Schuld und Schulden - Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945

von: Constantin Goschler

Wallstein Verlag, 2013

ISBN: 9783835320697 , 543 Seiten

2. Auflage

Format: PDF, OL

Kopierschutz: frei

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Preis: 29,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Schuld und Schulden - Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945


 

VI. Wiedergutmachung in der DDR (1949-1989) (S. 361-362)

1. Antifaschismus und Sozialpolitik


Bereits am Ende der Besatzungszeit hatten West- und Ostdeutschland in der Wiedergutmachungsfrage verschiedene Entwicklungspfade eingeschlagen, die eng mit dem gegensätzlichen Systemcharakter verknüpft waren. Dabei spielten auch unterschiedliche Prioritäten der Besatzungsmächte eine gewichtige Rolle: So stand in der DDR die Reparationsfrage an erster Stelle, während die Frage individueller Entschädigungen für NS-Verfolgte weitaus geringere Bedeutung als in der Bundesrepublik besaß.

Aufgrund der hohen Reparationsbelastungen der DDR1 – im dortigen Sprachgebrauch anders als in der Bundesrepublik als »Wiedergutmachung « bezeichnet – entstand in der ostdeutschen Bevölkerung schließlich der Eindruck, man habe allein für die nationalsozialistischen Verbrechen bezahlt. Diese Selbstwahrnehmung als Opfer alliierter Reparationspolitik wurde noch durch den Eindruck verstärkt, dass der »Westen « durch Marshallplanhilfen aufgepäppelt worden sei.

Gleichzeitig herrschte Konsens zwischen Regierung und Bevölkerung, dass die DDR nicht in der historischen Kontinuität des Deutschen Reiches und damit auch nicht in der Verantwortung für die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland stünde. Auf diese Weise existierte in Ostdeutschland kein mit Westdeutschland vergleichbarer Schulddiskurs.

Aber auch ein weiteres wichtiges Charakteristikum im Umgang mit den NS-Verfolgten hatte sich bei Gründung der DDR bereits herauskristallisiert und bis 1952, als auf der zweiten Parteikonferenz der SED der Aufbau des Sozialismus verkündet wurde, endgültig verfestigt: Die ostdeutsche Politik der Wiedergutmachung gehorchte dem Primat der gesellschaftlichen Umwälzung im sozialistischen Sinne.

Eine Interpretation der Wiedergutmachungsfrage in der DDR im Lichte der offiziellen Parteilinie bietet die im selben Jahr abgeschlossene juristische Dissertation Wolfgang Vogels, der später unter anderem eine wichtige Rolle als Anwalt bei Geheimverhandlungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik über den Freikauf politischer Gefangener spielte. Vogel meinte, die Rückerstattungs- und Entschädigungsproblematik könne nicht über der Parteipolitik stehen. Aufgabe sei es vielmehr, die »antifaschistischen, demokratischen Kräfte« sowie die »demokratische Erneuerung Deutschlands « zu stärken.

Tatsächlich war das in der Besatzungszeit noch diskutierte »bürgerliche« Entschädigungsprinzip schon bis zur Gründung der DDR fallen gelassen worden. An seine Stelle trat das Prinzip der »permanente[n] Soforthilfe mit Zügen einer sozialen Privilegierung«4. Die ökonomische Schwäche Ostdeutschlands wie auch die durch die Sozialisierungspolitik gesetzten Fakten zogen dabei der Möglichkeit von Schadensersatz und Rückerstattung zusätzlich enge Grenzen. Zugleich zeigte sich die Orientierung an einer anderen gesellschaftspolitischen Zielgröße als in der Bundesrepublik: soziale Sicherheit (statt Wiederherstellung verlorener Rechte) bildeten in der DDR den Hauptmaßstab auch in der Frage der individuellen Wiedergutmachung für NS-Verfolgte.

So kam es nicht zu jener Monetarisierung der Entschädigung, die in der Bundesrepublik frühzeitig einsetzte. Ein bloßer Vergleich auf der Ebene der materiellen Leistungen an NS-Verfolgte wäre deshalb irreführend. Stattdessen müssen die unterschiedlichen Strukturen des Umgangs mit den Verfolgten in den Blick genommen werden.