Die letzte Spur - Kriminalroman

von: Charlotte Link

Blanvalet, 2014

ISBN: 9783641141752 , 640 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Die letzte Spur - Kriminalroman


 

November 2002

Es würde schneien an diesem Wochenende. Das hatten die Meteorologen prophezeit, und es sah aus, als könnten sie recht behalten: Es war eisig kalt an diesem Novembernachmittag. Ein scharfer Wind blies aus Nordost. Wer aus dem Haus musste, dem tränten rasch die Augen, und die Haut brannte. Die frühe winterliche Dunkelheit brach bereits herein. Den ganzen Tag war es nicht richtig hell geworden, und nun schien die Dämmerung schon wieder in den Abend überzugehen.

Die junge Frau sah erbärmlich aus. Verfroren, bleich, mit roten Flecken auf den Wangen. Sie hielt beide Arme um ihren Körper geschlungen, als könnte sie der gnadenlosen Kälte, die draußen herrschte, auch hier drin nicht entkommen. Dabei war der Keller des gerichtsmedizinischen Instituts gut geheizt. Jedenfalls der kleine Vorraum, in den Inspector Fielder und seine Mitarbeiterin, Sergeant Christy McMarrow, die Besucherin geleitet hatten, nachdem diese die unbekannte Tote aus dem Epping Forest identifiziert hatte.

Sie hatte nur einen einzigen, kurzen Blick auf das wächserne Gesicht geworfen, sich dann rasch abgewandt und hörbar mit einem Würgen in der Kehle zu kämpfen gehabt. Dabei hatte sie nicht einmal den übel zugerichteten Körper gesehen.

Der, so hatte Fielder gedacht, hätte sie wahrscheinlich in Ohnmacht fallen lassen.

Es hatte ein paar Augenblicke gedauert, bis sie hatte sprechen können.

»Das ist sie. Das ist Jane. Jane French.«

Im Vorraum bat sie um eine Zigarette. Fielder gab ihr Feuer. Ihre Hände zitterten heftig, aber das lag nicht nur an der belastenden Situation. Die Frau war drogensüchtig, das hatte er auf den ersten Blick erkannt. Prostituierte, wie ihre Kleidung verriet. Ihr Rock war so kurz, dass es nicht viel geändert hätte, wenn sie ihn überhaupt nicht getragen hätte. Hauchdünne schwarze Strümpfe, nicht im Mindesten geeignet, sie vor der Kälte zu schützen. Hochhackige Stiefel, eine blousonähnliche Jacke aus einem metallisch glänzenden Stoff, weit geöffnet, um möglichst viel von ihren üppigen, gut geformten Brüsten zur Geltung zu bringen. Sie war jung, Anfang Zwanzig, schätzte Fielder.

»Also, Miss Kearns«, sagte er, bemüht, besonders sachlich und kühl zu erscheinen, um auch ihr Gelegenheit zu geben, sich zu fassen, »Sie sind völlig sicher, dass es sich bei der Toten um eine … Jane French handelt?«

Lil Kearns zog heftig an ihrer Zigarette und nickte. »Absolut. Das ist sie. Hab sie sofort erkannt. Sieht schon … na ja, verändert aus, aber klar, sie ist es!«

»Sie muss fast eine Woche im Wald gelegen haben, ehe sie gefunden wurde. Das heißt, sie wurde um den zehnten November herum ermordet.«

»Ermordet … ist das sicher?«

»Leider ja. Die Art ihrer Verletzungen, die Tatsache, dass sie gefesselt war, als sie gefunden wurde, lässt keinen anderen Schluss zu.«

»Schöne Scheiße«, sagte Lil.

Sie hatte sich am Morgen dieses Tages gemeldet, nachdem die Polizei es schon fast aufgegeben hatte, noch irgendeinen Hinweis auf die Identität der Toten aus dem Epping Forest zu bekommen. Man tappte seit fast vierzehn Tagen völlig im Dunkeln. Spaziergänger hatten die Frau gefunden, und die Art ihrer Verletzungen, die Grausamkeit, die sich in der Gewalttätigkeit offenbarte, mit der sie gequält und umgebracht worden war, hatte selbst hartgesottenen Beamten erst einmal die Sprache verschlagen.

»Das war ein Psychopath«, hatte irgendjemand schließlich gesagt, und alle hatten genickt. Die junge Frau musste einem völlig durchgeknallten Typen in die Hände gefallen sein.

Ihre Kleidung – oder vielmehr: was von ihrer Kleidung noch übrig war – hatte sie als Prostituierte ausgewiesen, so dass die Vermutung nahelag, dass sie zu dem falschen Freier ins Auto gestiegen war. Leider kamen solche Fälle nicht allzu selten vor, auch wenn sie dann nicht mit einer solch beispiellosen Brutalität einhergingen. Aber es liefen jede Menge Perverse herum, und nirgendwo konnten sie sich so bequem bedienen wie auf dem Straßenstrich. Nicht jedem sah man es an, dass er falsch tickte. Inspector Fielder hatte Triebtäter erlebt, die ein Aussehen und Auftreten hatten, dass jede Mutter sie sich als Schwiegersohn gewünscht hätte.

Die Tote hatte keine Papiere bei sich gehabt, und sie passte auch zu keiner der vorliegenden Vermisstenmeldungen. Man hatte ihr Bild in den Zeitungen veröffentlicht, aber auch darauf hatte es zunächst keine Reaktion gegeben. Bis Lil Kearns aufgekreuzt war und behauptet hatte, ihre ehemalige Zimmergenossin erkannt zu haben.

»Die ist seit Anfang März verschwunden! Ohne ein Wort zu sagen. Kam plötzlich nicht mehr wieder. Und jetzt sehe ich sie auf einmal in der Zeitung!«

Fielder hatte wissen wollen, weshalb Miss Kearns das Verschwinden ihrer Freundin nicht angezeigt habe, doch er hatte nur ein Schulterzucken als Antwort bekommen. Er konnte sich den Grund denken: Lil Kearns war auf einen näheren Umgang mit der Polizei alles andere als erpicht. Als Drogenabhängige war sie vermutlich in kriminelle Aktivitäten verstrickt, oder sie kannte zumindest genügend Leute, die sich in der Verbrecherszene bewegten. Sie hatte keine Lust, plötzlich selbst in irgendeinem Schlamassel zu stecken.

Obwohl sie behauptete, das Bild ihrer Freundin erst jetzt in einer alten Zeitung entdeckt zu haben, vermutete Inspector Fielder, dass sie schon über einen längeren Zeitraum hinweg Kenntnis davon gehabt hatte. Sie hatte einigen Anlauf gebraucht, den Weg zu einem Polizeirevier zu wagen. Immerhin aber, sie hatte es getan. Er hatte kein Interesse daran, ihr an den Karren zu fahren. Ihm ging es lediglich um Informationen zur Person des Opfers.

Leider wusste Lil nicht viel zu sagen. Während sie in dem kleinen Zimmer der Gerichtsmedizin stand, an ihrer Zigarette zog und nervös auf ihren halsbrecherisch hohen Absätzen wippte, zählte sie auf, was sie wusste.

»Jane French. Stammt aus Manchester. Ich glaube, nur ihre Mutter lebt noch. Ist vor drei Jahren nach London gekommen. Wollte Karriere machen!« Sie betonte das Wort Karriere in einer Art, dass es fast obszön klang. »Na ja, unter uns, in Wahrheit wollte sie einen netten Typen kennen lernen. Irgendeinen Kerl, der sie heiratet und ihr ein besseres Leben bietet als das, was sie hatte. Sie hat mal diesen Job, mal jenen gemacht … keine Ahnung, was genau. Schließlich stellte sie sich an den Straßenrand. Hatte nichts mehr zu beißen und kein Dach über dem Kopf. Ich hab sie noch angemotzt. Weil es mein Revier war.«

»Wann war das?«, hakte Christy McMarrow ein.

»Vor’m Jahr etwa. Hatte dann Mitleid. Sie durfte bei mir einziehen. Wir sind zusammen anschaffen gegangen.«

»Für wen?«

Lil blitzte Christy an. »Für niemanden! Ich liefere nicht mein Geld bei irgendeinem miesen Zuhälter ab! Jane und ich waren unabhängig.«

»Und im darauffolgenden März verschwand sie?«

»Ja. Tauchte plötzlich nicht mehr auf. Ich komme nachts zurück, sie ist nicht da. Nicht ungewöhnlich. Aber, na ja, sie kam dann eben nie mehr wieder!« Sie warf die Zigarettenkippe auf den Linoleumboden, trat sie aus. »Aber seit März ist sie nicht tot, oder?«

»Nein«, sagte Fielder, »wie gesagt, nicht länger als inzwischen drei Wochen.«

»Komisch. Wo war sie denn in der Zeit dazwischen?«

Das hätte Inspector Fielder auch gern gewusst, aber es sah nicht so aus, als könne Lil Kearns ihnen in dieser Frage weiterhelfen.

»Kennen Sie Freunde von ihr? Bekannte? Irgendjemanden, mit dem sie Kontakt hatte?«

»Nein. Da gab’s, glaube ich, auch niemanden. Obwohl … einmal hab ich gedacht …« Sie sprach nicht weiter.

»Ja?«, hakte Inspector Fielder nach.

»Das war im Januar ungefähr. Da hab ich sie mal gefragt, ob sie jemanden kennen gelernt hat. Näher. Weil sie auf einmal besser angezogen war.«

»Was genau heißt, besser angezogen

»Na ja, schon noch …«, sie grinste, »schon noch Berufskleidung. Sie wissen schon. So wie ich. Aber irgendwie … bessere Qualität. Teurer. Als ob sie plötzlich einfach mehr Kohle gehabt hätte.«

»Und sie gab Ihrer Ansicht nach dabei nicht das Geld aus, das sie selbst verdiente?«

»Nee. Ich kriegte ja mit, was sie verdiente. Das reichte im Grunde vorn und hinten nicht.«

»Sie meinen, sie hatte einen Freund, der ihr Geschenke machte?«

»Hab ich vermutet, ja. Aber sie stritt das ab. Ich hab auch nicht groß weitergefragt. War mir letztlich egal.«

Fielder seufzte. Sie waren insofern weitergekommen, als die Tote nun einen Namen, eine Identität hatte. Leider aber schien der Fall an dieser Stelle zu stagnieren. Lil Kearns führte selbst einen so erbarmungslosen Überlebenskampf, dass sie auf ihre Zimmergenossin nur sehr am Rande hatte achten können. Sie steckte längst in einer Situation, in der ihr andere Menschen egal waren, es sei denn, sie finanzierten ihr den nächsten Schuss.

»Sie haben uns sehr geholfen, Miss Kearns«, sagte er dennoch, »vielen Dank, dass Sie gekommen sind.«

»Ja, klar … ich meine … mir tut das total leid mit Jane. Echt blöd gelaufen!« Sie strich sich die Haare aus der Stirn, auf der noch immer Schweiß glänzte. Es ging ihr gar nicht gut, seitdem sie die Leiche hatte ansehen müssen.

Inspector Fielder kramte seinen Autoschlüssel aus der Tasche. »Kommen Sie«, sagte er, »ich fahre Sie nach Hause.«

»Ehrlich? Das ist total nett!«, sagte Lil dankbar.

Er würde dabei das Zimmer in Augenschein nehmen...