Kirmeskronen - Kommissar Kattenstrohts fünfter Fall

von: Hans-Peter Boer

Landwirtschaftsverlag, 2013

ISBN: 9783784390604 , 184 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Kirmeskronen - Kommissar Kattenstrohts fünfter Fall


 

Fast genüsslich ließ sich der alte Mann gegen die Rückenlehne der Bank zurückfallen. Zufrieden schaute Bernd Appelhans über seinen Garten, die späten, aber doch üppigen Sommerstauden, den plätschernden Brunnen und den sattgrünen Rasen. Alles war ordentlich, geharkt und gefügt, so wie alles in der Welt des ehemaligen Werkzeugmachers seine Präzision und Ordnung hatte. Ein sanftes Aufstoßen erinnerte ihn an das Abendessen. Lisbett hatte Apfelpfannkuchen gebacken mit Schnitzeln vom Boskop, dessen Zweige noch immer die rückwärtige Gartenmitte beherrschten und der Familie Appelhans wenigstens über weite Teile des Jahres Sichtschutz gegen die allzu neugierigen Nachbarn boten: Apfelpfannkuchen mit einer Prise Zimt. Nun würde noch ein kühles Bier den Abend einläuten, und dann würde der alte Herr auf der Terrasse das genehmigte Zigarillo schmauchen, bei dem Lisbett stets so kritisch guckte. Appelhans war’s zufrieden. Von den einst mehr als vierzig Zigaretten am Tag war nur dieses allwöchentliche Zigarillo übrig geblieben. Bernd Appelhans liebte es, die blauen Wölkchen in die Luft aufsteigen zu lassen.

Plötzlich kam eine gewisse Unruhe auf. Die Hausfrau erschien auf der Terrasse, klappte den mobilen Wäscheständer auseinander und hängte feuchte Tücher zum Trocknen auf. Offensichtlich war in der Küche schon wieder Ordnung geschaffen, denn Lisbett Appelhans stieg zügig die Stufen von der Terrasse herunter und setzte sich zu ihrem Gatten auf die Gartenbank. Natürlich hatte sie noch eigene Pläne für den Abend, denn wacker schlug sie ihrem Mann vor, angesichts der schönen seidigen Abendluft und der späten Sonne noch eine kleine Radtour zu unternehmen. Vielleicht am Kanal entlang und dann auf ein Bier zu Thiers hinterm Busch.

Die Traditionskneipe lockte auch Bernd Appelhans. Zwar wäre er eigentlich lieber auf seinem Erbe sitzen geblieben, wie er sich ausdrückte, aber Lisbett ermunterte ihren Gatten mit Nachdruck. Der seufzte tief, kontrollierte in der Garage bei den Rädern den Luftdruck der Reifen, verpasste einem von ihnen noch etwas Luft und schob beide Fahrräder auf den Garagenvorplatz. Bald ging es los, und schließlich fand sich das in Rentnerbeige recht einheitlich gekleidete Paar auf dem Leinpfad am Kanal wieder. Gemächlich radelten sie die Wasserstraße entlang, verfolgten das eine oder andere Schiff, wichen Joggern und Walkern aus und bestaunten die Sonnenlustigen, die auch den letzten Strahl der Spätsommersonne noch einzufangen versuchten. Bernd Appelhans musterte gelegentlich die eine oder andere junge Dame, die sich trotz der aufsteigenden Abendkühle noch freizügig zeigte, und empfing dafür mahnende Worte seiner Frau, er möge gefälligst auf den Weg achten und nicht auf die jungen Töppkes.

Sie passierten eines der noblen Wohngebiete in Münsters Osten, als ein Kinderruf Lisbetts Aufmerksamkeit erregte. Mehrfach schallte es im Chor von Kinderstimmen melodisch zwischen den Häusern her: „Kinder, kommt runter …!

„Meineh, es ist doch noch Licht. Rufen die schon zum Lambertus?“ Lisbett Appelhans’ Interesse war geweckt. Sie hielt kurz an, hielt ihre Nase in den Wind, lauschte und entschied dann, ohne ihren Bernd zu beteiligen, den Leinpfad zu verlassen und in das Wohngebiet zu fahren. „Kinder, kommt runter! Lambertus ist munter!“,war es jetzt deutlich zu hören. Zwischen Hecken führte ein Patt seitwärts ab. Ein großer gelber Mondlampion aus bedrucktem Papier hing einsam an der Ecke. Ein kopiertes Blatt, zum Schutz gegen den Regen in eine Plastikhülle gesteckt, verkündete, dass die Nachbarschaft Röttgerskamp alle Kinder der Gegend zum Lambertusfest einlade: „Und guck mal, Bernd, just heute Abend. Lass uns doch mal gucken, was das gibt!“ Zielstrebig steuerte die Rentnerin ihr Rad durch das enge Pättken und ließ ihrem Mann nur die Wahl, ihr zu folgen.

Die Straße Röttgerskamp lief hier am Kanal in einem Wendehammer aus. Am Übergang zur Straße hatte man eine Warnbake aufgestellt, wohl um Fremdparker abzuhalten und den fast runden Platz frei zu halten. In der Mitte stand eine Pyramide aus Dachlatten, mit Blumen und Ranken geschmückt. Erste Laternen hingen darin, weitere Kinder und Mütter standen herum und bemühten sich, zwischen den Blumen und Efeuranken die Bohrungen in den Latten zu finden, in die man die Laternenstiele einschieben konnte.

Mehr und mehr Kinder liefen zusammen. In Grüppchen kamen sie die Straße herauf, kleine an den Händen der Mütter, ganz kleine im Kinderwagen, größere mit dem schon überlegenen, leicht arroganten Lächeln der Vorpubertät. Letztere suchten sich Plätze am Rand und erkletterten die Pfeiler der Gartentore, von denen aus man einen besonders schönen Blick hatte. Am Rande des Geschehens standen mehrere ältere Nachbarn: Männer und Frauen, die sich untereinander absprachen, wie denn weiter vorzugehen sei. Ein alter Herr klappte ein hölzernes Futteral auf und hängte sich mit gekonnten Griffen ein großes Akkordeon um. Der junge Vater neben ihm beschränkte sich auf eine kleine Trommel.

Emsig lief die Nachbarschaftspräsidentin durch die Gegend; sie zeichnete seit vielen Jahren verantwortlich für die jährliche Veranstaltung des Lambertusspiels, dessen Liedtexte und Spielanweisungen, auf DIN-A3-Bögen kopiert, nun an potenzielle Sängerinnen und Sänger verteilt wurde. Das Ehepaar Appelhans wurde natürlich mit eingebunden. Längst standen die Fahrräder aufgebockt an einem Gartentor, und Lisbett summte beim Durchblättern der Lieder jene alten Melodien, die einem Kind in Münster bis auf den Tag sogar in der Schule noch beigebracht werden: „Guter Freund, ich frage dir.“ „Bester Freund, was fragst du mir?“ „Sag mir, was ist Eins!“

Die Nachbarschaftspräsidentin ließ nun per Akkordeon einen Tusch aufspielen, begrüßte mit wohlgesetzten Worten die Erschienenen, vor allem die Kinder, und erklärte das diesjährige Spiel für eröffnet. Mit pädagogischem Talent fragte die drahtige Dame die jungen Eltern nach den Spielwünschen ab, und schon ging der Schornsteinfeger spazieren, fing sich der Schneider eine Maus und schickte der Herr den Jäger aus. Die älteren Nachbarn kannten natürlich die teils endlosen Reihenlieder und fügten, ohne zu holpern, Strophe um Strophe aneinander. Die Kinder dagegen brauchten schon Unterstützung. In drei gegenläufigen Kreisen zogen sie um die Pyramide, deren Lampions im nun mehr und mehr sinkenden Abendlicht immer heller zu strahlen begannen. Junge Mütter trugen ihre Kleinkinder auf dem Arm durch den Kreis, die Kleinen an der Hand schoben sich manchmal nur langsam vorwärts, und Bernd Appelhans kommentierte, in seiner Jugend habe man auf dem Schulplatz sieben komplette Kreise gehabt, alle Kinder hätten singen können, und so kleine Blagen hätte man bei der wichtigen Übung des Lambertussingens gar nicht zugelassen.

Schließlich erklang „Guter Freund, ich frage dir“ mit seinen zwölf langen Strophen, in denen Glaubensgeheimnisse und Symbole aufgezählt werden. Flüssig ging dieses wohl wichtigste Lied der Lambertusfeier den Älteren von den Lippen: „Zehn Gebote Gottes, neun Chöre der Engel, acht Seligkeiten, sieben Sakramente, sechs Krüge mit rotem Wein, die schenkt der Herr zu Kana ein, Kana in Galiläa!“ Manch einer hörte die alten Zeilen wohl nicht ohne Rührung. Doch blieb am Ende nur wenig Zeit zum Atemholen.

„Nun wollen wir doch mal gucken, wo der Bauer bleibt! Seht ihr ihn schon?“, fragte die Leiterin des abendlichen Spiels laut in die Runde. Eltern und Großeltern sangen auf Plattdeutsch nach einer rhythmischen Melodie: „De Buer de kümp, de Buer de kümp, de Buer de kümp nao lange nich!“ Erwartungsvoll schaute alles die Straße hinauf.

Tatsächlich entstand auf einem der Garagenvorplätze Unruhe. Ein einzelner Mann setzte sich dort in Bewegung und schob eine altertümliche Schubkarre vor sich her. Auf der war ein Bund Stroh platziert, dahinter eingeklemmt am Seitenbrett ein geflochtener Weidenkorb.

Die Erscheinung kam näher und näher. Nun erkannte man, dass der Buer Holzschuhe an den Füßen trug und lederne Gamaschen an den Waden. Über seiner schwarzen Manchesterhose trug er einen blauen Kittel, der mit Blaudruck-Motiven am Saum und an den Manschetten verziert war. Eine schwarze Schirmmütze und ein rotes Halstuch rundeten die Tracht des Kiepenkerls ab. Merkwürdigerweise baumelte unter dem Mützenrand ein Pferdeschwanz aus dichten grauen Haaren hervor. Der Mann war groß, schlank, jenseits der sechzig und ließ eine kleine Mutz in seinem rechten Mundwinkel hängen. Mit wachen Augen überblickte er die Schar der Kinder und Erwachsenen: „Mein Guott, leiwe Lüde, wat roopet Ji nao den Buern?“

Spontan setzten einige der Sängerinnen und Sänger ein und begrüßten den Bauern melodisch: „Gueden Dagg, Buer, in de Stadt!“

Der schob seine Karre an die Seite, nahm den Korb, für den sich umgehend mehrere Kinder interessierten, und stellte sich neben die jetzt hell leuchtende Pyramide in die Mitte des Kreises.

„O Buer, wat kost dien Hei?“ – „Bauer, was kostet dein Heu?“ Der Höhepunkt des Lambertusspiels war erreicht.

Mit volltönender Stimme sang der Alte, während er langsam die Pyramide umschritt, dabei auch mal an seiner Pfeife zog und auf das eine oder andere Kind im dichten Ring deutete:

„Mien Hei, dat kost ’ne Kron,

mien Hei, dat kost ’ne Kiärmeskron,

juchheißa-vivat Kiärmeskron!

Mien Hei, dat kost ’ne Kron!“

Schon beeilten sich die Spieler, dem Bauern zuzusingen, dass dies doch viel zu teuer sei: eine Krone, und mochte es auch eine Kirmeskrone sein, nur für einen Bund Heu? Das Geschäft kam wohl nicht zustande,...