Seneca und der Tyrann - Die Kunst des Mordens an Neros Hof

von: James Romm

Verlag C.H.Beck, 2018

ISBN: 9783406718779 , 321 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 18,99 EUR

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Seneca und der Tyrann - Die Kunst des Mordens an Neros Hof


 

EINLEITUNG

DIE BEIDEN SENECAS


Eine mögliche Beschreibung der Karriere Senecas als Schriftsteller, Denker, Dichter, Moralist und langjähriger engster Berater und Weggefährte des Kaisers Nero könnte lauten:

Ein Mann, zu dessen höchsten Idealen Besonnenheit, Vernunft und moralische Tugendhaftigkeit gehörten, wurde ins Zentrum der römischen Politik katapultiert. Er tat sein Bestes, die Launen eines irregeleiteten Despoten zu mäßigen, während er fortfuhr, die moralischen Abhandlungen zu veröffentlichen, die seine eigentliche Berufung waren. Als sein Einfluss im Palast schwand, zog er sich zurück und schuf in Abgeschiedenheit seine eindringlichsten und nachdenklichsten Werke über Tugend, Natur und Tod. Der Kaiser, dem er lange als Berater zur Seite gestanden hatte, bediente sich, wütend über Senecas Rückzug, eines Vorwandes, um ihn zur Selbsttötung zu zwingen. Seine ihm treu ergebene Frau wollte ihn in seinen nüchternen, tapferen Selbstmord begleiten, entschlossen, mit ihm in den Tod zu gehen, doch kaiserliche Truppen kamen dazwischen und retteten ihr Leben.

Eine andere Möglichkeit, dasselbe Leben zu beschreiben, könnte so lauten:

Ein schlauer Manipulant aus bescheidenen Verhältnissen erschmeichelte sich den Weg ins Machtzentrum des Römischen Reiches. Er nutzte seine glänzende Sprachbegabung dazu, sich als Philosoph darzustellen, nutzte in der Folge seinen großen Einfluss, um sich zu bereichern, und verschuldete einen Aufstand in Großbritannien durch die Wucherzinsen, zu denen er Geld an die Bewohner dieser Provinz verlieh. Nachdem er sich an den finstersten Verbrechen des Palastes als Mitverschwörer oder sogar als Anstifter beteiligt hatte, versuchte er seinen Ruf mit wohlbedacht ausformulierten literarischen Paradestücken zu retten. Als immer klarer wurde, dass der Zorn des Kaisers zur Gefahr für ihn wurde, suchte er Zuflucht am Altar der Philosophie, was ihn nicht hinderte, gleichzeitig ein Mordkomplott zu schmieden. Den letzten Trumpf in seinem Buhlen um Anerkennung spielte er mit seinem theatralischen Selbstmord aus, den mit ihm zu erleiden er seine Frau gegen ihren Willen überredete.

Das sind die beiden gegensätzlichen Vorstellungen, die die Römer des ausgehenden 1. Jahrhunderts von Seneca hatten, der eloquentesten, rätselhaftesten und politisch engagiertesten Persönlichkeit ihrer Zeit. Die erste ist weitgehend dem historischen Drama Octavia entnommen, das ein unbekannter Autor in den letzten Jahrzehnten des 1. Jahrhunderts geschrieben hat. Die zweite hat uns Cassius Dio überliefert, ein römischer Chronist, der mehr als hundert Jahre nach Senecas Tod lebte und sich auf die Schriften früherer Autoren stützte. Es besteht kein Zweifel daran, dass diese Autoren an der Wahrhaftigkeit Senecas zweifelten. Sie glaubten den Gerüchten, denen zufolge Seneca ein ausschweifendes und unersättliches Leben geführt, als Politiker alles dem kalten Kalkül der Macht untergeordnet und eine zentrale Rolle in einer Mordverschwörung gegen Nero im Jahr 65 gespielt hatte.

Zwischen diesen Extremen steht Tacitus, der größte aller römischen Historiker und die bei weitem beste Quelle für das Zeitalter Neros, auf die wir heute zurückgreifen können. Tacitus, ein scharfsinniger Erforscher der menschlichen Natur, war fasziniert von dem Philosophen, der die Vorzüge einer schlichten, arbeitsamen Lebensführung pries, während er zugleich Wohlstand und Macht anhäufte. Doch letzten Endes konnte auch Tacitus das Rätsel Seneca nicht lösen.

Tacitus wählte Seneca zum Protagonisten der letzten drei der erhalten gebliebenen Bücher seiner Annalen; er schuf in diesen drei Bänden ein Porträt, das sich durch große Fülle und Komplexität auszeichnet. Der Grundton dieses Porträts lässt sich jedoch nur schwer bestimmen. Tacitus bleibt im Ungefähren, schwankt in seinem Urteil oder flüchtet sich in Ironie und Mehrdeutigkeit. Seltsamerweise erwähnt er Senecas philosophische Schriften, obwohl er sie kennt, mit keinem Wort, als seien sie für die Deutung seines Lebens nicht von Belang. Er fällt auch kein ausdrückliches Urteil über den Charakter Senecas, wie er es bei anderen oft tut. Letzten Endes müssen wir uns damit abfinden, dass das ausführlichste Porträt Senecas, das auf uns gekommen ist, ambivalent und streckenweise auch zwiespältig bleibt.

Ein weiterer antiker Porträtkünstler hat uns ebenfalls ein Bild Senecas hinterlassen. 1813 kam bei Ausgrabungen in Rom eine aus dem dritten nachchristlichen Jahrhundert stammende Doppelbüste zutage. Sie zeigt auf der einen Seite Sokrates, auf der anderen Seneca; am Hinterkopf sind die beiden Philosophen verbunden wie siamesische Zwillinge, die sich ein Gehirn teilen. Die Entdeckung zeigte der modernen Welt erstmals, wie der wirkliche Seneca aussah, denn sein Name war auf Brusthöhe in die Büste eingraviert. Die Skulptur zeigt einen Mann mit einem fülligen Gesicht, bartlos und glatzköpfig, der eine gleichgültige und selbstzufriedene Miene zur Schau trägt. Sein Gesicht könnte das eines Geschäftsmannes oder Besitzbürgers sein, eines wohlsituierten Mannes, der es gewohnt ist, an einem reich gedeckten Tisch zu essen.

Bis zu der Entdeckung von 1813 galt eine andere Büste als das einzig erhaltene Bildnis Senecas; wir bezeichnen sie heute als den Pseudo-Seneca. Sie zeigt ein hageres, verhärmtes und gehetztes Antlitz mit Augen, die in die Unendlichkeit zu starren scheinen. Dieses Gesicht hatte etlichen Malern, die den Tod Senecas auf die Leinwand bannten, als Vorlage gedient – Giordano, Rubens, David und anderen.

Es gab also erneut zwei Senecas. Der Pseudo-Seneca entsprach dem Bild, das die westliche Welt sich von einem stoischen Philosophen der Antike zu machen beliebte. Seine Verhärmtheit schien zu einem Mann zu passen, der um die Wahrheit ringt und Wohlstand und materiellen Luxus verschmäht. Die Entdeckung des wahren Seneca 1813 ließ diese Vorstellung zerstieben. Die Welt erkannte, als sie dieses füllige Gesicht unter die Lupe nahm, dass Seneca nicht der war, für den man ihn gehalten hatte.

Der Eindruck, den die 1813 wiederentdeckte Büste vermittelt, spiegelt für viele denjenigen Eindruck wider, der beim Studium der Rolle Senecas im Rom Kaiser Neros entsteht. Der Mann, dem wir in den Büchern des Tacitus (und mehr noch in Dios Werk) begegnen, ist nicht der Mann, den wir zu kennen glauben, wenn wir seine moralischen Abhandlungen, seine Briefe oder seine Tragödien gelesen haben. Zu diesen Schriften scheint jener Seneca einfach nicht zu passen, schon gar nicht, was sein Verhältnis zu materiellem Wohlstand betrifft. Die beiden Senecas stehen nebeneinander, und kein Echtheitszertifikat gibt uns die Gewissheit, dass der eine der wahre Mensch ist und der andere ein Phantom.

Was in den nachfolgenden Kapiteln unternommen wird, ist der Versuch, diese beiden Senecas zur Deckung zu bringen. Es ist eine Aufgabe, die ich lange Zeit für unlösbar gehalten habe, und das vielleicht zu Recht. Seneca schrieb eine Menge, verlor aber nur sehr wenige klare Worte über seine politische Laufbahn, und in den politischen Rollen, die er übernahm, ignorierte er häufig Grundsätze, die er in seinen philosophischen Schriften vertrat. Es war mein Bestreben, sowohl den Schriftsteller als auch den Höfling stets im Blick zu behalten, trotz der Tatsache, dass sie keine Notiz voneinander nahmen.

Der falsche Seneca …

Herausgekommen ist dabei ein Buch, das teilweise Biografie, teilweise erzählte Geschichte und teilweise eine Exegese der Schriften Senecas ist, sowohl seiner Prosawerke als auch seiner Versdichtungen. Das Buch bietet weder einen umfassenden Überblick über diese Schriften noch ist es eine erschöpfende Geschichte der neronischen Ära. Der Ehrgeiz, die beiden Senecas zu einer Persönlichkeit zusammenzufügen, hat mich zu einem selektiven Vorgehen in beiden Disziplinen genötigt.

Ich habe das Hauptaugenmerk auf die Texte und Textpassagen Senecas gelegt, die die deutlichsten Bezüge zu seinem Leben am kaiserlichen Hof aufweisen. Das hat zur Folge, dass ich vieles von dem, wonach ein philosophischer Fährtenleser suchen würde, links liegen gelassen habe. Tatsächlich folgt daraus sogar, dass ich alle Schriften Senecas, von denen man nicht weiß, ob sie vor oder nach der Inthronisierung Neros entstanden sind, vollkommen außer Acht gelassen habe. Der Leser wird also feststellen, dass vier wichtige Abhandlungen Senecas in diesem Buch keine Erwähnung finden, die in diese Rubrik fallen. Es sind, um sie nicht ungenannt zu lassen: De Otio, De Providentia, De Constantia Sapientis und De Tranquillitate Animi. ...