Tarte Tatin und Rébellion

von: Kiara Borini

epubli, 2017

ISBN: 9783745001587 , 120 Seiten

4. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 4,99 EUR

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Tarte Tatin und Rébellion


 

 

GEBURTSTAG


Das Schnarchen von Maximilian weckte Tatin schon vor dem Weckerklingeln. Maximilian lag zugedeckt auf dem Rücken, die Pfoten auf der Bettdecke und schnarchte laut und vernehmlich. Mit einem Mann wäre es auch nicht anders?!, überlegte Tatin. Dann sprang sie aus dem Bett und ging ins Badezimmer, um sich zu kultivieren.
Maximilian wurde wach, als sie das Dosenfutter für ihn in der Mikrowelle temperiert hatte. Langsam kam er die Treppe herunter getrottet.
Tatin gönnte sich nur ein französisches Frühstück: Kaffee schwarz und ein Hörnchen. Denn sie fand die große Tasche einfach nicht, in der sie gewöhnlich ihre Tartes transportierte. Als sie dann die Suche aufgab, beschloss sie, die Form einfach in die Hand zu nehmen, denn sie war inzwischen spät dran. Sie streichelte Maximilian noch einmal, der bereits auf dem Sofa Platz genommen hatte, kontrollierte mehrfach alle Schalter an Kaffeemaschine und Herd und hastete zu ihrem Pluriel.f

Auf den Stufen, die zum Versicherungsgebäude führten, kam ihr Dr. Horst Hübscher entgegen. Er leitete die Abteilung Versicherungsmathematik. Die Formeln, die er mit seinem Team entwickelte, entschieden darüber, ob der Pluriel im nächsten Jahr in der Versicherung teurer wurde, oder nicht. Ob die Versicherung glaubte, ein Leben zu einem vorgerückten Alter noch versichern zu können oder ob sie das Risiko eingehen wollte, ein Haus in einer bestimmten Gegend gegen Hochwasser zu versichern.
Dr. Hübscher, in der IT mit dem Spitznamen Der hübsche Horst versehen, war ohne ersichtliche Anstrengungen attraktiv. Und Eric, der meinte, es genauer zu wissen, formulierte mit einer Zweideutigkeit, die kaum Widerspruch zuließ, dass er zu attraktiv für Frauen sei.
Tatin hatte mit Herrn Dr. Hübscher bisher nur einmal beruflichen Kontakt gehabt, denn seine Computerkenntnisse waren sehr profund.
Einmal jedoch rief er an, weil er im Internet ein Zusatzprogramm entdeckt hatte, das es gestattete, vierdimensionale, asymmetrische Matrizen in der Tabellenkalkulation umzuformen, indem bei der Berechnung der sehr viel schnellere Prozessor in der Grafikkarte genutzt wurde, der dem Hauptprozessor des PCs inzwischen um Größenordnungen überlegen war.
Ob es Kompatibilitätsprobleme mit der Konfiguration des Hauses geben würde, wollte er von ihr wissen. Tatin hatte zunächst ob der Komplexität der Frage geschluckt, dann aber beschlossen, dass sie das Problem mit Hilfe ihrer Kollegen lösen wollte, obwohl sie genau genommen gar nicht zuständig war. Solche Fragen waren für den Helpdesk einfach viel zu speziell. Sie hatte ihre Kollegen motiviert. Zu siebt hatten sie schließlich an der Problematik gesessen, dann aber doch eine für Dr. Hübscher hilfreiche Lösung gefunden, die sogar seine Erwartungen übertraf.
Tatin war abgelenkt, als sie die Stufen hoch hastete, denn sie suchte in ihrer großen Handtasche nach ihrer Sicherheitskarte, während sie in der anderen die Form mit der Tarte Tatin balancierte.
Dr. Hübscher war an diesem Tag sehr früh ins Büro gekommen, nun aber auf dem Weg zu einem externen Termin, da er einen Kollegen vertreten musste und war also auf dem Weg hinaus aus dem Gebäude, während er im Gehen schnell noch seine eMails auf dem Smartphone checkte. So rannten sie am frühen Morgen auf den Stufen des Versicherungsgebäudes ineinander. Laut klirrend landete die rote Keramikform mit der Tarte auf den Stufen und zerschellte.
“Die schöne Tatin”, meinte Dr. Hübscher angesichts der Tarte, die unrettbar auf dem Boden lag. “Der hübsche Horst”, entgegnete Tatin etwas irritiert.
Dr. Hübscher sah sie nun ebenfalls irritiert an und formulierte seinen Eingangssatz um.
“Die Tatin-Schwestern haben diese französische Spezialität vor über hundert Jahren ja anlässlich eines eigenen Unfalls kreiert, weil sie zuvor einen Apfelkuchen fallen ließen und dann den Belag, der noch gerettet werden konnte, noch einmal mit Teig obendrauf gebacken haben. So geht zumindest die Legende.
Aber ich fürchte, hier ist wirklich nichts mehr zu retten. Bei all den Scherben dazwischen. Das ist schade, sie sieht so aus, als ob sie lecker gewesen wäre.”
Tatin schluckte, als sie merkte, dass die Ansprache nicht ihr galt, sondern ihrem Kuchen. Sie begann die Scherben der roten Keramikform einzusammeln.
“Lamotte-Beuvron, die Heimat der Tatin-Schwestern, ist übrigens sehr schön um diese Jahreszeit. Waren Sie schon mal da, Frau Bergen? Sie sind doch auch so frankophil, wie ich gehört habe”, meinte Dr. Hübscher, ging in die Hocke und half ihr mit den Scherben.
Tatin überlegte und verneinte.
“Na, zumindest war es eine stürmische Art, meine persönliche Bekanntschaft zu machen. Lernen sie Männer immer auf diese Art kennen?”, versuchte Dr. Hübscher das Gespräch in Gang zu bringen, während sie beide bemüht waren, diese Kuchenmisere auf der Eingangstreppe möglichst so zu beseitigen, dass nicht noch jemand darauf ausrutschte und zu Schaden käme.
“Nein, eigentlich nie! Und wenn ich auf diese Weise mal jemanden kennenlerne, ist er homosexuell”, entfuhr es Tatin zu ihrer eigenen, peinlichen Überraschung.
Dr. Hübscher schluckte. Er fasste sich aber relativ schnell wieder.
“Denken Sie nicht, man kann auch einfach soziale Kontakte knüpfen, ohne vorher die sexuelle Orientierung zu thematisieren? Und sollte das nicht im Übrigen eigentlich Privatsache sein?”, meinte er leicht amüsiert.
Tatin war es natürlich bereits in dem Moment, in dem ihr der Satz über die Lippen kam, schrecklich peinlich, und ihr Gesicht nahm die feuerrote Farbe der Backkeramik an, deren Scherben sie weiterhin zusammen mit Dr. Hübscher einsammelte.
“Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen so bodennah und fast auf den Knien zu ihrem Geburtstag gratuliere”, meinte er zu der völlig verdutzten Tatin.
“Ja, wir Versicherungsmathematiker sind die wahren Nerds hier im Haus. Wenn ich mit Kollegen zu tun habe, dann reduziere ich sie immer gleich auf deren Daten. Und nachdem wir zusammen das Problem mit den vierdimensionalen Matrizen gelöst hatten, habe ich mir ihren Namen zusammen mit ihrem Geburtsdatum gemerkt.”
Sie sah ihn an und merkte, dass ihr Gesicht noch immer fürchterlich rot sein musste.
“Ich finde das Geburtsdatum auch viel unverfänglicher für die erste Kontaktaufnahme, als die sexuelle Orientierung, meinen sie nicht?”
Er holte einen Plastikbeutel aus seiner Aktentasche und begann die Scherben und die Kuchenreste darin zu verstauen.
“Sie sind Sternzeichen Fische nicht wahr? Ein Wasserzeichen, also. Da ist so ein Datum kurz vor einer großen Zäsur im Leben, lediglich ein Wendepunkt. Aber meist ein anderer Wendepunkt als man fürchtet. Denn bei Fischen braucht es in der Regel im Leben ein wenig Zeit mit der Orientierung. Also genießen sie den Tag und seien sie nicht zu frustriert über die Tarte. Bei den Fischen beginnt nämlich jetzt erst der richtig gute Lebensabschnitt. Die ersten Jahrzehnte sind bei den Fischen nur zur Orientierung. Wenn sie dann eine Richtung haben, schwimmen sie los auf das Ziel, und sie erreichen es auch.”
Er bot sich an, die Tüte auf dem Weg zu entsorgen und verabschiedete sich von ihr. Mit noch immer hochrotem Kopf betrat Tatin das Gebäude der Versicherung.

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Eric war nicht da, sondern hatte beschlossen, zum Facharzt zu gehen. Der Heiserkeit vom Vortag kam ein Schnupfen hinzu und die heraufziehende Kopfgrippe habe sich in der Nacht als bedrohlicher erwiesen und bedürfe einer medizinischen Abklärung. So seine SMS, die Tatin noch im Fahrstuhl erreichte.
Auf ihrem Schreibtisch fand sie von ihren Kollegen eine Haftnotiz.
Schade um den schönen Kuchen. Wir hatten uns alle so darauf gefreut!
Dann lag da noch ein unscheinbarer Bund mit Narzissen, die wohl noch jemand, während sie die Scherben eingesammelt hatte, schnell vom Supermarkt gegenüber besorgt hatte.
Sie stellte die Narzissen in die Vase; schließlich konnten die Blumen nichts für ihre schlechte Laune.
Ludgar kam aus seinem Büro. Er war der Team-Leiter des Bereichs Helpdesk und steuerte haarscharf auf seinen bevorstehenden Ruhestand zu. Dennoch war er bemüht, den Eindruck zu erwecken, als läge die Mid-Life-Crisis noch vor ihm. Aus dem für die Jahreszeit viel zu kurzärmeligen Hemd ragten die irrsinnig behaarten Unterarme heraus, die einem Grizzly zur Ehre gereicht hätten. Er stemmte sie in seine Hüften, blickte sich im Raum um und meinte dann:
“Eric ist heute nicht hier?”
“Nein, er ist zum Facharzt gegangen”, antwortete Tatin.
“Ja, so eine Rückenproblematik kann sehr langwierig sein. Da muss man wirklich aufpassen, dass man das nicht verschleppt. Da hilft nur zurücktreten und sich schonen.”
“Eigentlich ist er wohl erkältet”, korrigierte Tatin.
“Da siehst du, wohin das führt, wenn man zu engagiert ist und vermeintlich verantwortungsbewusst die Dinge nicht auskuriert. Ich habe ihm immer gesagt, tritt kürzer. Du bist auch in einem Alter wo sich das irgendwann rächt.”
Tatin schluckte ihre Antwort hinunter.
“Ich weiß, dass das nicht deine Zuständigkeit ist, aber das duldet jetzt keinen Aufschub. Ich brauche bis heute Abend eine Machbarkeitsstudie über unser Collaboration-Server-Projekt.”
Damit nahm er einen Stoß Akten von Erics Schreibtisch und legte ihn auf Tatins Schreibtisch.
“Ich bin heute bis 17:00 Uhr im Büro. Es ist wohl machbar, ein paar Seiten bis dahin zusammenzufassen.”
“Aber ich war zum Thema Collaboration-Server in keinem der Meetings. Und Eric hat schließlich extra Seminare zu dem Thema besucht...”, versuchte Tatin sich aus der Schlinge zu winden.
“Papperlapapp! Eric wird das schon minutiös vorbereitet haben. Er wusste ja, dass heute Abgabetermin ist. Die Antwort ist also irgendwo da...