Professor Vitzliputzli - Karl May´s Gesammelte Werke Band 47

von: Karl May

Karl-May-Verlag, 1979

ISBN: 9783780215475 , 468 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Professor Vitzliputzli - Karl May´s Gesammelte Werke Band 47


 

DIE VERHEXTE ZIEGE (S. 358-359)

Es klopfte an die Tür des Schlafzimmers und eine helle Mädchenstimme rief: „Papa, steh auf, die Stube ist jetzt warm!“ „Gleich!“, schnarrte es unter der sich bewegenden Bett- decke hervor. Eine weiße Zipfelmütze kam zum Vorschein, darunter eine fürchterliche, scharf gebaute Nase, dann eine dünne schiefe Linie, im gewöhnlichen Leben Mund genannt, ein aufwärts gebogenes, spitzes Kinn, ein weit hervortre- tender Kehlkopf, eine hochrote Gesundheits%anelljacke, zwei unendlich lange Beine in einer weiten, schlingernden Schlafhose, und nun stand er da, der Herr Stadtrat, Haus- apotheker und Kohlenwerksbesitzer Hermann Püschel in Raschnitz, stieß die beiden Fäuste soweit wie möglich ab, spaltete die dünne Linie zu einem letzten kraftvollen Gähnen und trat an die Wand, wo über dem Waschtisch der unvermeidliche Abreißkalender angebracht war.

„Was haben wir denn heute für ein Datum? Sapperlot, den ersten Oktober, das ist einer von den vier großen Unglückstagen im Jahr; am ersten Januar ist Adam aus dem Paradies vertrieben worden, am ersten April ging die Sint%ut los, am ersten Juli sind Sodom und Gomorra un- tergegangen und am ersten Oktober wurde der Teufel vom Himmel zur Erde heruntergeworfen. Nun geht er den ganzen Tag und besonders am Abend umher und treibt allerlei Unfug mit Mensch und Tier. Ich will nur gleich das Amulett umhängen, das meine selige Mutter von der alten Zigeunerin erhalten hat; da bin ich sicher, dass mich der Böse ungeschoren lässt!“

Der wohlehrbare Herr Stadtrat gehörte nämlich zu dem kleinen Häu%ein von Gläubigen, denen die Sage heilig, der Kalender untrüglich und die Welt der Geister und Gespenster eine unumstößliche Gewissheit ist. Wer es wag- te, an diesen Dingen zu rütteln, der hätte es auf immer mit ihm verdorben, obgleich er sonst, wenn man ihn richtig zu nehmen verstand, ein Mann war, mit dem es sich prächtig auskommen ließ. Er fuhr in seine Kleidung und trat dann in die Wohn- stube. „Guten Morgen!“ „Guten Morgen, Papa“, antwortete das Mädchen, aber ohne die sonstige Freundlichkeit in den weichen Zügen. Er warf einen halb prüfenden, halb unsicheren Blick auf sie. „Ich ho#e, dass du über Nacht zu Verstand gekommen bist! Wo bleibt die Milch?“

„Du wirst heute welche von der Kuh trinken müssen, Papa.“ „Von der Kuh? Warum?“ „Weil – weil – das Mädchen mag es dir selber sagen!“ Sie eilte fort und brachte nach wenigen Augenblicken das sichtlich verlegene Dienstmädchen zur Tür hereingescho- ben. „Was ist’s“, fragte er erwartungsvoll, „dass ich heute Kuhmilch trinken soll? Weißt du nicht, dass ich sie nicht vertragen kann?“ „Herr Stadtrat, die Ziege ist – die Ziege muss – die Zie- ge hat...“ „Nun, was ist, was muss, was hat meine Angoraziege? Heraus damit!“ „Die Angoraziege hat – sich – heute Nacht – heute Nacht erhängt.“ „Erhängt? Meine Angoraziege – erhängt? Du hast wohl den Verstand verloren, he?“ „Nein, den habe ich noch, aber die Ziege, die ist futsch!“ „Also vorwärts, was hat’s gegeben?“ „Sie muss eine unruhige Nacht gehabt und sich dabei mit dem Kopf in den Strick verwickelt haben; denn als ich heute früh in den Stall kam, um sie zu melken, hing sie...“ „Nun, hing sie...?“"