Palast aus Staub und Sand

von: Haroon Gordon

hockebooks: e-book first, 2016

ISBN: 9783957511577 , 312 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 7,99 EUR

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Palast aus Staub und Sand


 

Kapitel 8


Das Telefonat verlief verblüffend anders, als Ella es sich vorgestellt hatte. Drei Stunden waren sie gewandert, bis einer von ihnen endlich ein Handysignal empfing. Und dann erreichten sie Onkel Shawn nicht einmal, sodass sie gezwungen waren, eine Nachricht mit der Bitte um sofortigen Rückruf auf seinem Anrufbeantworter zu hinterlassen. Wie unbefriedigend. Zum Warten setzten sie sich auf einen großen Fels am Wegesrand und redeten über lapidare Dinge. Ella achtete dabei auf Körperabstand, doch Jason nahm immer wieder und wie selbstverständlich ihre Hand und spielte gedankenverloren mit ihren Fingern. So, wie er es schon seit Jahren tat.

Ella ließ diese spielerische Geste seiner Nähe so steif werden, dass sie nach einer Weile Nackenschmerzen bekam, was er wiederum bemerkte. Er zog sie zu sich herüber, setzte sich hinter sie und begann, ihren Nacken zu massieren. Ella stockte der Atem. Wie sanft sich seine Hände anfühlten. Aber genießen konnte sie diese Situation nicht im Geringsten. Im Augenblick war sie einfach nur überfordert, und es nagte die Frage an ihr, ob sie in Jason tatsächlich schon seit Langem verliebt war und sich so effektiv davor geschützt hatte, dass sogar sie selbst auf ihre eigene Leugnung hereingefallen war.

Was sie zu der nächsten Frage brachte, wovor sie sich eigentlich schützen musste. War es die Angst, abgewiesen zu werden? War es die Sorge, nicht genügen zu können? Dem Vergleich nicht standzuhalten? Als Liebhaberin, als Gefährtin? War es das Unbekannte, das Berührtwerden, die Öffnung, die Schutzlosigkeit? Ella wusste nicht einmal, wo sie anfangen sollte zu suchen.

Warum in aller Welt gab es eigentlich kein Schulfach über das Lieben-lernen? Warum waren Geometrie, Geschichte und Erdkunde für die Entwicklung eines Menschenwesens wichtig, während man gleichzeitig hilflos, allein und tollpatschig wie ein Bärenjunges durch ein Labyrinth beängstigender Gefühle irren musste, ohne den kleinsten Kompass in der Hand? Warum gab es stattdessen Sexualkundeunterricht? Als ob damit das Wesen der Liebe erklärt wäre. Oder ging es tatsächlich nur darum, junge Menschen vor Schwangerschaft und Infektionen zu schützen? Ella seufzte. Sie hatte von niemandem Hilfe zu erwarten. Kein besonders ermutigender Gedanke. Ihr fiel ein, wie sie sich bei ihren ersten Intimitäten gefühlt hatte. Damals mit Pitt. Es war furchtbar gewesen. Ohne Zärtlichkeiten waren sie durch einen Nebel aus Alkohol und Konventionen gestreift. Sie hatte sich in dieser Nacht eingeredet, den Sex ebenso zu wollen wie er, doch sie tat dann nicht mehr, als sich zu überwinden. Weil sie genügen wollte, und weil sie sich nicht traute, ihm Einhalt zu gebieten, um bloß nicht den Makel der Prüden aufgedrückt zu bekommen. Und so war sie nach kaum einer Viertelstunde in den Kreis der Hinter-sich-Bringerinnen aufgenommen worden.

Überwindung war es, womit sie Liebe in Verbindung brachte. Was für ein Dilemma! Da manifestierten sich so tiefgehende Gefühle für Jason, und seit sie sich derer bewusst war, ging es ihr elender denn je. Wieso erfreute man sich also am Zustand der Verliebtheit? Es fühlte sich schließlich nur schrecklich an.

Sie überlegte, ob sie Jason einen Hinweis geben sollte. Ein koketter Flirt, ein irisierender Kommentar oder ein Augenaufschlag vielleicht. Lächerlich. Sie konnte das nicht einmal und überhaupt – niemals würde sich Jason für sie interessieren. Sie war alles andere als seine Kragenweite. Clarissa, so kalt und egozentrisch sie sein mochte, sie war außerdem hochgewachsen, hübsch, begehrt und selbstbewusst. Aber sie selbst? Es musste schließlich einen Grund dafür geben, dass Jason ihr Hände und Nacken streicheln konnte, ohne über sie herfallen zu wollen. Ella wäre keine gleichwertige Partnerin an seiner Seite, und das wusste auch Jason. Ella war ungefährlich.

Aber gab es nicht auch für Jason das tiefe Bedürfnis, mehr als nur wahrgenommen zu werden? Und wer wäre da besser geeignet als sie, seine innigste Freundin?

Bei ihr war es einfach. Die meiste Zeit in ihrem Leben war sie froh gewesen, wenn sie nicht angefasst wurde, und so hatte sich zwar eine Sehnsucht danach entwickelt, gehalten zu werden, doch der Trieb, sich mit einem Mann zu vereinen, schien irgendwo in ihrem tiefsten Innern verborgen zu sein. Und sie vermisste nichts. Bis jetzt zumindest.

Wie war das eigentlich bei den anderen? Sie erinnerte sich daran, dass in der Vergangenheit sowohl Lester, Simon und sogar Sam immer viele Freundinnen gehabt hatten. Sicher waren auch einige amouröse Abenteuer dabei gewesen. Viel hatten sie nie erzählt, aber so etwas sprach sich in einer kleinen australischen Schule natürlich schnell herum.

Und hier? Gab es hier mehr als nur – Masturbation im Dunkeln? Das bloße Wort war ihr unangenehm. Sie konnte es sich nicht vorstellen und wollte auch nicht wirklich darüber nachdenken. Aber ihre Gedanken – einmal entfesselt – hatten eigene Pläne. Wie hielt es Jason? Er war ein körperbetonter Mann, wollte er die nächsten Jahre hier in Afrika im Zölibat verbringen?

Ella dämmerte, dass weit und breit keine Konkurrenz am Horizont war. Und was machte sie daraus? Saß hier, unscheinbar wie der graue Fels, auf dem sie hockte, und hielt geschwisterlich Händchen. Sie nahm sich vor, sich nach ihrer Rückkehr Malia anzuvertrauen und um Rat zu bitten, wie sie sich künftig vorteilhafter kleiden konnte. Femininer. Aufregender. Erwachsener. Dafür benötigte sie Hilfe, und Malia machte den Eindruck, erfahren in Liebesdingen zu sein.

Aber es gab noch weitere Sorgen. Was täte sie, wenn Jason sie plötzlich küsste? Was, wenn sie selbst die Gelegenheit dazu bekäme, ihn zu küssen? Eine ungeheuerliche Vorstellung! Ach was, Jason käme sicher nicht einmal auf die Idee und sie erst recht nicht. Spontan schon gar nicht. Ella seufzte ein weiteres Mal, doch bevor Jason sie fragen konnte, was sie beschäftigte, riss das Telefon beide aus ihren Gedanken. Onkel Shawn rief zurück!

Zwar hatten sie sich auf dem Weg schon Gedanken über den bestmöglichen Verlauf des Telefonats gemacht, doch Onkel Shawn folgte leider überhaupt nicht ihrem Skript. Er löcherte Ella mit allerlei Fragen über ihr Wohlbefinden, während sie krampfhaft versuchte, das Gespräch auf Little Hearts zu lenken.

Als sie endlich davon erzählt hatte und den Hörer an Jason weiterreichen wollte, wurde Onkel Shawn ungewöhnlich einsilbig. Er sah offenbar keine Notwendigkeit, mit Jason zu reden. Er stellte wenige Fragen und bekundete dann, dass er zwei, drei Tage nachdenken wolle, ob und wie er am besten helfen könne. Dann bat er um Rückruf am folgenden Donnerstag und legte auf.

Die folgenden drei Tage in Chila schlichen nur so vor sich hin, und Ella verspürte eine andauernde, innere Unruhe. In den Nächten schlief sie schlecht. Tausend ungeordnete Gedanken ergriffen Besitz von ihrem dünnen Schlaf. Little Hearts vor dem Aus. Das Ende des Paradieses. Die Gefühle für Jason. Onkel Shawns Entscheidung. Ab dem Moment, in dem Ella die Augen schloss, torkelte sie willenlos durch einen halbgaren Schlaf, nach dem sich am Morgen das Gefühl einstellte, er habe gar nicht stattgefunden.

Endlich brach der dritte Tag an. Nebel hing tief in den Tälern und widerstand hartnäckig der klärenden Sonne. Die Luft war klamm und grau. Jason und Ella wanderten wieder los, deutlich stiller als beim letzten Mal. Ella hingen die unruhigen Nächte in den Knochen, während Jason einen nervösen und fahrigen Eindruck machte. Trotz seiner Vorbehalte war offenbar auch er mittlerweile zu dem Schluss gekommen, dass Onkel Shawn die einzige Rettung war.

Der war pünktlich telefonisch zur Stelle und übernahm sofort die Gesprächsführung. Ella hatte ihr Handy auf den Boden gelegt, den Lautsprecher aktiviert, und nun saßen sie und Jason im Schneidersitz davor und hörten dem Onkel zu. Er sprach sehr klar und fasste zunächst zusammen, wie er das Problem von Little Hearts verstand. Dann kam er zum entscheidenden Punkt: »Wenn ich das richtig verstehe, dann ist diese enorme Summe Geld pure Schikane, die euch für eure Weigerung, jemanden zu bestechen, bestrafen soll. Das bedeutet allerdings auch, dass dieses Geld nicht besonders sicher sein dürfte, wenn ihr es denn auftreibt.«

Er machte eine kurze Pause, aber nachdem weder Ella noch Jason darauf zu antworten wussten, fuhr er fort: »Was ich nicht tun werde, ist, euch das Geld zu leihen oder zu spenden. Ich kann von hier aus nicht beurteilen, wie gut und sicher es in Malawi aufgehoben ist. Und ich gebe kein Geld aus der Hand, bei dem ich nicht das Gefühl habe, dass es wenigstens halbwegs nachhaltig wäre. Sorry.«

Ella war maßlos enttäuscht. Das Gefühl von Schuld stieg empor, da es schließlich ihr Onkel war, der ihre Idee scheitern ließ. Hatte sie selbst wirklich daran geglaubt, zur Retterin von Little Hearts zu avancieren? So fühlte sich die soeben geplatzte Hoffnung jedenfalls nicht an. Es schmeckte eher nach einem: »Im Grunde habe ich es gewusst.«

»Ich glaube jedoch, dass ihr euch selbst helfen könnt«, fuhr der Onkel fort. »Im Grunde gibt es zwei Optionen. Entweder ihr denkt noch einmal darüber nach, ob eine kleine private Zuwendung an den zuständigen Beamten nicht doch sinnvoll wäre. Immerhin könnt ihr dann einer Menge Kindern helfen. Wenn das System dort so ist, dann heult mit den Wölfen. Der Beamte wird auch seinen Grund haben, warum er auf Korruption angewiesen ist. Wahrscheinlich muss er eben selbst einen Haufen Mäuler stopfen, und euch käme das sicher günstiger, als die Sicherheit zu hinterlegen.«

Während dieser Worte schaute Jason Ella vorwurfsvoll an und sie wusste sofort, was er dachte. Das war genau die Art des...