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Universitätskirche St. Pauli - Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Mit Grußworten von Ministerpräsident Stanislaw Tillich, Rektorin Beate Schücking, Landesbischof Jochen Bohl, Oberbürgermeister Burkhard Jung und Martin Oldiges


 

Gottfried Olearius

DIE WAHRE HERRLICHKEIT EINES WOHLEINGERICHTETEN GOTTESDIENSTES


Predigt zur Eröffnung des regelmäßigen Universitätsgottesdienstes am 31. August 1710 11. Sonntag nach Trinitatis | Bearbeitet und kommentiert von Klaus Fitschen

Am 11. Sonntag nach Trinitatis im Jahre 1710 (dies war der 31. August) hielt Gottfried Olearius die Predigt »bei der Eröffnung des ordentlichen Gottesdienstes in der Akademischen Kirche zu St. Paul in Leipzig«. Der Text wurde im gleichen Jahr unter dem Titel »Die wahre Herrligkeit eines wohleingerichteten Gottesdienstes« von dem Leipziger Verleger Thomas Fritsch zusammen mit Luthers Predigt von 1545 veröffentlicht.

Gottfried Olearius (1672–1715) stammte aus einer weit verzweigten sächsischen Gelehrtenfamilie. Der Urgroßvater Johannes Olearius (1546 –1623) war der Sohn eines am Niederrhein ansässigen Ölmüllers mit Namen Coppermann und hatte, wie es in dieser Zeit unter Gelehrten beliebt war, sich einen latinisierten Nachnamen zugelegt, indem er auf die Berufsbezeichnung seines Vaters zurückgriff. Studium und berufliche Karriere führten Johannes Olearius über die Universitäten Marburg, Jena, Königsberg und die damals sehr renommierte Universität Helmstedt nach Halle, wo er Superintendent wurde. Einer seiner Söhne aus zweiter Ehe war Gottfried Olearius (1604 –1685), der wie der Vater Superintendent in Halle wurde. Der Sohn dieses Gottfried Olearius hieß wiederum Johannes Olearius (1639–1713). Er wurde 1677 Professor an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig und gehörte zu den bekanntesten deutschen Theologen dieser Zeit. Sein weitgehend erhaltenes Epitaph ziert ein auf den Namen verweisender Ölbaum. Sein Sohn, der wie der Großvater Gottfried hieß, ist der Autor der Eröffnungspredigt.

Gottfried Olearius gehörte wie schon sein Vater in eine Umbruchsphase der evangelischen, genauer gesagt lutherischen Theologie. Seit 1708 lehrte er als Professor an der Theologischen Fakultät, nachdem er zuvor Professor für Latein und Griechisch gewesen war – er rückte wie schon sein Vater in die Theologie auf, wie es damals möglich war, nachdem dort eine Professur frei geworden war. Außerdem war er zuständig für die kirchlichen Dinge an der Universität und somit auch für die Universitätskirche, an der er mit seiner Predigt 1710 einen regelmäßigen Universitätsgottesdienst einrichtete. Schon 1709 hatte Olearius eine universitätsgeschichtlich bedeutende Predigt gehalten, die zum 300. Jubiläumsjahr der Universität nämlich. Der Gottesdienst hatte in der Nikolaikirche stattgefunden. Im heutigen Sinne würde man ihn als Neutestamentler bezeichnen, wobei es zur damaligen Zeit die theologischen Fachgrenzen noch nicht gab und Olearius ebenso im Bereich der Philosophie, der Systematischen Theologie und der Praktischen Theologie publizierte.

→ Gottfried Olearius, Porträtbild 1711

Die angesprochene Umbruchsphase in der evangelischen Theologie wurde letztlich durch den Pietismus provoziert, jene Bewegung also, die auf die Intensivierung der Frömmigkeit durch Innerlichkeit und eine nach außen hin oft sektiererisch anmutende Vergemeinschaftung in Konventikeln zielte. Wenige Jahre zuvor war August Hermann Francke, eine der Gründergestalten des deutschen Pietismus, von der Universität Leipzig nach Halle vertrieben worden; das Anliegen der Pietisten (»Frömmler«) blieb aber erhalten. Der Verleger Thomas Fritsch, der die Predigt von 1710 herausbrachte, druckte auch die Werke des Pietisten Gottfried Arnold, der den Zeitgenossen deutlich machen wollte, dass nicht die etablierte Kirche die einzig wahre sei, sondern die Wahrheit in kleinen, oft von Staat und Kirche bekämpften Gruppen bewahrt worden sei – zu denen aktuell die Pietisten gehörten.

Freilich war der Pietismus nicht die einzige Anfrage an die Theologie und das religiöse Leben in der Kirche. Hinzu trat die inzwischen aufgekommene Religionskritik: Gottfried Olearius veröffentlichte 1709 eine Abhandlung gegen die Sozinianer, eine vor allem in Polen-Litauen und den Niederlanden, aber auch gesamteuropäisch wahrnehmbare Gruppierung, die die traditionellen christlichen Dogmen ablehnte und sich der frühen Aufklärung zuordnen lässt. Dass Olearius sich intensiv mit den englischen Deisten und Freidenkern wie John Toland und dem Toleranztheoretiker John Locke befasste, zeigen seine Rezensionen und Übersetzungen englischer Werke. Von 1693 bis 1698 hatte er sich in den Niederlanden und England aufgehalten und auch einen Studienaufenthalt in Oxford und Cambridge absolviert. Olearius gehörte also zu denen, die sich der Aufklärung öffneten. Davon profitierte an der Universität nicht nur die Theologie.

Was den Pietismus angeht, sind deutliche Sympathien schon bei Gottfried Olearius’ Vater Johannes zu verzeichnen, der persönliche Beziehungen zu dem anderen Gründervater des deutschen Pietismus pflegte, zu Philipp Jakob Spener nämlich. Gottfried Olearius nahm wie sein Vater eine moderate Haltung ein, die sich nicht eindeutig als pietistisch bezeichnen lässt, sondern zugleich offen war für die Frühaufklärung und die Tradition der lutherischen »Orthodoxie«. Beide, Vater und Sohn, sind Beispiele dafür, dass kluge Theologen die Selbstinszenierung des Pietismus als Rebellion gegen das scheinbar Äußerliche und »bloß« Vernünftige nicht allzu ernst nahmen. Die von Gottfried Olearius betriebene Institutionalisierung des Universitätsgottesdienstes, die zeitgleich auch an anderen Universitäten zu beobachten ist, lässt sich verstehen als Institutionalisierung eines pietistischen wie aufklärerischen Anliegens, das zugleich genuin reformatorisch ist, nämlich der individuellen Verantwortung des Glaubenden und der Pflege der Frömmigkeit in der Gemeinschaft. Letztlich steht im Zentrum der Predigt aber die lutherische Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade, aus der dann die Heiligung, also ein guter Lebenswandel, hervorgeht.

Dass der schon im 43. Lebensjahr verstorbene Gottfried Olearius in aller Stille und ohne Leichenpredigt beerdigt werden wollte, wird man für sympathisch halten dürfen. Sein Epitaph ist bei der Vernichtung der Universitätskirche verloren gegangen.

Die hier abgedruckte Predigt ist gekürzt und in der Rechtschreibung und sprachlichen Eigenheiten heutigen Bedürfnissen nach Lesbarkeit angepasst worden. Da sie viele inhaltliche Doppelungen und Verstärkungen enthält, betrifft die Kürzung letztlich kaum den Inhalt. Auslassungen sind mit […] kenntlich gemacht. Bibelstellen sind nur da angegeben, wo sie im Druck auch vermerkt sind, wobei fehlerhafte Angaben im Druck korrigiert sind. Der Predigttext stammt aus dem Lukasevangelium (Lk 18,9–14). In der Predigt spiegelt sich wider, dass die Etablierung des »ordentlichen« Universitätsgottesdienstes in der Universitätskirche auf Widerstände – nicht in der Universität, wohl aber in der Stadt – gestoßen war und dass die Kirche von einer Begräbnis- und Feierkirche erst einmal zu einem geeigneten Raum für den evangelischen Predigtgottesdienst umgebaut werden musste. Wer es damals wollte und auch heute will, mag im Pharisäer die »Orthodoxen« und im Zöllner die Pietisten und Frühaufklärer wiedererkennen.

Olearius beginnt mit einer Reflexion auf den Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels nach dem Babylonischen Exil, der für ihn eine Vorabbildung der Universitätskirche ist:

[…] Eben dieses Haus, in welchem wir in der Furcht des Herrn (ach Gott lasse es eine heilige und ihm wohlgefällige Furcht sein) uns versammelt haben, hat vormals, wie etwa der Tempel zu Jerusalem, seit unserer Rückkehr aus dem geistlichen Babel, der verunreinigten Römischen Kirche, wüst gelegen, indem es zum ordentlichen Dienste Gottes und Verkündigung seines Namens in der Gemeinde nicht gebraucht worden ist. […] Das teure Rüstzeug Gottes, Luther selbst, hat an dieser heiligen Stätte das reine Evangelium verkündigt und also dieses Haus und dessen Gottesdienst zu bauen angefangen. […] Aber ach! Die Schwierigkeiten der folgenden Zeiten haben die Fortsetzung dieses heiligen Werkes unterbrochen! Daher ist es geschehen, dass wir und unsere Väter den Mut haben sinken lassen. […]

Nun aber muss ich zu eurem Ruhm gedenken, ihr wertesten Väter und Brüder, dass ihr der Stimme des Herrn gehorcht und euch vor dem Herrn gefürchtet habt. Der Herr hat euren Geist […] erweckt, dass ihr angefangen habt zu arbeiten an dem Hause des Herrn, eures Gottes. Gott hat auch eure Arbeit bereits gesegnet, er hat die Ohren und Herzen unserer hohen Obrigkeit zu uns gelenkt, die allergnädigsten Befehle zu diesem Werk sind ergangen: Lasst sie arbeiten am Haus Gottes, dass sie das Haus Gottes bauen an seiner Stätte, wie einmal der Befehl des frommen Königs Darius zu dergleichen Werke lautete (Esra 6, 7)! Ach, so rufe ich euch denn mit dem Propheten zu: Seid getrost, seid getrost, seid getrost und arbeitet! […]

Soll aber nun unsere Zuversicht und Stärke in Gott bei diesem Hause fest bestehen? Wollt ihr in Gottes Kraft beständig getrost bleiben und mit Segen arbeiten? Ei, so muss der Grund eures Getrostseins und der Zweck eurer Arbeit ein rechter reiner und unbefleckter Gottesdienst bleiben. Desselben wahre Abbildung aber, als eines Hauptstückes, auf welches wir bei dem Aufbau dieses unseres Gotteshauses zu sehen haben, wird uns unser heutiges Evangelium im Satz und Gegensatz lebhaft vorstellen können. […]

Es folgt die Verlesung des Evangeliums aus Lk 18,9–14:

»Er sagte aber zu etlichen, die sich selbst vermaßen, dass sie fromm...