Liebe ist die schönste Naturkatastrophe der Welt

von: Kasie West

Arena Verlag, 2016

ISBN: 9783401805412 , 328 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Liebe ist die schönste Naturkatastrophe der Welt


 

1

Irgendwo in einem Winkel meines Verstands, vermutlich dem Teil, der für die Vernunft verantwortlich war, wusste ich es: Ich musste ihn loslassen und gehen, um wenigstens einen Teil meiner Würde zu bewahren. Stattdessen legte ich meine Arme noch fester um ihn und presste meine Wange an seine Brust. Mit Vernunft hatte das rein gar nichts zu tun, das hier war pure Verzweiflung. Und obwohl ich wusste, wie abstoßend Verzweiflung sein konnte, konnte ich nicht anders.

Er seufzte und atmete dabei tief aus, sodass ich meine Arme noch enger um ihn schlingen konnte. Töteten Boaschlangen ihre Opfer nicht genau so? Nicht einmal der Gedanke brachte mich dazu, ihn loszulassen.

»Gia, es tut mir leid.«

»Dann tu es nicht. Und wenn du’s doch unbedingt tun musst, kann es nicht noch zwei Stunden warten?«

»Und genau weil du das gerade gesagt hast, kann es nicht warten. Das Einzige, was dir etwas bedeutet, ist, dass deine Freundinnen mich zu Gesicht bekommen.«

»Das stimmt nicht.« Okay, irgendwie stimmte es doch. Aber das lag nur an Jules. Sie war vor einem Jahr zu unserer Clique gestoßen und hatte seitdem alles drangesetzt, meine besten Freundinnen langsam, aber sicher gegen mich aufzuhetzen. Seit Neuestem unterstellte sie mir, ich würde damit lügen, dass ich seit zwei Monaten einen festen Freund hätte. Insofern: Ja, es stimmte, ich wollte meinen Freundinnen beweisen, dass ich nicht gelogen hatte. Sie sollten sehen, dass Jules diejenige war, die versuchte, unsere Clique auseinanderzubringen. Es war Jules, die mindestens zu einem Viertel aus reiner Boshaftigkeit bestand. Nicht ich.

Das war aber nicht der einzige Grund, warum ich wollte, dass Bradley mich heute Abend begleitete. Ich hatte ihn wirklich gemocht, zumindest bevor er beschlossen hatte, auf dem Schulparkplatz am Abend des Abschlussballs mit mir Schluss zu machen. Auch jetzt, nachdem er die Arschlochkarte gezogen hatte, müsste er doch einfach nur da reingehen, beweisen, dass er existierte, vielleicht Jules kurz einen Schlag in die Magengrube verpassen, und dann könnte er wieder gehen. War das zu viel verlangt? Und hallo, das hier war mein Abschlussball. Wollte er mich wirklich zwingen, diesen Abend, an dem ich möglicherweise zur Ballkönigin gekrönt werden würde, ganz allein zu verbringen?

»Nein, das ist nicht das Einzige, das mir etwas bedeutet …« Meine Stimme brach, obwohl ich mir Mühe gab, keine Schwäche zu zeigen. Na gut, mal abgesehen von dem An-ihm-Kleben-wie-ein-nasses-T-Shirt.

»Doch, das ist es. Und der Beweis dafür war dein erster Satz heute Abend: ›Meine Freundinnen werden vor Neid sterben.‹ Im Ernst, Gia? Das fällt dir als Erstes ein, nachdem wir uns zwei Wochen lang nicht gesehen haben?«

Ich überlegte. Hatte ich das wirklich gesagt oder hatte er das erfunden, um sich besser zu fühlen? Er sah tatsächlich umwerfend gut aus. Und ja, natürlich wollte ich ihn meinen Freundinnen zeigen. Konnte er mir das verübeln?

»Und den ganzen Weg hierher hast du unseren Auftritt geplant. Du hast mir Anweisungen gegeben, wie ich dich anzusehen habe.«

»Ich hab halt einen leichten Hang zur Kontrollsucht. Das weißt du doch.«

»Leichten Hang?«

Etwas weiter entfernt von dort, wo ich meinen Freund, äh, meinen Exfreund, beinahe zu Tode drückte, bog ein Auto in eine freie Parklücke. Hinten stieg ein Pärchen aus. Ich kannte sie nicht.

»Gia.« Bradley löste sich aus meiner Umklammerung und trat einen Schritt zurück. »Ich muss los. Ich hab eine weite Fahrt vor mir.«

Wenigstens sah er so aus, als täte es ihm ehrlich leid.

Ich verschränkte meine Arme und fand endlich ein bisschen meiner Würde wieder, wenn auch viel zu spät. »Na schön. Fahr doch.«

»Du solltest trotzdem reingehen. Du siehst atemberaubend aus.«

»Kannst du mich bitte einfach nur zum Teufel schicken und dann verschwinden? Nach alldem will ich dich nicht auch noch süß finden müssen.« Er war süß und der Gedanke, dass meine Verzweiflung, ihn zu verlieren, mit mehr als nur mit meinen Freundinnen zu tun hatte, drohte mich zu überwältigen. Ich schob das Gefühl weit von mir. Er sollte nicht wissen, dass er mich wirklich verletzt hatte.

Er verzog seinen Mund zu einem verschmitzten Lächeln und hob dann seine Stimme: »Mit dir rede ich kein Wort mehr. Du bist eine egoistische, oberflächliche Zicke, geschieht dir ganz recht, alleine da reinzugehen!«

Warum klang das so überzeugend? Ich ging auf das Spiel ein und feuerte zurück: »Ich hasse dich, du Mistkerl!«

Er warf mir eine Kusshand zu und ich lächelte. Ich schaute ihm nach, bis er ins Auto gestiegen und losgefahren war. Erst dann glitt mir das Lächeln aus dem Gesicht und mein Magen zog sich zusammen. Vermutlich ging er davon aus, mich würde schon irgendjemand nach Hause bringen. Gott sei Dank waren alle meine Freundinnen drinnen … und warteten darauf, dass ich mit dem Typen aufkreuzte, mit dem ich seit zwei Monaten angegeben hatte. Ich knurrte unwillig, versuchte den Schmerz in Wut zu verwandeln und lehnte mich an die Heckklappe eines roten Pickups. Und genau in dem Moment kreuzte ich den Blick eines Jungen, der im Auto gegenüber von mir auf dem Fahrersitz saß. Ich richtete mich schnell auf, straffte meine Schultern – nicht einmal ein Fremder durfte mich so schwach sehen – und er senkte den Blick.

Wieso hockte der Typ überhaupt da in seinem Auto? Er hielt ein Buch in der Hand und begann zu lesen. Er las? Wer saß während einer Prom auf dem Parkplatz und las? Dann kapierte ich es. Das Pärchen, das hinten aus dem Wagen gestiegen war, er hatte sie gefahren. Seine kleine Schwester vielleicht oder sein kleiner Bruder.

Ich musterte ihn. Viel konnte ich von ihm nicht erkennen, aber er sah gar nicht so schlecht aus. Braunes Haar, olivfarbener Hautton. Möglicherweise war er sogar groß – sein Kopf reichte über die Kopfstütze –, aber das war schwer zu sagen. Ansonsten war er überhaupt nicht mein Typ: verwuschelte Haare, eher dünn, Brille – aber er würde reichen müssen.

Ich ging zu ihm hinüber. Er las ein Geografiebuch oder irgendetwas über die Welt in achtzig Tagen. Ich klopfte an die Scheibe. Zögernd sah er auf. Noch länger dauerte es, bis er sein Fenster heruntergekurbelt hatte.

»Hi«, sagte ich.

»Hey.«

»Gehst du hier zur Schule?« Wenn das nämlich der Fall war und ich ihn nur noch nie gesehen hatte, würde mein Plan nicht funktionieren. Weil andere ihn kennen würden.

»Was?«

»Gehst du hier auf die Schule?«

»Nein. Wir sind gerade hergezogen, ich mach das Schuljahr an meiner alten Schule zu Ende.«

Noch besser. Sie waren neu in der Gegend. »Bist du hier, um deinen Bruder abzusetzen?«

»Schwester.«

»Perfekt.«

Seine Augenbrauen schossen in die Höhe.

»Du bist mein Date heute Abend.«

»Äh …« Sein Mund klappte auf, aber das war alles, was herauskam.

»Wohnst du in der Nähe? Du kannst dadrinnen nämlich nicht in Jeans und T-Shirt aufkreuzen. Schon gar nicht in einem T-Shirt mit einer Telefonzelle drauf.«

Er blickte kurz an sich runter, dann wieder mich an. »Eine Telefonzelle? Echt jetzt?«

»Besitzt du wenigstens irgendeine dunkle Hose und ein Hemd? Vielleicht eine Krawatte? Eine blaugrüne Krawatte würde perfekt zu meinem Outfit passen, aber ich versuche mir keine unnötigen Hoffnungen zu machen.«

Ich legte den Kopf schief. Er war leider wirklich nicht mein Typ. Meine Freundinnen würden das durchschauen. »Und besitzt du zufällig Kontaktlinsen und irgendein Haarpflegeprodukt?«

»Ich kurbel dann jetzt das Fenster mal wieder hoch.«

»Nein. Bitte nicht.« Ich legte meine Hand in den Fensterrahmen. War ich jemals schon so verzweifelt gewesen? »Mein Freund hat eben mit mir Schluss gemacht. Das hast du vielleicht sogar mitgekriegt. Und ich möchte wirklich nicht allein auf meinen Highschool-Abschlussball gehen. Außerdem glauben meine Freundinnen nicht mal, dass mein Freund existiert. Lange Geschichte, aber du musst für ihn einspringen. Zwei Stunden. Das ist alles, worum ich dich bitte. Außerdem sitzt du hier ja sowieso nur herum und wartest auf deine Schwester.«

Mist. Seine Schwester. Würde sie seinen Namen quer durch die Turnhalle brüllen und alles ruinieren? Wir würden ihr einfach aus dem Weg gehen müssen. Oder sie in unser Geheimnis einweihen. Das würde ich noch entscheiden. »Das macht viel mehr Spaß, als auf dem Parkplatz herumzusitzen.«

Er sah mich immer noch an, als sei ich verrückt geworden. Und so fühlte ich mich auch.

»Du willst, dass ich einen auf Captain America mache?« Er machte eine Handbewegung Richtung Straße.

Kurz war ich verwirrt, aber dann begriff ich, dass er Bradley meinte, der ziemlich muskulös gebaut war. »Sie haben ihn noch nicht kennengelernt und wissen gar nicht, wie er aussieht. Außerdem bist du …« Ich zeigte auf ihn, ohne meinen Satz zu beenden. Ich versuchte einen anderen Superhelden zu finden, mit dem ich ihn...