie kannten keine ethnische, biologistisch begründete Ungleichheit, war doch die »Rassentheorie« noch gar nicht erfunden. Sie duldeten und begrüßten sogar die Einfuhr ausländischer Waren. Es war auch nie die Geopolitik, die sie vereinte. Mit Ausnahme des kurzlebigen Makedonischen Reiches im späten 4. Jahrhundert v. Chr. gab es selbst auf dem Gebiet des heutigen Griechenlands bis zum griechischen Unabhängigkeitskrieg am Anfang des 19. Jahrhunderts keinen unabhängigen Staat, in dem Griechisch gesprochen wurde. Was die alten Griechen miteinander verband, war ihre mehrsilbige und wandelbare Sprache, die in ähnlicher Form bis heute existiert, obwohl griechischsprachige Regionen jahrhundertelang von den Römern, Osmanen, Venezianern und anderen besetzt...