Malwida von Meysenbug: Memoiren einer Idealistin + Der Lebensabend einer Idealistin (Autobiografie) - Band 1&2

von: Malwida von Meysenbug

e-artnow, 2015

ISBN: 9788026843931 , 510 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 1,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Malwida von Meysenbug: Memoiren einer Idealistin + Der Lebensabend einer Idealistin (Autobiografie) - Band 1&2


 

Neuntes Kapitel.


Wieder ein fester Wohnsitz


Dem Wanderleben mußte endlich ein Ziel gesetzt werden. Man mußte einen Ort erwählen, um sich niederzulassen. Dies konnte jedoch nur geschehen, indem wir uns zeitweise wenigstens von unserem Vater trennten, der den Fürsten nicht verlassen konnte, der nie lange an einem Ort weilte. Meine Mutter entschied sich für die Stadt, wo meine älteste verheiratete Schwester lebte – die, die ich in meiner frühesten Kindheit so sehr geliebt hatte. Es war die Stadt Detmold, die Hauptstadt des kleinen Fürstentums Lippe. Mein Vater versprach, von Zeit zu Zeit zu längerem Aufenthalt uns dort zu besuchen. Außerdem versprach er uns fest, daß, wenn alle Söhne in einer unabhängigen Stellung sein würden, er seine Verpflichtung gegen den Fürsten auflösen und sich für immer mit uns vereinigen würde.

Ohne den Schmerz dieser Trennung wäre ich über die Wahl des Aufenthaltes hochbeglückt gewesen. Das Familienleben meiner Schwester war der Widerschein ihrer engelhaften Natur; ihre Kinder glichen ihr an Sanftmut und Liebenswürdigkeit. Die Stadt, wo sie lebte, war eine jener kleinen deutschen Residenzen, die die Hauptstadt eines Ländchens sind, das für einen englischen Aristokraten nur ein mäßiger Grundbesitz sein würde. Es war eine hübsche, reinliche Stadt an einem der malerischesten Punkte des nördlichen Deutschlands gelegen, von Hügeln, mit herrlichen Buchenwäldern bedeckt, umgeben, an die sich historische Erinnerungen ferner Vorzeit knüpften. Mein Schwager war eine der ersten Notabilitäten des Ortes; seine Familie gehörte zu den ältesten der kleinen Aristokratie des Ländchens. Er war von Kindheit auf der Freund und unzertrennliche Gefährte des regierenden Herrn gewesen, und nichts in den öffentlichen Angelegenheiten geschah ohne seinen Rat.

Der Regent des kleinen Staats war ein ehrlicher Mann, gut von Herzen, aber etwas beschränkten Verstandes, und von einer über alles Maß gehenden Schüchternheit, die die Folge der langen Abhängigkeit war, in der ihn seine Mutter gehalten hatte. Diese, Fürstin Pauline, eine Frau von überlegenem Geist und männlicher Bildung, war nahezu an zwanzig Jahre Regentin gewesen, da ihr Sohn ein kleiner Knabe war, als sein Vater starb. Sie allein unter allen regierenden Häuptern Deutschlands wagte es, dem fremden Eroberer entgegenzugehen, um ihm die Sprache der Vernunft und Menschlichkeit zu reden. War der Gefürchtete erstaunt, daß eine Frau wagte, was die anderen nicht gewagt hatten? Hatte er einen anderen Beweggrund? Genug, er behandelte sie mit Anerkennung und zog vorüber, ohne das kleine Ländchen und seine mutige Regentin zu belästigen.

Sie war eine Freundin der Wissenschaften und der Literatur, berief mehrere ausgezeichnete Männer an ihren Hof und bemühte sich, Aufklärung und Moralität in ihrem kleinen Lande zu verbreiten. An der Spitze eines großen Königreichs würde sie eine Katharina die Zweite gewesen sein, ohne deren Laster. Das einzige, was ihr nicht gelang, war die Erziehung ihrer beiden Söhne, ihrer einzigen Kinder. Um ihnen die Grundsätze strenger Moralität beizubringen, hatte sie sie dermaßen tyrannisiert und so lange wie Kinder behandelt, daß der älteste, schon scheu und zurückhaltend von Natur, ein halber Wilder geworden war. Der zweite, ein leichtsinniger, ausschweifender Mensch, hatte sich, einmal von der mütterlichen Autorität befreit, einem liederlichen Leben ergeben. Er war im Militärdienst aller möglichen Länder gewesen, hatte immer schlechten Betragens wegen den Dienst verlassen müssen, und sein Bruder hatte ihn mehr wie einmal vom Schuldgefängnis losgekauft. Der älteste, nach dem Tod der Mutter zur Regierung gelangt, führte ein wahres Einsiedlerleben. Seine Frau war ein gutes, sanftes Wesen, die sich der gänzlichen Zurückgezogenheit und der strengen Lebensweise ihres Gatten unterwarf. Sie hatten viele Kinder und führten ein exemplarisches Familienleben. Ihr altes Schloß mit hohen Ecktürmen und kleinen Türmchen war von Gärten umgeben, die auf den alten Wällen gepflanzt waren, und diese umschloß ein breiter Graben, auf dem Enten und Schwäne friedlich hausten. Von der öffentlichen Promenade aus konnte man die fürstliche Familie in diesen Gärten spazieren gehn sehn, aber niemals setzte ein Mitglied derselben einen Fuß in die Straßen der Stadt. Ein oder zwei Mal im Jahr war ein Galadiner auf dem Schloß, zu dem auch die Damen, deren Rang sie zu dieser Ehre berechtigte, eingeladen wurden. An dem Tag, wo dieses große Ereignis stattfand, rollten die Hofwagen in der Stadt umher, um die Damen abzuholen, da die Toiletten sonst zu sehr gelitten hätten, weil es keine geschlossenen Wagen in der kleinen Stadt gab und man sonst in Gesellschaften, ja auch auf Bälle, zu Fuß ging. Die Tafeln waren eine harte Aufgabe für den armen Fürsten; er mußte dann an all den Damen, die in einer Linie aufgestellt waren, vorüberdefilieren und einer jeden wenigstens ein paar Worte sagen. Steif wie ein Stück Holz in seine Uniform eingeschnürt, die Lippen zusammengepreßt, stammelte er mit ungeheurer Anstrengung irgend eine Banalität über das Wetter oder über einen anderen ebenso unbedeutenden Gegenstand. Kaum hatte er eine Antwort erhalten, so schob er weiter und schien wie von einem schweren Druck befreit, wenn er glücklich bei den Herren angelangt war.

Er hatte bei alledem zwei Leidenschaften, die ihn aus seiner Höhle herauslockten: die Jagd und das Theater.

Die herrlichen Wälder, die die kleine Residenz umgaben, waren voller Wild, dessen einziger legitimer Jäger er war. Im Winter verging fast kein Tag, an dem man nicht zwei oder drei fürstliche Schlitten durch die Straßen der Stadt und über die schneebedeckten Landstraßen fliegen sah, die diese Nimrod-Familie in die Wälder entführte, alle zusammen, die Eltern und die Kinder. Sie blieben den ganzen Tag im Walde. Der Fürst und die älteren Söhne jagten; die Fürstin mit den übrigen Kindern, in ihre Pelze eingehüllt, blieben entweder in den Schlitten sitzen, oder gingen auf dem Schnee spazieren. Vergebens klagten die Lehrer, daß der Unterricht bei dieser Lebensweise Schaden leide. Die geistige Entwicklung der Kinder wurde dem Familienleben und dem Wildpret geopfert.

Die zweite Leidenschaft des Fürsten, die für das Theater, wurde auf Kosten der Revenüen des kleinen Staats befriedigt. Man flüsterte sich wohl zu, daß die Ausgaben unverhältnismäßig groß wären, aber die Landstände, die sich unter der Regentin-Mutter noch regelmäßig versammelt hatten, wurden von dem Sohn nie mehr einberufen. Niemand kontrollierte die Ausgaben. Die Freunde des Fürsten sagten, man könne ihm doch das eine Vergnügen lassen, da er übrigens so einfach und moralisch lebte. Auch muß man sagen, daß sein Theater unter die besten in Deutschland gehörte, und daß die größten Künstler es nicht verschmähten, Vorstellungen daselbst zu geben. Die besten dramatischen Werke, sowie die besten Opern wurden mit einer ziemlich seltenen Vollendung gegeben. Es war demnach natürlich, daß das Theater der Mittelpunkt der Interessen und Gespräche der kleinen Residenz war, und man kann nicht leugnen, daß es zur Quelle einer Art künstlerischer und intellektueller Erziehung wurde, die die Gesellschaft weit über die anderer gleich großer Provinzstädte erhob.

Nach dem Theater gab es noch eine andere Anstalt, die zur Unterhaltung der Gesellschaft diente, an der aber der Fürst keinen Anteil hatte. Dies war eine Art Klub, dem man den französischen Namen »Ressource« gegeben hatte, anstatt ihn einfach Verein oder etwas dergleichen zu nennen. Dort vereinigten sich die Herren der Gesellschaft; die Familienväter, besonders aber die jungen unverheirateten Leute, verbrachten da einen großen Teil des Tages und fast immer die Abende, um Zeitungen zu lesen, Karten und Billard zu spielen, Wein und Bier zu trinken, die Neuigkeiten der großen und kleinen Welt zu besprechen und unglaubliche Massen von Tabakswolken in die Luft zu schicken. Am Sonntagabend war auch den Damen Zutritt gestattet, und dann nahm das Ganze einen anderen Anstrich an. Die Herren erschienen im Frack, die Pfeifen und Zigarren verschwanden, die älteren Herren und Damen spielten Karten, die jungen Leute unterhielten sich mit Gesellschaftsspielen, mit Gespräch und Tanz. Einmal im Monat war ein großer Ball.

In dieser Weise schufen sich die kleinen deutschen Städte ein geselliges Leben, da es keine großen Vermögen dort gab und die meisten Einwohner Beamte mit Besoldungen waren, die gerade nur für das Notwendigste hinreichten. In solch einem Verein aber konnte ein jeder mittels eines kleinen Beitrages sich mit seinen Bekannten treffen und die Freuden der Geselligkeit genießen, ohne daß es seine Mittel überstieg. Der Ton, der in diesen Vereinen herrschte, war sicher nicht der letzte Ausdruck seiner geselliger Bildung; aber da, wo, wie in dem Städtchen, von dem ich spreche, ein kleiner Hof, ein gutes Theater, ein treffliches Gymnasium, eine gute Töchterschule und einige Männer von Geist und Verdienst in den Wissenschaften sich vorfanden, herrschte doch eine gewisse Erhebung in den Ideen, die sich den Manieren und dem Ton der Unterhaltung mitteilte. Meine Schwester und ich gehörten noch nicht eigentlich der Gesellschaft an, denn wir waren noch nicht konfirmiert, und dies war, wenigstens damals, in Deutschland das Signal für die jungen Mädchen, um in die Reihen der Erwachsenen eingeführt zu werden. Unser Wanderleben hatte diesen Vorgang etwas verspätet, und wir bedurften noch eines ganzen Jahres Vorbereitung durch Religionsstunden. Wir erhielten diese von dem ersten Prediger der Stadt. Dies war ein noch junger Mann, schön wie ein Christus, mit einem Lächeln des Wohlwollens auf den Lippen. Er war...