Architekturtheorie - Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart

von: Dietrich Erben

Verlag C.H.Beck, 2017

ISBN: 9783406714320 , 128 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 7,49 EUR

Mehr zum Inhalt

Architekturtheorie - Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart


 

II. Vitruv und die Anfänge der Architekturtheorie


Geschichten vom Beginn des Bauens


Ohne Vitruv wäre die Geschichte der Architekturtheorie anders verlaufen. Selbst wenn man jedweder historischen Spekulation skeptisch gegenüber steht, gibt es an dieser Feststellung keinen Zweifel, denn zu übermächtig ist die immerhin seit zwei Jahrtausenden andauernde Auseinandersetzung mit den Zehn Büchern über die Architektur. Das Buch galt bis ins 19. Jahrhundert als unumstößliche Bezugsinstanz der Architekturlehre, wobei sich Verehrung und Schelte durchaus die Waage hielten. De architectura ist nicht nur ein grundlegender, sondern auch ein äußerst gründlicher Architekturtraktat. Das Werk ist inhaltlich als enzyklopädisches Handbuch organisiert, das den Anspruch universeller Bildung sowohl der Architekten- als auch der Bauherrnschaft und eines weiteren Benutzerkreises erhebt. Dargestellt wird das Tätigkeitsfeld des Architekten in der gesamten Breite der Fachgebiete vom Hochbau (aedificatio) bis zum Maschinen- und Wasserbau unter den vielfältigsten technischen, sozialen und ästhetischen Bedingungen. Dies lässt bereits die schematische Übersicht über die zehn Bücher (Kapitel) ermessen: I. Ausbildung des Architekten, ästhetische Grundbegriffe; II. Entstehung der Architektur; Baumaterial und Bautechnik; III.–IV. Tempelbau; V. Öffentliche Profanbauten; VI.–VII. Privathäuser; VIII. Wasserbau; IX. Astronomie und Zeitmessung; X. Mechanik und Maschinenbau.

Der Autor ist nur nach seinem lateinischen Gentilnamen Vitruvius bekannt, und alles, was wir von ihm wissen, erfahren wir ausschließlich aus seinem eigenen Werk. Vitruv war als – nicht sonderlich erfolgreicher – Architekt, Wasserbauingenieur und Waffenbauer unter Caesar und Kaiser Augustus tätig und vollendete die De architectura libri decem nach gut zehnjähriger Arbeitszeit um 23 v. Chr. Verstreut über das ganze Werk sind weitere autobiographische Angaben, so etwa zum Ausbildungsweg des Verfassers; in der Vorrede zum zweiten Buch sagt er über sich selbst, er sei «alt, klein und hässlich».

Nach dem, was wir heute darüber wissen, liegen die Anfänge der Architekturtheorie im Wesentlichen in Baubeschreibungen und Kommentaren zu einzelnen Bauwerken. Zu dieser Textform der Ekphrasis gehören z.B. die ausführlichen Beschreibungen des Salomonischen Tempelbezirks in Jerusalem im Alten Testament (u.a. 1 Könige 6–8; 2 Chronik 2–4; Ezechiel 40–44). Nach solchen vereinzelten Lobreden auf berühmte Gebäude sind es erst Vitruvs Zehn Bücher, mit denen sich in der europäischen Geistesgeschichte das systematische Nachdenken über Architektur entfaltet. In Vitruvs Werk wird zudem der Anfang des Bauens erstmals und fortwirkend für alle Zeiten zum Thema gemacht. Die kanonische Verbindlichkeit dieses Sujets zeigt sich, wenn heute vor allem im Rahmen der Architekturanthropologie nach Antworten auf einige grundlegende Fragen gesucht wird: Warum baut der Mensch? Was sagt Architektur über ihn als Geschöpf von Natur und Kultur aus? Was müssen wir unter sich wandelnden physiologischen, psychischen und sozialhistorischen Bedingungen unter Architektur als Mittel der Adaption des Menschen an die jeweilige Umwelt verstehen? Die bereits von Vitruv gegebenen Antworten haben sich nachdrücklich in den Geschichtsfundus der Architektur eingeschrieben, was ohne Zweifel damit zu erklären ist, dass sie so reichhaltig ausgefallen sind. Vitruv verknüpft systematische und anekdotische, strukturelle und individuelle Motive zu einer vielstimmigen, keineswegs widerspruchsfreien Gründungsgeschichte des Bauens.

Für ihn steht die Fähigkeit des Menschen, sich Hütten zu errichten, erst am Ende einer längeren Entwicklung der Urgesellschaften (II,1). Anfänglich habe der kontrollierte Umgang mit dem Feuer die Bildung von menschlichen Gruppen befördert, die sich an den Feuerstellen versammelten. Dann formte sich innerhalb dieser Gemeinschaften aus den gestikulierenden Gebärden allmählich die Sprache. Wenn Vitruv die Entstehung der Architektur zeitlich erst danach ansetzt, so macht er damit klar, dass für ihn das Bauen nur als organisierte, Verständigung voraussetzende Gemeinschaftsleistung möglich ist. Aber im Grunde dient ihm dieses Konstrukt der Evolution nur als chronologischer Rahmen, in dem er eine geradezu poetische Schilderung der Anfangsgründe des Bauens gibt: So errichteten die einen, inspiriert durch die Betrachtung der «Herrlichkeit des Weltalls und der Gestirne» und befähigt durch ihre handwerklichen Fertigkeiten, Laubhütten, während andere Höhlen gruben und wieder andere die «Nester der Schwalben nachahmten und aus Lehm und Reisig Behausungen herstellten, um dort unterzuschlüpfen». Und Vitruv fährt fort:

«Dann beobachteten sie die Behausungen der anderen, fügten durch eigenes Nachdenken Neuerungen hinzu und schufen so von Tag zu Tag bessere Arten von Hütten. Da aber die Menschen von Natur zur Nachahmung geneigt und gelehrig waren, zeigten sie, stolz auf ihre Erfindungen, täglich der eine dem anderen, wie sie ihre Bauten durchführten. So übten sie im Wetteifer ihre Erfindungskraft und wurden von Tag zu Tag zu Menschen mit besserem Urteil.»

Der in seiner minutiösen Vergegenwärtigung fast naiv anmutende Ton sollte nicht über die Hauptaussagen hinwegsehen lassen, denn Vitruv spickt seine Schilderung mit einigen Grundbegriffen der antiken Ästhetik und Philosophie, wie sie zu seiner Zeit vor allem von Horaz und Cicero formuliert wurden. Demnach beruht Architektur auf der Beobachtung (observatio) der Natur und der Kulturerzeugnisse, wobei Vitruv auch schon kulturelle Differenzen verzeichnet, indem er von Anfang an unterschiedliche regionale Bauweisen annimmt. Sodann ist die Voraussetzung aller Erfindung (inventio) auch beim Bauen die Begabung (ingenium). Darüber hinaus werden durch eigenes Nachdenken (cogitatio) und gute Urteilsfähigkeit (iudicium) Verbesserungen ermöglicht. Alles in allem bleiben jedoch menschlicher Schöpfergeist und Fortschritt stets der Naturnachahmung untergeordnet. Vitruv vertritt eine rationale Natursicht, die sich nachweislich dem großen Lehrgedicht De rerum natura des Lukrez verdankt. Demgemäß ist die Natur bei Vitruv gerade nicht eine ausschließlich bedrohliche Außenwelt, gegen die es der Schutzhütten der Kultur bedarf, sondern ganz im Gegenteil deren Inspirationsquelle. Wie alle anderen Künste ist auch die Architektur ein Produkt der Naturnachahmung (imitatio), sie ist eine mimetische Kunst.

Dieser Gedanke liegt dem, wenn man so will, Entwurfskonzept der sogenannten Urhütte zu Grunde. Deren Bauprinzip ist denkbar einfach: Es werden vier Gabelhölzer im Geviert aufgestellt, durch Queräste miteinander verbunden und mit Dachhölzern überspannt; die Wand- und Dachflächen werden mit Reisiggeflecht geschlossen. Die Idee der Urhütte wurde in neuzeitlichen Traktaten geradezu euphorisch aufgenommen und bildlich variantenreich vergegenwärtigt (Abb. 2). In ihr steckt eine immens wirkmächtige doppelte Behauptung: einmal, dass Architektur seit ihren Anfängen ein tektonisches, auf Tragen und Lasten beruhendes System ist, bei dem die Umhüllung sekundär ist; und sodann, dass diese Tektonik des primitiven Holzbaus das Modell für die weitaus komplexeren Bauweisen des Steinbaus darstellt.

2  – Darstellung der Urhütte. François Blondel, Cours d’architecture etc., 1683.

Ganz offenkundig will Vitruv mit seiner Gründungserzählung darauf hinaus, die Architektur über die Sphäre des Handwerklichen hinaus- und sie zur Kunst (technē) emporzuheben. Er betont dies zusätzlich, indem er dem Glauben eine Absage erteilt, Architektur sei aus der Not des Menschen geboren. Hier schließt sich Vitruv einer Grundidee der zu seiner Zeit einflussreichen epikureischen Philosophie an, wonach die Künste nicht aus der schieren Notwendigkeit (necessitas) hervorgebracht wurden, sondern aus dem Nachdenken des freien Geistes. Erst in diesem grundsätzlichen Kontext gewinnt die Anekdote von der Erfindung des korinthischen Kapitells (IV,20), die ebenso wie die Vitruv’sche Urhütte notorische Berühmtheit erlangte, ihren Stellenwert (Abb. 3). Gemäß dieser Anekdote handelt es sich beim korinthischen Kapitell um eine Erfindung des Bildhauers Kallimachos, der am Grab eines Mädchens den mit Spielzeug gefüllten, mit einer Steinplatte abgedeckten und von einer Akanthuspflanze umrankten geflochtenen Korb abgezeichnet habe. Dieses von Kultur und Natur hervorgebrachte Gebilde ...