Ich küss dich tot - (K)ein Familien-Roman

von: Ellen Berg

Aufbau Verlag, 2018

ISBN: 9783841216212 , 320 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 8,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Ich küss dich tot - (K)ein Familien-Roman


 

Kapitel 1


20. Dezember, noch vier Tage bis Heiligabend

Hundemüde und beladen mit einem schweren Rucksack, zog Annabelle ihren riesigen Rollkoffer durch die Gepäckhalle des Münchner Flughafens. Währenddessen überlegte sie beklommen, was sie wohl in Puxdorf erwartete. Chaos? Dramen? Katastrophen? Sie fürchtete sich ein wenig vor diesem Besuch. Ihr Vater, ein baumstarker Hüne, war nie ernstlich krank gewesen, ihre äußerst patente Mutter hatte noch nie so furchtbar kläglich geklungen wie gestern am Telefon. Dunkel schwante Annabelle, dass die Kindheit endgültig vorbei war, wenn die Eltern Hilfe brauchten.

Na, wenigstens hast du eine ganze Woche eingeplant, mehr als sonst, beruhigte sie sich. Das sollte reichen, um Trost zu spenden, Unterstützung zu organisieren und mit dem guten Gefühl abzureisen, dass du deine Tochterpflichten erfüllt hast. Anständig. Wie es sich gehört.

Jemand schob sich grob an ihr vorbei und warf sie dabei fast um. Frechheit. Ohnehin ging es in der Gepäckhalle zu wie beim Oktoberfest. Überall wurde munter ausgeteilt: ein Rempeln hier, ein Drängeln dort, hinzu kam der beherzte Einsatz von Gepäckstücken, denen Annabelle gar nicht so schnell ausweichen konnte, wie die Dinger auftauchten. Zack, und schon wieder hatte sie eine Reisetasche in den Kniekehlen. Der dazugehörige Mann, Typ arroganter Anzugträger, entschuldigte sich nicht einmal, sondern eilte zielstrebig davon.

Na toll. Kopfschüttelnd bahnte sich Annabelle weiter einen Weg durchs Gewühl, hielt jedoch im Gegensatz zu ihren lieben Mitmenschen die Regeln der Höflichkeit ein. Für ihr wiederholtes »Excuse me« erntete sie allerdings verwunderte Blicke. Ach so. Sie hatte fast vergessen, wie es war, wenn alle ihre Muttersprache beherrschten. Um ein Haar hätte sie sogar den uniformierten Beamten auf Englisch begrüßt, der sie mit einer knappen Geste aufforderte stehen zu bleiben.

»Grüß Gott, junge Frau. Haben Sie zollpflichtige Waren im Gepäck?«

»Nein, nur Dinge für den persönlichen Gebrauch.«

»Bitte den Koffer öffnen«, befahl der Zollbeamte.

Mit dem Kinn deutete er auf einen länglichen Stahltisch. Ächzend hievte Annabelle ihr Ungetüm von Koffer darauf und ließ die Verschlüsse aufschnappen. Die Reise in die heimatlichen Gefilde ging ja super los. Erst das Gedrängel, und nun auch noch eine hochoffizielle Durchsuchungsaktion.

Als sie sich wieder aufrichtete, schwankte sie leicht. Im Grunde konnte sie sich kaum noch auf den Beinen halten nach den Strapazen, die hinter ihr lagen. Beim Mandalay Bay um eine Woche Aufschub zu ersuchen (Wie bitte? Sie kommen erst an Silvester? Das ist nicht Ihr Ernst!), den Flug nach Singapur zu canceln (eine Entscheidung, die Unsummen verbrannt hatte) und einen Last-Minute-Flug nach München zu ergattern (eine nicht minder teure, dazu äußerst aufreibende Sache) waren noch die einfacheren Herausforderungen gewesen. Schwerer wog, dass sie emotional auf der letzten Rille surfte.

Während des gesamten Flugs hatte sie kein Auge zugetan. Liebend gern hätte sie ihre Aviaphobie, diese höchst lästige Flugangst, gegen das Ding mit den Enten eingetauscht. So hatte sie nur zitternd in ihrem Sitz gekauert, Herrn Huber durchgeknetet und für ihren Vater ein Stoßgebet nach dem anderen himmelwärts geschickt. Neben der Sorge wegen seines Schlaganfalls belasteten sie Schuldgefühle. Seit zwei Jahren war sie nicht mehr in Puxdorf gewesen. Zwei lange Jahre, die dennoch irrwitzig schnell vorübergeflogen waren, angefüllt mit Arbeit, nochmals Arbeit, neuen Freunden und, tja, mit Simon.

Kurz vor dem Boarding hatte er sich dann doch noch gemeldet. Per WhatsApp, mit einem komplett unromantischen Gute Reise, viel Erfolg. Annabelle war keine Antwort eingefallen. Zu distanziert hatte das geklungen, zu endgültig. Simon war Geschichte. Und nun musste sie sich auch noch eingestehen, dass es keine nachvollziehbare Begründung gab, warum sie ihrer Familie nicht eher einen Besuch abgestattet hatte. Was war nur mit ihr los gewesen? Aus dem Auge, aus dem Sinn? Nein, sie liebte ihre Eltern, und ganz besonders liebte sie Oma Martha, die immer für sie dagewesen war, wenn ihre vielbeschäftigten Eltern keine Zeit gehabt hatten.

»Was ist das da?«, fragte der Zollbeamte, womit er Annabelle unsanft in die Gegenwart zurückholte.

»Excuse me? Ich meine: Wie bitte?«

Einigermaßen verdattert schaute sie in den geöffneten Koffer. Zwischen Pullovern, Strümpfen und Schuhsäckchen lag eine XXL-Packung ihres Lieblingsparfums. Vor einiger Zeit hatte sie den kleinen Laden in Soho entdeckt, wo man für jeden Kunden einen individuellen Duft mixte. Ihrer hieß Night Fever, mit warmen, würzigen Kopfnoten und einer spritzigen Spur Orange. Ob Mary-Jo das Parfum in den Koffer geschmuggelt hatte? Als Abschiedsgeschenk? Es war alles so schnell gegangen: online nach Flügen fahnden, hektisches Packen, Passsuche, zum Flughafen rasen. Annabelle spürte einen dicken Kloß im Hals.

»Das ist Night Fever, mein ganz persönliches Parfum aus New York, wissen Sie …«

»Persönlich oder nicht – was hat das gekostet?«

»Hm, da muss ich mal nachdenken …«

Sie schämte sich ein bisschen, ihm den schwindelerregenden Preis zu nennen. Ohnehin war es ein teurer Duft, und hier handelte es sich um die Luxusversion in einem aufwendig geschliffenen dunkelvioletten Kristallflakon, der unter Zellophanfolie auf einem weißseidenen Kissen ruhte. Mary-Jo war vollkommen verrückt. Nein, unglaublich lieb und großzügig. Die beste Freundin, die man sich wünschen konnte.

Der Kloß in Annabelles Hals wurde stetig dicker. Wie konntest du nur alles in New York aufgeben? Für einen besseren Job deine Freunde zurücklassen, richtig gute Freunde, und sogar deine Beziehung auf dem Altar der heiligen Karriere opfern? All das erschien ihr auf einmal so absurd wie die Tatsache, dass sie seit zwei Jahren nicht bei ihren Eltern gewesen war. Als hätte sie unter Drogen gestanden. Ja, vermutlich war Ehrgeiz eine Art Droge.

»Ich brauche den Preis«, knurrte der Beamte.

»Nur ein paar Dollar«, schwindelte sie, weil ihr allmählich aufging, dass dieses Präsent finanziell heftig zu Buche schlagen könnte.

»Die Quittung, bitte.«

Verflixt, auch das noch. Annabelle stützte sich mit beiden Händen auf den Stahltisch. Sofern dieser gestrenge Beamte sie nicht vom Fleck weg verhaftete (eine realistische Option, so unerbittlich, wie der rüberkam), würde sie entweder umkippen oder im Stehen einschlafen, was so ziemlich aufs Selbe hinauslief.

»Sehr geehrter Herr Zolloberkommissar«, murmelte sie mit letzter Kraft, »ich habe neuneinhalb Stunden Flug hinter mir, seit sechsunddreißig Stunden nicht geschlafen, mein Vater liegt im Koma, mein Freund hat mich verlassen, und meine beste Freundin …«

Der Rest ging in einem halb erstickten Schluchzen unter.

»Dies ist eine intakte Verpackung ohne erkennbare Gebrauchsspuren, kann also prinzipiell weiterveräußert werden«, spulte der Beamte seinen offenkundig auswendig gelernten Text ab. »Deshalb müssen Sie das Parfum – es sieht kostspielig aus, nebenbei gesagt – bei der Einfuhr unter Vorlage einer korrekten Quittung verzollen. Ausnahmen sind nicht gestattet.«

»Ach nein?«, ertönte plötzlich eine sonore Männerstimme.

Annabelle fuhr herum. Hinter ihr stand der schnöselige Anzugträger. Genau der, der ihr seine Reisetasche in die Kniekehlen gerammt hatte.

»Ich habe meiner Freundin das Parfum gekauft, am New Yorker Flughafen«, behauptete er, fischte einen Kassenzettel aus seiner Anzugjacke und hielt ihn dem Beamten vor die Nase. »Bitte sehr, hier ist die Quittung. Es war übrigens ein Geschenk und muss daher nicht verzollt werden.«

Der Beamte studierte eine Weile den Zettel, bevor er sich wieder Annabelle zuwandte.

»Dann nehmen Sie in Gottes Namen Ihr Gepäck, und gehen Sie weiter.«

Hui. Das war ja gerade noch mal gutgegangen. Mit klammen Fingern schloss sie den Koffer und wuchtete ihn herunter vom Tisch. Furchtsam spielte sie mit dem Gurt des Rucksacks, in dem Weihnachtsgeschenke für ihre Familie lagerten, gut bewacht von Herrn Huber: eine Armbanduhr mit Freiheitsstatue für ihren Vater, ein edles Seidentuch für ihre Mutter, eine bestickte Bluse für Oma Martha. Falls jetzt auch noch der Rucksack gefilzt wurde, musste sie sich auf weitere nervtötende Diskussionen einstellen.

Nichts dergleichen geschah. Der Beamte beschäftigte sich bereits mit dem Herrn hinter ihr, und so konnte sie unbehelligt in Richtung Ankunftshalle trotten. Sie näherte sich schon den Glastüren, die nach draußen führten, als der Anzugträger sie einholte.

»Gern geschehen – auch wenn ich wohl ewig auf ein Dankeschön warten muss.«

Wie bitte? Annabelle blieb stehen und musterte das sonnenbankgetoastete Gesicht unter dem akkurat gestutzten dunklen Haar. Gut, es stimmte, der Typ hatte sie am Zoll aus einer misslichen Lage befreit. Andererseits konnte sie so gar nichts mit dieser Sorte Mann anfangen. In den Nobelherbergen, in denen sie arbeitete, wimmelte es von derartigen Alphatieren, die mit teuren Maßanzügen auftrumpften, elastisch in den Knien wippten und ein forderndes Selbstbewusstsein zur Schau trugen, als gehörte ihnen der ganze Bumms.

»Was sind Sie?«, fragte sie stirnrunzelnd. »Eine Art Schutzengel im Nadelstreifen?«

Lässig fingerte er ein Stückchen elfenbeinfarbener Pappe aus seinem Jackett.

»Peter McDormand...