Saeculum

Saeculum

von: Ursula Poznanski

Loewe Verlag, 2014

ISBN: 9783732002191 , 496 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Saeculum


 

Iris zählte die Münzen in ihrer Tasche. 23 Euro 48 für das Hintergrundgeklimpere bei Doro, eine Stunde Amulette-Verkaufen an Almas Stand und die Kinderbetreuung an der Strohballenburg. An jedem bescheuerten Regentag in einer x-beliebigen Fußgängerzone verdiente sie mehr, zum Teufel. Aber egal. Reichen würde es. Für die Con in vier Wochen hatte sie das Geld längst zusammengespart und danach blieb noch genug übrig, um sich für gut zehn Tage über Wasser zu halten. War also echt nur Freundlichkeit von ihr, den Klamottenstand zu betreuen, damit Nadja sich am Lagerfeuer ihre Spareribs reinhauen konnte. Genauso gut hätte sie den Laden für heute dichtmachen können, um diese Zeit kam sowieso keiner mehr.

Sie ließ ihren Blick prüfend nach rechts und links schweifen, doch soweit sie es beurteilen konnte, war alles in Ordnung. Die Menschenmassen, die sich tagsüber auf dem Gelände vor und innerhalb der Burg getummelt hatten, waren ebenso beruhigend wie beängstigend gewesen. Beruhigend, weil man sie wie einen Tarnmantel um sich ziehen und darin verschwinden konnte. Beängstigend, weil für jeden anderen dasselbe galt und man drohendes Unheil nicht von Weitem kommen sah.

Jetzt war es die Dunkelheit, die Schutz und Drohung zugleich bedeutete. Iris spähte ein weiteres Mal um sich, nahm jede Gruppe, jedes Pärchen in der Nähe in Augenschein und konnte nichts Verdächtiges entdecken. Gut. Warum dann nicht noch ein paar Euro mit Musik verdienen?

Sie holte ihre Harfe aus der Instrumententasche und begann, sie zu stimmen. Jeden Tag üben, alle zwei Wochen ein neues Stück lernen. Um ihr Repertoire für die Fußgängerzonen zu erweitern, einerseits. Andererseits für die Zeit, wenn alles vorbei sein würde.

Iris drückte ihren Rücken fest gegen die Stuhllehne, griff in die Saiten und spielte die ersten Takte von Greensleeves. Die Nummer zog beim Straßenpublikum wie die Hölle, weil jeder sie mitgrölen konnte, wie falsch auch immer. In die zweite Wiederholung des Themas hatte sie ein paar schnörkelige Variationen eingebaut, die häufiges Training brauchten. Aber – sie saßen. Ausgezeichnet. Wie erwartet lockte die Melodie bereits Leute an, Iris hörte ihre Schritte und zwang sich, den Blick auf das Instrument gesenkt zu halten. Gefährliche Menschen kicherten nicht albern, sondern näherten sich lautlos, ihre Schläge kamen aus dem Nichts, aus einer trügerischen Stille.

»Hi, Iris. Wo ist denn Nadja?«

Ah. Sandra und ihr neuer Freund mit der Klugscheißerbrille.

»Essen gegangen.« Sie ließ den a-Moll-Akkord ausklingen und seufzte genervt. Die beiden waren nicht der Typ Publikum, der Kohle daließ.

»Oh. Weißt du, wann sie wiederkommt?«

»Keine Ahnung. Wenn sie satt ist, vermutlich.«

Der Brillenheini griff nach einer Leinenhose mit Kordelzug und einem Schnürhemd. »Können wir uns so lange umsehen? Ich würde gern ein paar Sachen probieren.«

A-Moll. C-Dur. »Sicher. Hinten im Zelt ist ein Spiegel, falls du einen brauchst.«

»Danke.«

Iris begann mit ihren Variationen zu Brian Boru’s March und versuchte, Sandras Stimme auszublenden.

»Die Hose kannst du nicht nehmen, du brauchst eine Bruche und Beinlinge.«

»Eine was?« Der Musterschüler klang verwirrt.

»Bruche. Mittelalterliche Unterhose. Die Beinlinge werden dran festgemacht. Total praktisch.«

Amüsiertes Prusten. »Na meinetwegen. Erinnert mich aber stark an eine Windel.«

»Da hängt dann später dein Hemd oder deine Tunika drüber. Nur keine Sorge.«

Iris warf einen kurzen Blick über die Schulter und sah Bernhard? Bert? Balduin? mit der besagten Bruche, drei Paar Beinlingen, fünf Hemden, einer Jacke und diversen Gürteln im Umkleidezelt verschwinden. Jetzt war nur noch Sandra da und versuchte, so zu tun, als würde sie Iris nicht sehen. Blöde Kuh.

Iris legte ihre Harfe behutsam vor sich auf dem Tisch ab. »Wie heißt dein Freund noch mal?«

Tiefes Seufzen. »Bastian.«

Richtig, das war es gewesen. Wie der Junge aus der Unendlichen Geschichte, so würde sie es sich merken.

»Will er etwas kaufen oder bloß rumprobieren?«

Noch mal Seufzen. »Kaufen. Wenn wir das Richtige finden.«

»Das Richtige wofür?«

Sandras Gesichtsausdruck sagte jetzt ganz deutlich »Leck mich«, das war ja spannend. Normalerweise verbarg sie ihre Abneigung geschickter. Aber entweder war sie dafür heute nicht mehr fit genug oder es war ihr gerade egal.

»Ist das deine Sache?«

»Natürlich nicht.« Iris streichelte über den hölzernen Klangkörper ihrer Harfe und stand langsam auf, ohne Sandra aus den Augen zu lassen. »Kann ich dir helfen, Bastian?«, rief sie in Richtung Zelt. »Brauchst du vielleicht auch Schuhe? Es gibt Restpaare, die Nadja günstig loswerden will, wenn du Glück hast, passt dir etwas davon.«

Da kam er schon heraus, mit einem schiefen Grinsen im Gesicht. »Schuhe wären nicht übel. Welche würdest du mir empfehlen? Sandra meint, das Gelände auf euren Cons wäre manchmal unwegsam oder schlammig …«

Also doch. Iris drehte sich zu Sandra um. »Du willst ihn zur nächsten Con mitnehmen?«

»Ja. Und?«

»Und? Keiner kennt ihn, wer weiß, ob er es überhaupt durchhält. Ob er ein brauchbarer Spieler ist.«

Sie ging näher an Sandra heran und senkte ihre Stimme. »Ob wir ihm trauen können. Woher willst du wissen, dass er nicht zur Polizei rennt und uns verpetzt, dein Musterschüler? Was sagen denn Carina und Paul?«

Sandra würdigte sie keiner Antwort, sondern schob sich an ihr vorbei, um Bastian beim Binden seines Schnürhemds zu helfen.

»Sieht gut aus«, sagte sie. »Die Beinlinge passen auch, und wenn du mich fragst, ich würde den Gürtel mit der Drachenschnalle dazunehmen.«

Er schlang ihn sich um die Taille, stemmte die Hände in die Hüften und sah Iris mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ist das okay für einen Musterschüler?«

Hoppla. »Ja, ist akzeptabel. Aber wenn du wirklich vorhast, auf unsere Con mitzukommen, würde ich mir an deiner Stelle ein paar Sachen mehr zulegen. Noch ein Hemd, ein Wams, zwei Paar Beinlinge. Ein gutes Messer. Eine Gürteltasche aus Leder und einen größeren Tragesack aus Leinen. Einen Trinkschlauch – aber ohne Plastik innen, sonst ist er gegen die Vorschriften, ein eigenes Kochgeschirr und eine warme Wolldecke.«

Bastian sah sie mit großen Augen an.

»Die Gürteltasche bekommst du bei mir, für die anderen Sachen musst du dich umsehen. Das meiste wirst du hier auf dem Markt finden.«

Er nickte langsam. Sah zwischen ihr und Sandra hin und her, als wartete er auf etwas. Klar, er hatte die Bemerkung mit der Polizei gehört und kriegte gerade Schiss. Umso besser.

»Wenn du weißt, was du kaufen willst – ich warte vorne beim Kassentisch.« Iris ließ die beiden vor dem Umkleidezelt stehen, ging zurück zu ihrer Harfe und hob sie auf ihre Knie. Die Berührung des glatten Holzes und der straff gespannten Saiten taten ihr gut, so war es immer. Als die ersten Töne von Tourdion durch die Nachtluft aufstiegen, hatte sie ihr Gleichgewicht beinahe wiedergefunden. Dieser Bastian war harmlos. Sollte er eben mitkommen. Weder er noch Sandra konnten ihr die fünf Tage im Jahr verderben, an denen sie sich sicher fühlte.

Ihr Spiel lockte Zuhörer an und sie überlegte kurz, ob es sich doch lohnen würde, einen Becher für Münzen aufzustellen. Nein. So war es richtig, sie wollte keine Unterbrechung, sondern weiterspielen und dem kleinen Mädchen zusehen, das sich zur Musik kichernd und mit fliegendem Rock um die eigene Achse drehte.

Drei Stücke später kamen Bastian und Sandra aus dem Zelt und legten einen Haufen Kleider auf den Kassentisch. Iris suchte nach den handgeschriebenen Preiszetteln und begann zu addieren. Das war kein übles Geschäft – der Kerl musste richtig Geld haben. Nadja würde sich freuen.

»Gehört die dir?«, fragte Bastian und berührte mit den Fingerspitzen die Harfe. Prompt kam Iris aus dem Konzept und verrechnete sich.

»Wem denn sonst.« Es klang ärgerlich, sogar in ihren eigenen Ohren. Aber was war das auch für eine hirnverbrannte Frage? »Und wenn es dir nichts ausmacht, fass bitte mein Instrument nicht an.« Sie sah Bastians Hand zurückzucken und verlor ein weiteres Mal den Faden beim Addieren.

»Sorry. Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass es großartig geklungen hat. Du bist echt begabt.«

Worauf du deinen Arsch verwetten kannst. »Danke.«

Er ließ immer noch nicht locker. »Das ist doch eine Harfe, oder? Weil sie so klein ist, meine ich.«

Iris seufzte und legte den Stift weg. »Es ist eine Bardenharfe, eine größere eignet sich nicht so gut, wenn man viel herumreist. Sie ist handlich und es ist alles dran, was man braucht. Hast du sonst noch Fragen oder kann ich jetzt weitermachen?«

Kaum war Iris mit dem Zusammenrechnen fertig, nahm Sandra den Beleg an sich und rechnete nach.

Zahlt doch endlich und verzieht euch. Iris blickte sehnsüchtig auf ihre Harfe. Sie wollte nichts lieber tun als weiterspielen, aber ohne den beiden Turteltäubchen eine private Vorstellung zu geben. Zum Glück hatte Sandra ohnehin etwas anderes vor.

»Wir sollten uns beeilen, sonst verpassen wir die Gaukler und das wäre richtig schade.«

Iris war kurz versucht, das Wechselgeld extra langsam und umständlich herauszugeben, aber dann siegte ihr eigener Wunsch nach Ungestörtheit über das Bedürfnis, Sandra ein wenig zu piesacken. Obwohl …

»Sind denn die Tänze schon vorbei?«, fragte sie Bastian, während...