Anthropologische Literatur - Literarische Anthropologie? Das hispanoamerikanische testimonio zwischen den Welten

von: Nora Valeska Gores

Diplomica Verlag GmbH, 2008

ISBN: 9783836611282 , 102 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: frei

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Preis: 33,00 EUR

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Anthropologische Literatur - Literarische Anthropologie? Das hispanoamerikanische testimonio zwischen den Welten


 

Kapitel III. 3, Genese eines Textes: Von der Erzählung zum Artefakt

In diesem Abschnitt soll auf die doppelte Autorenschaft eingegangen und die Frage thematisiert werden, wessen Geschichte im fertiggestellten Testimonium schließlich erzählt wird.Ursprung eines jeden testimonio ist das Gespräch (mindestens) zweier Menschen. Ein Interview, das aufgezeichnet, bearbeitet und publiziert wird, bevor es seinen Weg in die Hände eines Lesers findet. An seinem Entstehungsprozess sind daher mindestens zwei Personen maßgeblich beteiligt: ein Erzähler und ein Schreiber. Wer hat welchen Anteil am vollendeten Werk? Wessen Geschichte steht schließlich in den Regalen der Buchhandlungen zum Kauf bereit? Oder andersherum, mit Foucaults einleitender Frage nach der Relevanz des Autors „Qu’importe qui parle?“, die der französische Philosoph in einem Essay mit dem Titel „Qu’est-ce qu’ un auteur?“ aufkommen lässt.Während der Entstehung eines testimonio wird zwischen Oralität und Schriftlichkeit verhandelt. Mit der notwendigen Transkription der mündlichen Erzählung geht stillschweigend ein Filterprozess einher, der in den meisten Testimonien nur unzureichend reflektiert wird. Es stellt sich die Frage, wer in den Texten eigentlich spricht. Wer ist also der Autor eines Testimoniums? Derjenige, der Zeugnis gibt? Oder derjenige, der es schriftlich festhält?

Blickt man mit Roland Barthes’ Essay „La mort de l’auteur“ auf diese Frage, so wird der Leser des Textes mit in die Antwort einbezogen. Um die zentrale Stellung des Autors in den Literaturwissenschaften anzugreifen, hebt er in seiner Analyse die Bedeutung des Lesers gegenüber der des Autors hervor. In ihm, so Barthes, finde der Text erst (zurück) zu (s)einem Sinn.Der Text vervollständigt sich erst im Lesen, und die Prämissen verkehren sich. Der Leser selbst steht nun im Mittelpunkt des Textes und ist ausschlaggebend für dessen Inhalt, der Autor selbst ist nicht mehr von Belang, er „stirbt“ mit der Geburt des Lesers. Mit dieser Feststellung endet Barthes seinen Aufsatz: „La naissance du lecteur doit se payer de la mort de l’Auteur.“ Da jedoch der Editor eines testimonio (also dessen Bearbeiter), im eigentlichen Sinne auch sein erster Leser/Hörer ist, kündigt Barthes mit seinem Text gewissermaßen auch den Tod der Stimme des Erzählers an, der bis zur Verschriftlichung als alleiniger Autor gesehen werden kann.Die indische Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Gayatri Spivak kommt in ihrem bekannten Essay „Can the subaltern speak?“ zu einem vergleichbaren Ergebnis. Der Subalterne, in unserem Falle folglich der Testimoniant, so beantwortet Spivak ihre Frage, könne (auch mit Hilfe einer Mittelsperson) nicht sprechen, und somit könne er weder im akademischen Diskurs repräsentiert, noch auf politischer Ebene vertreten werden. Die Zugehörigkeit zur Subalterne zeichne sich nach Spivaks Definition gewissermaßen erst durch den Ausschluss aus dem öffentlichen und akademischen Diskurs aus. Könnte er sprechen, so wäre er nicht subaltern. Der Versuch der Anthropologen und Ethnologen, den Subalternen mit in den Diskurs einzubeziehen, könne daher nur fehlschlagen. Er erschiene, so Spivak, nur bei oberflächlichem Hinsehen als ein möglicher Ausweg, bei genauer Analyse der Situation erweise sich auch dieser „gut gemeinte“ Repräsentationsversuch durch die Elite als utopisch. In ihrem Buch In Other Worlds stellt Spivak fest: To investigate, discover, and establish a subaltern or peasant consciousness seems at first to be a positivistic project – a project which assumes that, if properly prosecuted, it will lead to firm ground, to some thing that can be disclosed. (But) there is always a counterpointing suggestion in the work of the group that subaltern consciousness is subject to the cathexis of the elite, that it is never fully recoverable, that it is always askew from its received signifiers, indeed that it is effaced even as it is disclosed, that it is irreducibly discursive.Die Hoffnung auf eine adäquate Repräsentation der Realität der Menschen, die vom Diskurs ausgeschlossen sind, erfüllt sich auch auf diese Weise nicht. Ihre Interessen können auch durch die Vermittlung eines engagierten Helfers nicht in den Diskurs integriert werden. Das Bild einer Asymptote kann zur Veranschaulichung der Problematik herangezogen werden, um einerseits die erreichte Annäherung an die Realität der Subalterne zu illustrieren, andererseits jedoch auch die ihr inhärente Distanz zwischen Vorbild und Abbild einzufangen.