Sturmzeit - Die Stunde der Erben - Roman

von: Charlotte Link

Blanvalet, 2018

ISBN: 9783641229634 , 672 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Sturmzeit - Die Stunde der Erben - Roman


 

Das Kind wurde auf den Namen Alexandra Sophie getauft, in einer besonders schönen und würdigen Zeremonie, die es gänzlich verschlief. Erst am Tag zuvor war das kleine Mädchen, aus Los Angeles kommend, in München eingetroffen, sah seine bis dahin mit akribischer Genauigkeit eingehaltenen Schlafens- und Essenszeiten völlig auf den Kopf gestellt und reagierte darauf mit einer von der ersten bis zur letzten Minute durchschrienen Nacht. Nun war es wahrscheinlich zu erschöpft, um noch gegen das kratzige weiße Taufkleidchen, das Weihwasser auf der Stirn und den modrigen Kirchengeruch protestieren zu können. Hier handele es sich um ein ganz besonders braves und ruhiges Baby, lobte sogar der Pfarrer.

Die übermüdeten Eltern, denen der Jetlag noch in den Knochen steckte, und mehr noch die endlosen Nachtstunden, in denen sie ihre vier Monate alte Tochter auf den Armen geschaukelt, beruhigend auf sie eingeredet und ihr alberne Kinderlieder vorgesungen hatten, ließen die Feierlichkeit mit blassen Gesichtern und umschatteten Augen über sich ergehen.

Beim Verlassen der Kirche sagte Belle Rathenberg ärgerlich: »Wir hätten uns einfach weigern sollen hierherzukommen. Alexandra ist noch zu klein. Wir hätten sie drüben taufen lassen sollen, und alles wäre in Ordnung gewesen.«

»Deine Mutter wollte nun einmal ein großes Familienfest daraus machen, und das wäre in Los Angeles nicht möglich gewesen.« Andreas, ihr Mann, versuchte, sie zu beruhigen. »Jetzt haben wir uns darauf eingelassen, ihr den Gefallen zu tun, nun müssen wir es auch durchstehen. Komm, reiß dich zusammen. Schau die Welt ein bisschen freundlicher an!«

»Wenn mir das gelingen soll, brauche ich jetzt erst einmal einen Sherry«, sagte Belle und stieg in eines der vielen bereitstehenden Autos, die die Taufgesellschaft zum Haus ihrer Mutter bringen sollten. »Wahrscheinlich brauche ich sogar zwei oder drei.«

Felicia Lavergne stand in der Terrassentür und beobachtete ihre Gäste. Sie waren fast alle gekommen, ohne wichtigen Grund erteilte man der alten Patriarchin keine Absage. Außerdem waren ihre Gesellschaften beliebt, ihr malerisch schönes Anwesen am oberbayerischen Ammersee lud ein zu grandiosen Sommerpartys, und sie war immer eine großzügige Gastgeberin gewesen.

Felicia hatte das geräumige Bauernhaus am Ostufer des Sees gleich nach Kriegsende gekauft in der Absicht, einen Ort zu schaffen, an dem alle zusammenkommen konnten, die zu ihr gehörten. Sie war weder eine mütterliche noch eine fürsorgliche Frau, aber sie hatte den ausgeprägten Beschützerinstinkt eines Schäferhundes, der seine Herde umkreist und bewacht. Die Familie war ihr Heiligtum – was sie auf eine sehr spezielle Weise zum Ausdruck brachte, die ihr wenig Sympathie, aber eine Menge widerwillig gezollter Bewunderung eintrug: Sie war in der Lage, es über Jahre hin nicht zu bemerken, wenn einer ihrer nächsten Anverwandten unter Depressionen litt, aber sollte der Betreffende den Entschluss fassen, sich aufzuhängen, würde sie im letzten Moment hinstürzen und den Strick durchschneiden. Dann würde sie aus allen Wolken fallen, wenn sie erführe, dass sich der Gerettete bereits seit Langem mit ernsthaften Problemen herumschlug.

Das Haus bestand aus einer Unzahl kuscheliger Zimmer, aus knarrenden Fußböden, großen Kaminen, Holzbalken an den Decken, aus blumengeschmückten Balkonen und einer großen Terrasse. Der Garten fiel bis zum See hinab, es gab einen Bootssteg, ein Bootshaus, einen Badestrand.

An diesem Septembertag, der ihnen noch einmal sommerliches Wetter, strahlende Sonne und einen wolkenlosen Himmel bescherte, hatte Felicia überall Sonnenschirme aufstellen, Kissen auf Stühle und Bänke legen und den Rasen mähen lassen. Nach dem Mittagessen, einem von vielen Reden unterbrochenen fünfgängigen Menü, hatten sich nun alle Feiernden hinausbegeben und über den Garten verteilt. Auf der Terrasse gab es ein Kuchenbüfett, wo sich jeder selber bedienen konnte, außerdem wurden Kaffee, Tee und alle erdenklichen kalten Getränke ausgeschenkt. Die Herbstblumen leuchteten in der Sonne auf, der See glitzerte türkisblau, ein paar Segelboote malten weiße Tupfen auf die Wellen.

Felicias Blick glitt über die bunte Schar zu ihren Füßen und blieb an Belle, der Mutter des Täuflings, hängen. Alexandra war Ende Mai zur Welt gekommen, aber Belle hatte es bis jetzt nicht geschafft, ihre alte Figur zurückzuerlangen. Sie war früher sehr schlank gewesen, aber jetzt sah sie ziemlich unförmig aus in ihrem geblümten Hängekleid. Sie trug sehr hochhackige Schuhe, aber auch die konnten ihre geschwollenen Beine nicht schlanker erscheinen lassen. Felicia registrierte, dass ihre Tochter ziemlich viel trank, einen Cocktail nach dem anderen, und alle kippte sie hinunter wie Wasser. Neben ihr stand Andreas, den fast vierjährigen gemeinsamen Sohn Chris auf dem Arm. Andreas war um einiges älter als Belle und sah immer noch sehr gut aus. Felicia mochte ihn, hatte aber längst begriffen, dass dieses Gefühl nicht erwidert wurde. Wie die meisten Leute, die Felicia kannten, war auch er überzeugt, dass sie mit ihren Töchtern alles falsch gemacht hatte, dass sie sie materiell blendend versorgt, ansonsten jedoch links liegen gelassen hatte.

Ja, aber glaubt er, ich hätte erreicht, was ich erreicht habe, wenn ich es anders gemacht hätte, fragte sich Felicia.

Immerhin war auch Susanne, Belles jüngere Schwester, erschienen, und das, obwohl sie ihre Mutter unverhohlen hasste. Sie hielt sich abseits, gab sich keinerlei Mühe zu verbergen, wie sehr ihr das alles auf die Nerven ging. Sie trug ein graues Kostüm, viel zu warm für diesen Tag, und hatte ihre Haare streng zurückfrisiert. Sie sah aus wie eine alternde Gouvernante. Wenn jemand sie ansprach, tat sie alles, das Gespräch sofort im Keim zu ersticken. Seit der schrecklichen Geschichte mit ihrem Mann, der elf Jahre zuvor als Kriegsverbrecher hingerichtet worden war, wurde ihr Leben überschattet von brennender Scham, die ihr Kontakte fast unmöglich machte. In Berlin unterrichtete sie sprachgestörte Kinder, und die waren vielleicht die einzigen Menschen, unter denen sie sich sicher fühlte. Selbst ihren drei Töchtern gegenüber verhielt sie sich auf eine verschrobene Weise distanziert, so, als handele es sich nicht um ihre Kinder, sondern um fremde Wesen, die ihr jeden Augenblick gefährlich werden könnten.

Aber allmählich müsste sie über die alten Geschichten hinwegkommen, dachte Felicia ungeduldig, der Krieg ist doch schon so lange vorbei!

Sie strich sich ihr weißes Sommerkleid glatt, obwohl es da nichts zu glätten gab, aber sie hatte sich diese Bewegung angewöhnt, wann immer sie ihre Gedanken zu ordnen und Entschlüsse zu fassen suchte. Ein junger Mann in einem eleganten Anzug, der nicht weit von ihr stand und sie bereits seit einigen Minuten beobachtete, trat auf sie zu.

»Was denkst du gerade?«, fragte er. »Du musterst die Leute hier wie ein General seine Armee, und eben hast du über deinen nächsten strategisch sinnvollen Schritt gebrütet, stimmt’s?«

Felicia lachte. »Mach dich nur über mich lustig. Ich habe gar nichts gedacht. Ich habe nur geschaut!«

Sie mochte Markus Leonberg, ihren Berater in Finanzfragen, mochte seinen Charme und seine Liebenswürdigkeit. Vor allem aber imponierten ihr seine Zähigkeit und Durchsetzungskraft, mit denen er sich aus dem Nichts eine solide Existenz aufgebaut hatte. Nach Kriegsende war er als Einundzwanzigjähriger für ein knappes Jahr in amerikanischer Kriegsgefangenschaft gewesen, anschließend hatte er verzweifelt nach seinen Eltern geforscht, Schlesiern, von denen er keine Spur mehr finden konnte. Endlich fand er heraus, dass beide beim Einmarsch der Roten Armee ums Leben gekommen waren. Dieses Wissen machte aus dem weichen dunkelhaarigen Jungen mit den sanften grünen Augen von einem Tag zum anderen einen Mann, der nur noch daran interessiert schien, immer mehr Geld anzuhäufen und sich um nichts sonst zu kümmern. Er wurde ein König des schwarzen Marktes, tätigte glänzende Geschäfte, warf sich dann auf Immobilien. Inzwischen zählte er zu den reichsten Männern Münchens. Felicia bewunderte ihn, hatte jedoch auch eine vage Ahnung von seinen Schwierigkeiten. Irgendetwas sagte ihr, dass Markus Leonberg womöglich nicht immer einen kühlen Kopf behalten würde. Mit dem Tod seiner Eltern und dem Verlust seiner Heimat war etwas in ihm in Unordnung geraten, oft schien er sich in sich selber nicht zurechtzufinden. Manchmal, wenn er so dastand und für einen Moment nicht darauf achtete, der Welt sein strahlendes Siegerlächeln zu zeigen, wirkte er so einsam und verloren, dass es sogar Felicia danach verlangte, ihn in den Arm zu nehmen. Natürlich hatte sie es noch nie getan, es hätte sie beide nur in Verlegenheit gebracht.

»Du bist ja heute ganz ohne Begleitung hier«, sagte sie jetzt. Normalerweise hatte Markus immer ein hübsches Mädchen an seiner Seite.

»Mit Maren ist es aus. Wir passten nicht zueinander.«

»Schon wieder! Länger als ein halbes Jahr geht es bei dir wirklich nie gut!«

»Was soll ich machen? Ich scheine eben nie den richtigen Griff zu tun.«

»Ich glaube, du hast einen Hang zu den falschen Mädchen«, sagte Felicia, die kaum wusste, wie sie die puppenhaften Geschöpfe, die er bevorzugte, überhaupt auseinanderhalten sollte.

Markus zuckte mit den Schultern und bemühte sich, das Thema zu wechseln. »Wer ist der Herr dort hinten?«, fragte er.

»Der mit dem kleinen Jungen neben sich? Das ist Peter Liliencron, ein alter Freund von mir. 39 schaffte er es gerade noch, aus Deutschland hinauszukommen. 45 ist er dann zurückgekommen. Der Junge ist sein Sohn Daniel.«

»Verstehe. Und da...