Alien, Mutter, Kind - Jill wird eingeschult...

von: Kiara Borini

epubli, 2017

ISBN: 9783745029826 , 162 Seiten

5. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 5,99 EUR

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Alien, Mutter, Kind - Jill wird eingeschult...


 

Master


Ich komme nach Hause, keiner da. Dabei ist mir nach Feiern zumute, trotz der späten Stunde. Die Master-Prüfung ist wirklich sehr gut gelaufen. Ich war dann noch bei meinem Professor zum Abendessen eingeladen. Nette Leute, Stefan und seine Frau; aber das wusste ich ja. Schließlich habe ich bei ihm schon mein Praktikum als Schülerin absolviert. Er war dann auch der erste, der Jill untersuchen durfte. Und heute hat er mich gefragt, ob ich bei ihm promovieren will! Es läuft gerade richtig gut bei mir! Bei uns! Denn auch meine geliebte Chiòcciola hat sich in den letzten sechs Jahren richtig ins Zeug gelegt. Ich hätte nie gedacht, dass ein einzelner Mensch so viele Sprachen lernen kann. Ich meine nicht, in so kurzer Zeit, sondern überhaupt. Wobei Mensch ja nun auch wieder nicht ganz korrekt ist. Denn Chiòcciola ist ein Alien. Mein geliebtes Alien. Die Mutter, von Jill, meiner Tochter, die sicher oben schon schläft.
Ma hat sie wohl zu Bett gebracht, bevor sie zum Yoga gefahren ist. Naike, meine dreizehnjährige Schwester, ist heute bei ihrer Freundin und übernachtet dort. Vermutlich tobt dort gerade eine Pyjama-Party.
Pa ist mal wieder in Brüssel. Er hängt sich da richtig rein und ich würde ihm gönnen, wenn er den Posten als Kommissar, auf den er heimlich schon seit einiger Zeit spekuliert, wirklich bekommen würde. Verdient hätte er es. Seit er nicht mehr so verbissen an die Sache herangeht, ist er wohl noch erfolgreicher mit seiner ‘Arbeitsgruppe Asyl’. Aber das Ganze ist wohl auch ein großes Politikum. Wer welchen Posten aus welchem Land bekommt. Deshalb ist alles noch immer ein Geheimnis. Ihn belastet es, glaube ich, schon sehr. Er mag klare Verhältnisse. Doch hat er sich in letzter Zeit überraschend lernfähig gezeigt.
Eigentlich seit damals: Ein schwangeres Alien, das vor gut sechs Jahren bei uns aufgeschlagen ist und seine Tochter - mich - überraschend und ohne Vorwarnung zur Auch-Mutter gemacht hat! Das hat ihn sicherlich etwas nachdenklich werden lassen, ob die von ihm so geliebten geraden Wege immer die geeignetsten sind, für das, was das Leben für einen bereithält. Als dann Dennis, mein Zwillingsbruder, mit Chiòcciolas Cousine, Ashley, in den Weltraum aufgebrochen ist, um zu ergründen, ob ihre Liebe tragfähig genug ist, deren Welt zu retten, hat er sie sogar unterstützt. Nun, das alles hat ihn sicherlich seine Arbeit und die Ursachen von Flucht und Migration in einem neuen Licht sehen lassen und ihn - glaube ich - auch menschlicher und sicher auch kreativer gemacht. Er ist seitdem, wenn er mal da ist, irgendwie auch zugänglicher.
Die Welt von Ashley und Chiòcciola liegt ebenfalls in unserer Milchstraße, das ist verhältnismäßig nah, ist aber dennoch etwa 90.000 Lichtjahre von unserer entfernt. Für das Licht eine irre lange Reise. Man kommt dort aber schneller hin, weil man, sofern man weiß, was man tut, durch Falten im Raum fallen kann, und dann quasi eine Abkürzung nimmt.
Nun, ich bin zwar inzwischen staatlich geprüfte Molekularbiologin und kapiere auch so ungefähr, wie das funktioniert. Es hat was mit unterschiedlich dichter Materie im Weltall zu tun, und damit, dass bestimmte Partikel, die, immer wenn sie mit Materie zusammentreffen, für das Entstehen von Schwerkraft und Zeit verantwortlich sind. Dazu kommt, dass sie mit dieser unterschiedlich dichten Materie in unterschiedlicher Weise in Wechselwirkung treten, was dann unterschiedliche Schwerkraft und Zeit in dieser Region bedeutet. Diese Unterschiede ziehen sich wie ein Netz durch unsere Milchstraße und man kann sie gut zum Reisen benutzen. Eben ist man noch in einem Teil der Milchstraße, schwupps, schnellt man hinüber in eine andere Ecke. Und wenn man diese Raumfalten geschickt nutzt und kombiniert, dann kann man auch 90.000 Lichtjahre auf einen Katzen-Sprung verkürzen.
Dennis ist da besser drin in der Thematik. Er wollte Raumfahrtingenieur werden, eigentlich, bevor er kurz nach dem Abi Ashley kennen und lieben gelernt hat. Jetzt ist er in ihrer Welt und betreibt die erste Pizzeria auf der anderen Seite der Galaxis. Doch eigentlich ist er Politiker, wie Pa. Das hört er aber nicht so gern. Lieber sieht er sich als gesellschaftlichen Brückenbauer.
Und dann ist er noch der erste, der eine funktionierende E-Mail-Strecke quer durch die Galaxis errichtet hat. Auch eine Art Brücke; und irre praktisch. So können wir gut in Kontakt bleiben. Das war an unserem ersten Weihnachten noch ganz anders.
Ich schleiche die Treppe hinauf und schaue vorsichtig in Jills Zimmer. Alles ruhig. Sie schläft tief und fest. Sie hat das Shi’an-Tier in ihren Armen. Eine Art Plüsch-Katze aus der anderen Welt, die ihr Ashley vor ein paar Jahren in einer Raumkapsel geschickt hat. Ist natürlich kein Plüsch, sondern organisches Material, wie alles in Ashley und Chiòcciolas Welt. Und sieht irre lebendig aus!
Leise schleiche ich wieder nach unten und setze mich ins Wohnzimmer. Ich würde so gern mit Chiòcciola, Ma, Pa, oder Dennis und Ashley auf meinen Erfolg anstoßen. Auf unseren Erfolg! Denn kurz vor dem Abi-Ball sah es nicht so aus, als ob sich alles so gut zusammenfügen würde. Jill ist eine tolle Tochter geworden, Chiòcciola ergänzt mich bei ihrer Erziehung hervorragend und trotz unseres beruflichen Engagements gelingt es uns bislang sehr gut, beides unter einen Hut zu bringen. Und wenn nicht, dann ist Ma da und springt ein, obwohl sie am Anfang ziemlich deutlich gemacht hat, dass sie dieses nun unter Garantie nicht zu tun beabsichtige. Ach ja, Naike hilft natürlich ebenso, wann immer es ihre Schulaufgaben zulassen. Sie hatte an Jill von Anfang an einen Narren gefressen!
Chiòcciola hatte heute Morgen gesagt, dass sie nach der Konferenz der ‘al Maghrib’-Delegation, der Nord-West-Afrikanischen Länder, noch mit ihnen zu Abend essen wird und erst spät kommt. Ich habe natürlich gehofft, sie wäre bereits da. Schade! Und dann sehe ich den Brief, den wohl Ma auf den Wohnzimmertisch gelegt hat. Ich nehme und öffne ihn - und kann mir das Lachen kaum verkneifen.
Meike-Marie Meyer-Mayr, die Klassenlehrerin von Jill lädt zum Elternabend. Was die Leute sich freiwillig doch für Namen geben. Wenn man das hört, ist es ja schon merkwürdig genug - Meier-Meier, aber geschrieben: Meyer-Mayr, das ist doch irre komisch.
Wie wir wohl als Doppelname heißen würden? Glücklicherweise stand das bei unserer virtuellen Hochzeit nicht zur Debatte. Denn in Chiòcciolas Welt haben die Zahlensysteme als Namen. Ich will doch durch die Hochzeit nicht zur Nummer werden!

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Rìccio steht plötzlich in der Tür und schnaubt. Das hatte ich nun wirklich nicht erwartet. Chiòcciola war Rìccio als wir uns das erste Mal geküsst haben. Damals war Chiòcciola abwechselnd Junge und Mädchen. Mein Gott, wie lange ist das schon her. Seither war Chiòcciola eigentlich immer eine Frau.
Das kann man von Rìccio nun wirklich nicht sagen. Älter ist er geworden. Das braune lockige Haar etwas gelichtet. Geheimratsecken. Dreitagebart. Steht ihm. Sieht eigentlich ganz gut aus. Auch wenn er entsetzlich wütend ist.
“Und ich habe gedacht, die haben keine Autos. Was bin ich doch blöd. Nein, alles nur, weil ich eine Frau bin! Denen habe ich es aber gezeigt. Mit mir macht man das nicht!”
Gut, zumindest ist es besser, wenn er redet, als nur schnaubend in der Tür zu stehen. Auch wenn ich noch überhaupt keine Vorstellung davon habe, was bei der Maghreb-Delegation vorgefallen sein mag. Aber vielleicht kann ich ihm ja noch ein paar weitere Sätze zwischen den wütenden Atemstößen entlocken. Der Abend verläuft zumindest anders als erwartet.
“Als ich gesagt habe, dass ich nach Hause fahren will, haben meine Gesprächspartner mir gesagt, dass man das im arabischen nicht kann.”
Ich sehe Rìccio verständnislos an.
“Ich hatte natürlich gedacht, die haben gar keine Autos! Aber das war falsch. Die meinten lediglich, dass es in ihrem Sprachdialekt keine grammatisch korrekte Form dafür gibt, dass Frauen Autos fahren.”
Ich bin nun immer noch nicht wirklich schlauer.
“Das war mir eigentlich auch ziemlich egal. Ich wollte nicht über Diskriminierung durch Sprache diskutieren oder deren Weltanschauung verändern, ich war müde und wollte nach Hause.”
Irgendein Detail scheint mir noch zu fehlen.
“Dann stand einer aus der Delegation auf und meinte, er könne es nicht zulassen, dass deutsche Männer ihre Frauen so behandelten, dass sie selber fahren müssten. Natürlich würde er mich nach Hause fahren. Meinen Einwand, dass mein Auto in der Tiefgarage vom Hotel auf mich warte, ignorierte er völlig.
Dann trat er hinter mich, fasste mir von hinten an den Busen und grinste anzüglich. Bei der Gelegenheit könne er mir noch andere Dinge aufzeigen, wo deutsche Männer ihre Frauen nicht hinreichend respektierten.”
Ich schlucke.
“Als er dann seine Hüfte an mich presste, ist es passiert. Ich habe instinktiv reagiert und ihm eindeutig klar gemacht, wenn es zu gemeinsamen Nachwuchs kommen solle, woran derzeit gar kein Bedarf bestünde, dann sei er sicherlich derjenige, der in der Geschlechtsanpassung die Rolle übernehmen würde, den Nachwuchs auszutragen.”
Ich sehe Rìccio mit großen Augen an. Sein Ärger ist inzwischen offensichtlich zum größten Teil verraucht.
“Du kennst ja das Geflacker. Und ich muss sagen, du hast es weitaus besser verkraftet als dieser Nord-West-Afrikaner, der sich für einen Mann hielt. Seine Augen hättest du sehen sollen, als ich im Ergebnis als Rìccio vor ihm stand. Ich glaube, so schnell fasst der keiner Frau mehr ungefragt an den Busen.
Leider hat die Abstimmung ja keinen Einfluss auf seine Gestalt. In meiner Welt, hätte er als Ergebnis einer erzwungenen Geschlechtsabstimmung ja auch seine Gestalt verändert. Das hätte den Effekt bei ihm sicherlich noch gesteigert. Und...