Mit einem Koffer voll Hoffnung - Österreich als neues Zuhause - 15 Lebensgeschichten

von: Andrea Heigl

Residenz Verlag, 2013

ISBN: 9783701744213 , 144 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,99 EUR

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Mit einem Koffer voll Hoffnung - Österreich als neues Zuhause - 15 Lebensgeschichten


 

Drei Pfeiler für ein gelungenes Leben


MARTIN BLUM
Von Prag nach Salzburg und Wien


Martin dachte, sie würden auf Urlaub fahren. Weg aus Prag mit seiner schlechten Luft, die dem sechsjährigen, asthmakranken Buben andauernd zu schaffen machte, für ein paar Tage oder Wochen nach Jugoslawien. Doch er und seine Mutter waren nicht auf Urlaub, sie waren auf der Flucht. 1987 war das, nur zwei Jahre, bevor Schluss war mit dem Kommunismus in der damaligen Tschechoslowakei; Schluss mit den Repressionen, die die Familie aus ihrer Heimat wegtrieben.

Martins Eltern hatten den »Urlaub« bis ins letzte Detail geplant: Mutter und Sohn beantragten von Jugoslawien aus eine Durchreisegenehmigung durch Italien, angeblich, um schneller in die Tschechoslowakei zurückzukommen. Doch genau das hatten sie nie vor, ihr eigentliches Ziel war Österreich. Der Vater war gleichzeitig zum »Urlaub« seiner Frau beruflich in Paris, er tauchte einfach nicht mehr auf, als der Bus mit den Arbeitskollegen wieder zurück in die Tschechoslowakei fahren sollte, und schlug sich über die Schweiz nach Österreich durch.

Im Flüchtlingslager im niederösterreichischen Traiskirchen haben sich die drei schließlich wieder gesehen. »Das klingt so dramatisch«, sagt Martin gut 25 Jahre später, als er die Geschichte seiner Flucht erzählt, und es klingt fast, als würde er sich selbst ein bisschen darüber wundern, wie sich das alles in seinen eigenen Ohren anhört. Mitbekommen hat er von diesen dramatischen Stunden als Kind natürlich nichts, er wähnte sich stets in Sicherheit – »das ist ein großes Verdienst meiner Eltern«.

Auch seine Erinnerungen an Traiskirchen, an jenes Quartier, das heute fast schon symbolhaft für den österreichischen Umgang mit Flüchtlingen steht, sind spärlich. »Ich weiß nur noch, dass wir mit 20, 30 Leuten in einem Zimmer geschlafen haben.« Doch das Ziel seiner Eltern waren ohnehin die Berge. Sie haben sich beim Skifahren kennen- und lieben gelernt, und die Liebe zur Natur, der Drang nach Freiheit haben sie dazu gebracht, die Tschechoslowakei auf diesem abenteuerlichen Weg zu verlassen. Martins Mutter war als Diplomatentochter in aller Welt aufgewachsen, Berlin, Rom, Paris, Teheran. 1968 wurde der Großvater aus der Regierung hinausbefördert. Weil er aktiv am Prager Frühling beteiligt war, galt er als Feind des Kommunismus; seiner Tochter wurde sogar verboten, in der Tschechoslowakei zu studieren – erst viele Jahre später holte sie das in Österreich nach.

Martin erinnert sich noch genau an die einzigen drei deutschen Worte, die er beherrschte, als er begann, in St. Georgen am Attersee zur Volksschule zu gehen: Hund, Katze, Maus. Gelernt hat er sie von der Mutter, die als Kind vier Jahre lang in Ostberlin gelebt und in der Tschechoslowakei Deutsch unterrichtet hatte. Martin war das einzige »Ausländerkind« und fühlte sich zunächst ausgeschlossen – mit den Sprachkenntnissen änderte sich das aber rasch. Die Familie zog weiter nach Salzburg, und als Martin dort in die 3. Klasse Volksschule kam, »habe ich schon so gut Deutsch gesprochen, dass die Kinder gar nicht gemerkt haben, dass ich aus der Tschechoslowakei komme«.

Schon 1991 erhielt die Familie die österreichische Staatsbürgerschaft, nicht zuletzt wegen der guten diplomatischen Kontakte des Großvaters, die sich trotz seines Quasi-Berufsverbots über die Jahre erhalten hatten. Von den Salzburger Kindern unterschied Martin vor allem der finanzielle Status der Familie. »Bei uns gab es keine Geschenke, keine Geburtstage bei McDonald’s. Das hat mich schon geprägt, ich denke, ich habe einen gesünderen Zugang zu Wertsachen. Eine gewisse Wurschtigkeit.« Besitz anzuhäufen, wie es so viele in seinem Alter anstreben, das sei ihm nach wie vor überhaupt kein Anliegen, sagt Martin.

Gut zwei Jahre nach der Flucht der Familie zerfiel der Kommunismus in der Tschechoslowakei. »Wir hatten damals keinen Fernseher, wir waren ja noch in der Flüchtlingsunterkunft in St. Georgen. Aber ich kann mich erinnern, dass meine Eltern irgendwann gesagt haben: Jetzt ist es aus.« Aber zurück in die alte Heimat wollten sie nicht mehr, sie hatten schließlich hier einen Job, eine Wohnung, ein neues Leben. Die Familie begann, jedes Wochenende die Großeltern in Budweis zu besuchen. Die Grenze, die früher so unüberwindbar war, konnte man plötzlich ganz einfach überqueren. Nur wenige Stunden trennten die Städte, die früher fern wie zwei unterschiedliche Planeten schienen.

Gleichzeitig sorgten die Eltern dafür, dass Martin das Tschechische nicht fremd wurde – nicht die Sprache, die in der Familie immer gesprochen wurde und wird, aber auch nicht die Kultur. Immer und immer wieder liefen zu Hause Videos von Miloš Forman, dem tschechisch-stämmigen, Oscar-gekrönten Regisseur. »Der Feuerwehrball« blieb Martin besonders in Erinnerung, ein Film, der in der Tschechoslowakei verboten wurde.

Er handelt von einem Feuerwehrball, bei dem eine Schönheitskönigin gekürt wird. Das Fest gerät außer Kontrolle, als sich die Parteifunktionäre einmischen. Ein Schelm, wer eine Parallele zum Kommunismus erkennt. »Dieser Witz, diese subversiven Elemente, ich denke, die sollten das Leben in der Tschechoslowakei ein bisschen lustiger machen, oder zumindest erträglich. Forman fängt die tschechische Seele so gut ein, das ist unnachahmlich«, sagt Martin. Was den Österreichern Qualtingers Herr Karl sei, sei den Tschechen das Werk von Miloš Forman. »Seine Filme sind von so einer Situationskomik geprägt – die gibt es in österreichischen Filmen gar nicht.«

Die Sehnsucht nach der alten Heimat hat seine Eltern nie verlassen. Als die Ehe zerbrach, ging der Vater zurück nach Prag – und Martin bekam einen neuen Nachnamen: Er und seine Mutter hießen von da an Blum, der alte jüdische Name seiner Familie, den sein Großvater nach dem Zweiten Weltkrieg abgelegt und gegen den slawischen Namen Borski eingetauscht hatte. Martin sagt, mit dreizehn Jahren fand er die Namensänderung »aufregend« – er hatte das Gefühl, ein Stück Familiengeschichte weiterzutragen, der jüdische Name war plötzlich kein Stigma mehr. Alles andere als eine Selbstverständlichkeit und viel mehr als nur eine Randnotiz in seiner Biografie.

Martins Urgroßeltern waren in Auschwitz ums Leben gekommen, der damals 17-jährige Großvater hatte sich nach einer abenteuerlichen Flucht durch die Wälder einer Partisanengruppe angeschlossen und so den Krieg überlebt. Martin sagt, die Familiengeschichte habe ihn politisiert. »In meiner Jugend habe ich erlebt, dass sich die Burschen in Salzburg mit >Sieg Heil< begrüßt haben, nicht weil sie Nazis waren, sondern weil sie das für lustig hielten. Manchmal bin ich auch mit Leuten ins Gespräch gekommen, habe ihnen erzählt, dass ich jüdische Wurzeln habe, und die haben dann von irgendwelchen angeblichen schlechten Erfahrungen mit Juden erzählt. Ich bin nie direkt angefeindet worden, aber man spürt den Antisemitismus schon in solchen Kleinigkeiten.« Damals, mit fünfzehn, hat sich Martin nicht getraut, gegen solche Bemerkungen lautstark aufzutreten, erzählt er heute, und er rechtfertigt sich: »Was sollst du schon sagen als Einziger in einer Runde aus Burschen? Heute würde ich mich natürlich wehren.«

Nach der Matura wurde Salzburg für Martin zu klein. »Es ist im Grunde wie ein kleines Dorf, das halt wegen der Festspiele viel von sich hält. Aber eigentlich laufen die Menschen dort mit Scheuklappen durch die Welt, sie wollen nichts Neues.« Martin arbeitete im Ausland, organisierte Ski-Projekte in den französischen Alpen, bevor er schließlich nach Wien ging, wo er heute Psychologie studiert.

Er ist ein »unsichtbarer Migrant« mit einem österreichisch klingenden Namen und geschliffenem Deutsch, aber »verösterreichert«, sagt er, das sei er ganz und gar nicht. »Ich bin stolz darauf, dass ich Tscheche bin, und sage das auch immer. In Wien wird das positiv wahrgenommen, weil praktisch jeder, dem ich begegne, irgendwo herkommt. Mein Freundeskreis ist eine echte Melange.«

Irgendwie schließt sich damit auch der familiäre Kreis, Martins Urgroßvater, Julius Blum, war Geschäftsmann in Wien. Seine Vorfahren waren Mitglieder jüdischer Sportclubs, bevor die Nazis diese aufgelöst haben. Nun spielt Martin selbst bei der Hakoah Basketball, mit seinen jüdischen Mitspielern feiert er – obwohl Atheist – hin und wieder Sabbat. Bei der Makkabiade, den jüdischen Olympischen Spielen, ist er für seine neue Heimat angetreten. »Bei diesem Ereignis war ich sehr stolz, für Österreich zu spielen.«

Und was ist tschechisch an Martin? »Ich würde sagen, dass ich mehr Chuzpe bin als die meisten Österreicher.« Das mache diese Mischung aus jüdischer und tschechischer Mentalität, mit der er aufgewachsen sei: »Im Kommunismus war nichts erlaubt, und man musste manchmal ein bisschen dreist sein,...