Messewalzer - Kriminalroman

von: Andreas Stammkötter

Gmeiner-Verlag, 2011

ISBN: 9783839236208 , 278 Seiten

4. Auflage

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Messewalzer - Kriminalroman


 

Zwei


Am nächsten Morgen gegen acht Uhr strapazierte Wiggins die Klingel an Krolls Wohnungstür. Es dauerte über fünf Minuten, bis ihm sein übermüdeter und zerknitterter Kollege öffnete. Er hatte nur eine Boxershorts an. Trotz seiner inzwischen 45 Jahre war Krolls Körper noch erstaunlich gut in Schuss. Dies lag daran, dass er ein leidenschaftlicher Kampfsportler war, schwarzer Gürtel in Judo, Karate und Taekwondo. Das regelmäßige Training ließ dem Fett keine Chance, was bei Krolls Ernährungsverhalten schon an ein Wunder grenzte. Sein Oberkörper war muskulös, unterschied sich jedoch deutlich von den Proportionen eines Bodybuilders.

Kroll strich sich die dunkelblonden Haare aus dem Gesicht und schaute auf die Uhr. »Musst du mitten in der Nacht so einen Krach machen?«

Seine Alkoholfahne war deutlich zu riechen. »Scheiße, Kroll! Ausgerechnet heute! Musstest du dich gestern unbedingt volllaufen lassen?«

Sie gingen in die Wohnung. Kroll durchsuchte die Küchenschublade nach Kopfschmerztabletten. »Was machst du überhaupt für ein Theater? Ich habe heute noch Urlaub!«

»Hat Reis gerade gestrichen!«

Kroll sah Wiggins ungläubig an. »Ist was passiert?«

Wiggins füllte Kaffeepulver in den Filter. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, was bei uns los ist! Gestern Nacht wurde Lachmann erschossen. Vor meinen Augen!«

Kroll setzte sich auf den Küchenstuhl. »Lachmann … welcher Lachmann?«

Wiggins wurde ungeduldig. »LACHMANN!«

»Du meinst doch wohl nicht etwa den Schriftsteller?«

»Genau den meine ich!«

Langsam konnte Kroll Wiggins’ Aufregung verstehen. Er wusste genau, was jetzt auf sie zukam. Lachmann war eine bekannte Leipziger Persönlichkeit. Natürlich erwartete die Bevölkerung eine schnelle Aufklärung. Und dann das Medieninteresse. An dieser Geschichte würden nicht nur die Lokalzeitungen dran sein, sondern alle Zeitungen im In- und Ausland. Von den Fernsehsendern ganz zu schweigen.

»Was ist passiert?«

»Du springst jetzt erst mal unter die Dusche. Hast du noch Pfefferminzbonbons?«

Vor dem Präsidium standen bereits fünf Übertragungswagen, die sich auf die angekündigte Pressekonferenz vorbereiteten. Lachmanns Leiche war noch in der Nacht obduziert worden. Auf Krolls Schreibtisch lagen bereits der Obduktionsbericht, die Berichte der Spurensicherung von Tatort und Wohnung sowie der Bericht der Kriminaltechnischen Untersuchung. Das war ungewöhnlich. Alle Kollegen hatten eine Nachtschicht eingelegt. Dies war wohl der Brisanz des Falles geschuldet. Die Kugel, die in Lachmanns Halswirbel steckte, hatte das Kaliber 7,62 ×51 nato Millimeter. Diese Munition konnte keiner bestimmten Waffe zugeordnet werden, es war jedoch das gängige Kaliber von Scharfschützengewehren. Mit großer Wahrscheinlichkeit war davon auszugehen, dass es sich bei der Tatwaffe um ein Präzisionsgewehr handelte.

Kroll blätterte die Protokolle durch. »Hast du schon mit der Lebensgefährtin gesprochen, dieser …?«

»Liane Mühlenberg! Nein, ich konnte noch nicht mit ihr reden. Sie stand gestern unter Schock. Dr. Schmidt hat sie ins St. Elisabeth-Krankenhaus eingewiesen.«

Staatsanwalt Reis betrat das Büro. »Morgen, meine Herren. Tut mir leid mit deinem Urlaub, Kroll!«

»Kein Problem, Chef!«

Der Staatsanwalt war erkennbar in Eile. »Also. Euch wurde offiziell die Leitung der Ermittlungen übertragen. Ich glaube, ich brauche euch nicht zu erklären, was hier in den nächsten Tagen und Wochen los sein wird. Natürlich richten wir eine SOKO ein. Ihr bekommt so viele Leute, wie ihr wollt.« Reis sah auf die Uhr. »In einer Stunde ist Pressekonferenz. Bereitet euch darauf ein bisschen vor. Wir müssen denen irgendwas erzählen. Ich glaube, jeder Journalist, der einen Stift oder ein Mikro halten kann, ist heute in Leipzig. Der Ansturm ist so groß, dass wir den großen Verhandlungssaal im Landgericht ausgeräumt und neu bestuhlt haben. Und das ist erst der Anfang. Vor dem Zimmer von Liane Mühlenberg im St. Elisabeth mussten wir zwei Beamte postieren, weil die selbst sie schon interviewen wollten!«

Staatsanwalt Reis saß in der Mitte. Rechts neben ihm Wiggins und links Kroll. Kroll zählte 14 Mikrofone, alle versehen mit dem Emblem der jeweiligen Rundfunk- und Fernsehanstalten auf den Speichelfängern. Eine Masse von ungefähr 120 Journalisten wartete bereits ungeduldig darauf, dass es endlich losging. Der Raum war brechend voll.

Reis begrüßte die Anwesenden und berichtete, dass dem ebenfalls im Raum befindlichen Kriminalhauptkommissar Kroll, einem erfahrenen und zuverlässigen Mitarbeiter, die Leitung der Ermittlungen übertragen worden sei. Kroll werde sie auch über den derzeitigen Stand unterrichten, natürlich stünden die Ermittlungen noch am Anfang. Die Anwesenden machten sich eifrig Notizen.

Kroll bemühte sich, nicht an seine Kopfschmerzen zu denken, was ihm dank der Tabletten auch einigermaßen gelang. Er blätterte langsam in der Akte und versuchte, sich zu konzentrieren.

»Gestern Abend um genau 20 Uhr 20 wurde der Schriftsteller Willi Lachmann in der Sächsischen Pfeifenstube im Petersteinweg erschossen. Der Schuss wurde von der gegenüberliegenden Straßenseite abgegeben. Der Täter verwendete ein Präzisionsgewehr, das überwiegend im militärischen Bereich und bei der Polizeiarbeit eingesetzt wird. Die Kugel durchschlug die Schaufensterscheibe und traf Herrn Lachmann im Genick, er war sofort tot. Wir haben daraufhin die Wohnung des Opfers durchsucht und konnten feststellen, dass sie aufgebrochen war. Ob etwas entwendet wurde, können wir noch nicht sagen. Wir sind in dieser Frage auf Informationen der Lebensgefährtin des Autors angewiesen, die jedoch noch nicht ansprechbar ist, weil sie immer noch unter Schock steht. Ich darf Sie bitten, hierauf bei der Ausübung Ihrer Arbeit Rücksicht zu nehmen.« Kroll sah in die Menge. »Das war’s von meiner Seite erst einmal. Haben Sie noch Fragen?«

»Der Schuss war sehr präzise! Gehen Sie von einem Profikiller aus?«

»Wir gehen von einem geübten Schützen aus.«

»Hatte der Mord etwas mit der Arbeit Lachmanns zu tun?«

»Das können wir noch nicht sagen.«

»Wurden Wertsachen entwendet?«

»Der abschließende Bericht der Spurensicherung liegt noch nicht vor.«

»In welche Richtung ermitteln Sie?«

»In alle Richtungen!«

Plötzlich kehrte Ruhe ein. Die Journalisten schienen sich damit abgefunden zu haben, dass zumindest am heutigen Tage keine weiteren Informationen zu erlangen waren und waren gedanklich bereits damit beschäftigt, die spärlichen Informationen von Kroll zu einem spannenden Artikel oder einem interessanten Bericht zu verarbeiten.

In der ersten Reihe meldete sich Heiner Porwall von der Morgenpost, der in der Branche nur Pottwal genannt wurde. Sein Äußeres war abstoßend: Er war extrem übergewichtig, seine schwarzen Haare klebten an Kopfhaut und Schläfe und wurden durch eine Mischung aus Fett und Schweiß fixiert. Sein spärlicher und lückenhafter Bartwuchs legte rote Ekzeme im Gesicht frei, die wohl auf fehlende Hygiene zurückzuführen waren. Seine Zähne waren braun und krumm, er roch nicht nur aus dem Mund, sondern aus allen Poren. Daher war es auch kein Zufall, dass trotz des überfüllten Saales die beiden Plätze links und rechts neben ihm frei waren.

»Ich hätte da mal eine Frage an den Staatsanwalt!«

Reis sah in seine Richtung.

»Wäre es nicht sinnvoll gewesen, wenn der Leiter der Ermittlungen sich den Tatort einmal angesehen hätte?«

Der Staatsanwalt blieb gelassen. »Herr Hauptkommissar Kroll hatte am gestrigen Tage noch Urlaub und hielt sich daher leider nicht in Leipzig auf.«

Pottwal sah sich um, um sich zu vergewissern, dass er die ungeteilte Aufmerksamkeit genoss. »Das ist aber eigenartig! Nach meinen Informationen saß er gestern bis ein Uhr im McCormacks und hat anschließend das Taxi über die Motorhaube bestiegen!«

Im Saal brach ein ohrenbetäubendes Gelächter aus.

»Wenn mir dieses fette Schwein das nächste Mal über den Weg läuft, bringe ich es eigenhändig um! Aber besser mit einer Zange, weil man diesen stinkenden Bakterienberg nicht anfassen kann, ohne einen Seuchenalarm auszulösen! Der ist doch die personifizierte Schweinegrippe! Dem sind jetzt wohl alle Fettliposomen ins Gehirn gekrochen!«

Kroll beruhigte sich erst im Büro wieder, weil ihn Wiggins letztendlich mit dem Argument besänftigen konnte, dass die Journalisten jetzt sicherlich über wichtigere Dinge zu berichten hätten als über sein Trinkverhalten. Sie hofften beide, dass er recht behielt.

»Wir müssen unbedingt diese Liane Mühlenberg sprechen«, kam Kroll zurück zum Thema, »aber die ist ja nicht vernehmungsfähig!«

Wiggins dachte einen Moment nach. »Lass mich alleine zu ihr gehen. Schließlich sind wir befreundet. Ich werde das nicht als offizielle Vernehmung hinstellen, sondern als ganz normalen Krankenbesuch.«

Kroll fasste sich an die Stirn. »Scheiße, Wiggins! Ich hab ganz vergessen, dass du mit Lachmann befreundet warst. Tut mir leid. Wie kommst du denn überhaupt mit der Sache klar?«

Wiggins zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Bisher hatte ich noch keine Zeit zum Nachdenken. Ich muss jetzt ohnehin versuchen, die Gefühle außen vor zu lassen. Sonst könnte ich den Fall doch gleich abgeben. Und das will ich ganz bestimmt nicht. Das bin ich Willi und Liane einfach schuldig.« Er griff nach seiner Jacke und ging zur Tür. »Und was machst du jetzt?«

»Ich gehe auf die...