Hoffnung auf ein Morgen - Familienschicksal im Sudetenland

von: Etta Engelmann

Rosenheimer Verlagshaus, 2016

ISBN: 9783475542015 , 160 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 16,99 EUR

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Hoffnung auf ein Morgen - Familienschicksal im Sudetenland


 

Jugend

Musik

Das Wort »Musik« kann in den meisten deutschen Gegenden mundartlich gefärbt sowohl auf der ersten wie auch auf der zweiten Silbe betont werden: auf der ersten sind leichte, volkstümliche Lieder oder Tanzweisen gemeint, auf der zweiten eher klassische Stücke. Mindestens eine der beiden Formen wurde in dem recht musikalischen Egerländer Landstrich in vielen Häusern praktiziert. Auch die Pappelhof-Kinder lernten je ein Instrument und sangen schon im Vorschulalter die bekannteren Mundartlieder. Hochdeutsch wurde erst in der Schule vermittelt. Der Egerländer Dialekt ist ein sehr eigenständiger, grammatikalisch stärker ausdifferenziert als das Hochdeutsche und für Außenstehende fast unverständlich. Neben Mundartgedichten und -gebeten wurde ein umfangreiches Liedgut tradiert und bei Dorf-, Gemeinde- und Familienfesten dem jeweiligen Anlass entsprechend gepflegt. 

Eine solcher Anlass war auf jeden Fall der Maitanz, der an jedem Maiwochenende in einem anderen Dorf stattfand, sodass Jungen und Mädchen die Möglichkeit hatten, die Jugend der Nachbarorte kennenzulernen. Wie sonst hätten die jungen Leute einen Ehepartner finden sollen, nachdem Heiratsvermittler schon damals aus der Mode gekommen waren?

Da wollte sich jeder von seiner schönsten und ansprechendsten Seite zeigen: Wer noch eine Tracht besaß, trug sie. Brennschere und Lockenwickler kamen bei den jungen Damen zum Einsatz. Otto hatte, wie immer in dreiwöchigem Rhythmus, der männlichen Jugend aus beiden Höfen, dem Pappel- und dem Glaserhof, die Haare geschnitten.

Wieder stand ein solch aufregendes Großereignis ins Haus. Am Tag davor machte sich der »Hausfrisör« den Spaß, den Jungen einen Schrecken einzujagen, der im Familienkreis noch lange als Beweis für Ottos Witz tradiert wurde: Unter dem Vorwand, es gehe rationeller und schneller, wenn er zuerst alle rechten Kopfhälften, danach alle linken schneide, begann er also seine Arbeit. Die jüngeren Cousins ließen sich auf diesen Kuhhandel ein, während der Bruder Franz-Josef den Schelmenstreich durchschaut hatte und ihn redegewandt unterstützte. Nachdem die Köpfe halbfertig geschnitten waren, täuschte Otto einen Defekt der Haarschneidemaschine vor, was natürlich bei den vier Glaser-Buben für große Aufregung sorgte. Der Mode ihrer Zeit entsprechend trugen die Jungen das Haar sehr kurz geschoren, sodass es ganz besonders auffiel, dass eine Hälfte fast kahl, die andere aber dicht behaart erschien. Nach etwa einer Stunde war es schließlich »gelungen«, die wichtige kleine Maschine wieder zu »reparieren«, und so konnte die Arbeit zu Ende gebracht werden. 

Weil Lene ihre Lehre in Franzensbad begonnen hatte, wo sie auch während der Wochenenden bleiben musste, konnte sie zu dieser Zeit an den Maitänzen nicht teilnehmen, denn in den Bädern wurden während der Saison alle Hände gebraucht.

Erwin und Otto, beide begabte und begehrte Tänzer, sorgten, wenn Babelsgrün das Tanzfest ausrichtete, für heitere Unterhaltung in Form von Sketchen oder musikalischen Einlagen, sobald die Kapelle eine Pause einlegte. Doch zunächst musste die »Ploozmoad« und der »Ploozknächt« gefunden werden, die den Tanz um den Maibaum, eine bis kurz vor dem Wipfel entastete, geschälte und mit Kranz und Bändern bunt geschmückte Fichte, eröffneten. 

Resi, die ein hellblaues Dirndlkleid und weiße leichte Lackschuhe trug, war in diesem Jahr dazu auserwählt, mit Albert, einem guten Tänzer aus dem Oberdorf, den Reigen zu eröffnen. Der junge Mann, der sehr stolz auf die Ehre war, mit der hübschen Pappelhof-Tochter tanzen zu dürfen, raunte dieser zu: »Das dürfen wir nicht beschreien.« Man solle also nicht viel darüber reden, um den engen Kontakt zueinander nicht ins Gerede zu bringen. 

»Da müssen wir auf Holz klopfen«, setzte er hinzu. Kurzerhand klopfte Resi auf ihres Tänzers Stirn, was die Umstehenden mit Gelächter quittierten. 

Albine, etwas fülliger gebaut, hielt sich selbst für unattraktiv, zumal sich der kleine Höcker auf ihrer Nase im Laufe der Jahre nicht gänzlich zurückgebildet hatte. Die glatten schwarzen Haare trug sie zu einem Nackenknoten gesteckt. Dies war zwar auch für junge Frauen die übliche Frisur, sie passte aber nicht zu Albines dünnem weichem Haar. Vielleicht hätte der gerade in Mode gekommene Bubikopf durch das häufigere Schneiden den Haarwuchs etwas angeregt, aber dieser flottere Kurzhaarschnitt konnte sich bei den Landmädchen einstweilen nicht durchsetzen. Ob berechtigt oder nicht, Albine fühlte sich hässlich, zumal sie über Jahre hinaus die Schönheit ihrer kleinen Schwester hatte loben hören, was sie auch als völlig gerechtfertigt empfand. Diesem benachteiligten Äußeren entsprach auch ihr Gesichtsausdruck, der zu sagen schien: »Ihr müsst mich ja nicht anschauen, wenn ich euch nicht gefalle, schaut halt weg!« 

Dementsprechend legte sie auch auf ihre Kleidung keinen besonderen Wert. Praktisch musste sie sein, bequem und gediegen. »Wir sind nicht so reich, dass wir uns billiges Zeug kaufen könnten!« So lautete die Devise der Familie, wenn es um den Kauf von Kleiderstoffen ging, die dann von Frau Stör, der Schneiderin aus dem Nachbarort Schaben, zu Kleidern, Blusen und Röcken verarbeitet wurden.

»Wer schaut denn schon nach mir«, dachte Albine resigniert. Also war es gleichgültig, was sie zur Schau trug. So kam es wie erwartet: Resi tanzte, umworben von vielen Tänzern, jeden Tanz, während Albine des Öfteren von ihren Brüdern geholt wurde, wenn kein Fremder sie aufgefordert hatte. So erinnerte sie sich auch später nur ungern an diese Tanzveranstaltungen im dörflichen Rahmen, die ihre Geschwister so sehr genossen hatten.

Franzensbad

Die Bädersaison neigte sich ihrem Ende zu, und Lene kehrte für die Wintermonate wieder nach Hause zurück. Die Hotel- und Diätküche, wie sie im Kurhaus praktiziert wurde, war ihr nun nach mehreren Sommereinsätzen geläufig, eine weitere Saison wollte sie nicht mehr in Franzensbad verbringen. So empfahl sie ihrer jüngeren Schwester, ihren Platz zu übernehmen, während sie, unternehmungslustig, wie sie war, in Berlin eine neue Beschäftigung suchte.

Die Hotelierfamilie Fuchs, die Lene sehr gerne behalten hätten, war dennoch mit dem Wechsel der Schwestern einverstanden, und Frau Fuchs begrüßte Albine, wie sie meinte, besonders herzlich, indem sie die große Schwester lobte. Dem übrigen Personal stellte sie das neue Lehrmädchen mit den Worten vor: »Das ist die Schwester von unserer braven, guten Lene.« 

Nicht mehr Resi, sondern die akkurate, geschickte und umsichtige Lene war also hier die Vergleichsgröße und stellte eine Hürde dar, die nicht leicht zu überspringen war.

»Bei deiner Schwester konnte ich zu jeder Zeit ihren Schrank oder ihren Nachttischschub öffnen, immer lag alles ordentlich auf seinem Platz.« 

Aha, auch die persönlichen Sachen wurden also kontrolliert! Kein Platz für persönliche Traumwelten! Die »Puppenecke«, inzwischen mit Büchern, eigenen Gedichten, besonderen Raritäten bestückt, würde überwacht, begutachtet, womöglich sogar belächelt werden. Albine fühlte sich in diesem Hause vom ersten Augenblick der Begegnung mit allem Neuen an unbehaglich. Wie sollte sie das hohe Niveau, das Lene vorgelegt hatte, je erreichen? Wo würde sie eine Rückzugsmöglichkeit finden, die ihr im Elternhaus immerhin gewährt wurde? Ihre Schüchternheit hinderte sie daran, auf die Menschen ihrer Umgebung zuzugehen, sie anzusprechen, auch nur Fragen zu stellen, die die Arbeit betrafen. Während die Küchenchefin mit ihrem eingespielten Team arbeitete und scherzte, fühlte sich Albine schnell als Außenseiterin.

Eine ihrer Aufgaben, die man ihr eigenverantwortlich übertrug, war die Teezubereitung am Nachmittag für die kurenden Damen (das Haus war auf Frauenleiden spezialisiert). Waren diese versorgt, so wurde der zweite Teeaufguss Herrn und Frau Fuchs mit Wiener Teekuchen in den Salon serviert. Den dritten Aufguss schließlich durfte sich das Personal einverleiben – nunmehr konnte das Teein keine schädlichen Auswirkungen mehr auf die Nerven der meist jugendlichen Bediensteten zeitigen.

Albine vollzog diese drei Teezubereitungssequenzen sorgfältig und gewissenhaft, wobei sie genau auf die richtige Färbung der Flüssigkeit achtete; dabei kam es darauf an, das Tee-Ei im rechten Moment, nämlich das erste Mal nach drei, das zweite Mal nach vier Minuten, aus dem heißen Wasser zu nehmen. Das Getränk wurde mit Milch und Honig serviert. Nachdem nun der dritte Aufguss für die jungen Angestellten ebenfalls fertig gezogen hatte, wobei sich das Wasser trotz langen Verweilens und freien Schwebens der Teeblätter in der Kanne nicht mehr braun färben wollte, sondern in einem lichten hellgelben Opalschimmer verblieb, seihte Albine die Flüssigkeit durch ein Sieb und beförderte die abgetropften Blätter in den Eimer für Schweineabfälle. 

Dies hätte sie besser unterlassen, denn schon kurze Zeit später, nach Beendigung der Teestunde mit seiner Frau, suchte Herr Fuchs die ausgelaugten Blätter in der Küche. Wie gewöhnlich wollte er die dem Personal schon fast rituell anmutende Handlung der Teeblatttrocknung zelebrieren, wozu niemand außer ihm selbst für fähig befunden war: Sorgfältig wurden die einzelnen Blättchen voneinander getrennt, auf einer Weidengeflechtscheibe ausgebreitet und an die sonnigste Stelle des Wintergartens verbracht, wo sie kein Luftzug wegwehen konnte. Sie dienten ihm nach Erreichen des richtigen Trocknungsgrades als Tabakersatz für seine Kurzpfeife...