Griff nach dem Ich? - Ethische Kriterien für die medizinische Intervention in das menschliche Gehirn

von: Matthias C. Schmidt

Walter de Gruyter GmbH & Co.KG, 2008

ISBN: 9783110210590 , 390 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 210,00 EUR

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Griff nach dem Ich? - Ethische Kriterien für die medizinische Intervention in das menschliche Gehirn


 

5 Generelle ethische Kriterien: Medizinethik (S. 81-82)

Für die Behandlung der dargelegten ethischen Problematik liegt es nahe, die allgemeinen ethischen Kriterien und Prinzipien zu untersuchen, die für medizinisches Handeln maßgeblich sind, um zu prüfen, ob diese für die ethische Beurteilung der spezifischen Problematik der Eingriffe in das menschliche Gehirn hinreichend sind. Für diese Untersuchung möchte ich mich auf die zwei wesentlichen Ansätze der Regelethik im Umfeld medizinethischer Problematik beziehen und beschränken, um an ihnen paradigmatisch Leistungsfähigkeit und Grenzen der bekannten allgemeinen Prinzipien aufzuzeigen.

Der eine ist angloamerikanischer Provenienz und ist als „Four-principle-way“ bekannt geworden. Der andere steht in kontinentaleuropäischer Tradition, nimmt seinen Ausgang bei verfassungsimplementierten Normen und verweist auf den Gedanken einer unverletzlichen und unverlierbaren Menschenwürde.1

5.1 Angloamerikanische Regelethik – Der principlism von Beauchamp und Childress

Die im allgemeinen Bewußtsein auf den Nürnberger Kodex (1947) zurückgehende zentrale Forderung moderner Medizinethik besagt, daß ärztliches Handeln am Patienten nur dann erlaubt ist, wenn der Patient über Ziel und Art dieses Handelns informiert wird und seine freie Zustimmung gibt.

Die aus der Mißbrauchserfahrung der Medizin des sog. III. Reiches als Kriterium entwickelte Selbstbestimmung des Patienten meint hier also ein Recht auf Information, die ja erst Entscheidungskompetenz vermittelt, und dann Zustimmung oder Ablehnung gegenüber diagnostischen, therapeutischen oder der Forschung dienenden Eingriffen aller Art. Diese informed consent genannte Figur ist für die Arzt-Patient-Interaktion in den letzten Jahrzehnten prägend geworden.

In dieser Orientierung haben Beauchamp und Childress vier Prinzipien als grundlegend aufgestellt: autonomy bzw. respect for person (Selbstbestimmung bzw. Achtung der Person), nonmaleficence (Schadenvermeidung), beneficence (Fürsorge) und justice (Gerechtigkeit). Auf diesen, später als principlism bezeichneten medizinethischen Ansatz und die in ihm präferierten Kriterien soll im folgenden näher eingegangen werden. Als Quelle dient dabei das Werk Principles of Biomedical Ethics der beiden Autoren, das, 1979 zum ersten Mal erschienen, nunmehr in der fünften Auflage vorliegt.2 Diese Neubearbeitung bietet neben ausführlichen Erläuterungen der einzelnen Prinzipien auch weitergehende Aussagen über den theoretischen Unterbau des Ansatzes, auf den kritisch einzugehen ist.

5.1.1 Autonomy = Autonomie?

Unter respect for autonomy verstehen die Autoren die Beachtung der Fähigkeit von Menschen, autonome Entscheidungen zu treffen. Eine solche personale Autonomie besteht in überlegter und begründeter Selbstgesetzgebung und hat die Freiheit von Zwang durch andere (Heteronomie) und eine Handlungsfähigkeit [agency] in Abwesenheit limitierender Einschränkungen v. a. der rationalen Einsichtsfähigkeit zur Bedingung. Ausdruck dieser Autonomie ist ein freies Handeln nach einem selbst gewählten Lebensplan.3 Es fällt auf, daß es den Autoren nicht so sehr um die generelle Handlungsautonomie [governance] und deren theoretische Grundlegung geht, sondern um die aktuale Fähigkeit zur autonomen Wahl [autonomous choice] von Handlungsalternativen.

In gewissem Gegensatz zur kontinentaleuropäischen Tradition ist es gerade nicht die allgemeine Charakterisierung des Menschen als Freiheitswesen, die Respekt einfordert, sondern deren Ausdruck in einer rationalen Entscheidungsfindung und darauf aufruhendem Handeln. Ein solches Konzept von Autonomie ist dazu angetan, Selbstgesetzlichkeit des Handelns v. a. in Unabhängigkeit von autoritativem bzw. institutionellem Zwang zu gewinnen. Von Anfang an steht dabei die Operationalisierbarkeit des Kriteriums im Blickpunkt. Eine autonome Handlung wird so durch ihre Absichtlichkeit, ihre Rationalität und die Abwesenheit kontrollierender bzw. bestimmender Einflüsse charakterisiert. Während eine Handlung in Hinsicht auf ihre Absichtlichkeit nur binär codiert werden kann, nämlich absichtlich oder nicht absichtlich, lassen Rationalität und Einflußfreiheit Grade von mehr oder weniger zu.