Frühling, Sommer, Herbst und Tod - Vier Kurzromane

von: Stephen King

Heyne, 2013

ISBN: 9783641127985 , 720 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Frühling, Sommer, Herbst und Tod - Vier Kurzromane


 

1

Er sah wie der typische amerikanische Junge aus, als er auf seinem Fahrrad mit dem heruntergezogenen Lenker durch eine Wohnstraße des Vororts fuhr, und genau das war er auch: Todd Bowden, dreizehn Jahre alt, eins zweiundsiebzig groß und gesunde fünfundsechzig Kilo schwer, strohblondes Haar, weiße, gleichmäßige Zähne und eine leicht gebräunte Haut, die noch nicht die geringsten Spuren von Jugendakne aufwies.

Er lächelte ein Sommerferienlächeln, als er nicht weit von seinem eigenen Haus durch Sonne und Schatten radelte. Er sah aus wie ein Junge, der vielleicht Zeitungen austrug, und das war tatsächlich der Fall – er verteilte den Santo Donato Clarion. Er sah außerdem aus wie ein Junge, der vielleicht gegen Provision Glückwunschkarten verkaufte, und auch das hatte er schon getan. Es war die Sorte, in die der Name des Kunden eingedruckt wurde – jack und mary burke oder don und sally oder die murchisons. Er sah aus wie ein Junge, der vielleicht bei der Arbeit pfiff, und das tat er auch oft. Er konnte sogar sehr gut pfeifen. Sein Vater war Architekt und verdiente vierzigtausend Dollar im Jahr. Seine Mutter hatte am College im Hauptfach Französisch studiert und hatte Todds Vater kennengelernt, als der verzweifelt eine Nachhilfelehrerin suchte. In ihrer Freizeit tippte sie Manuskripte. Sie bewahrte Todds alte Schulzeugnisse in einer Mappe auf. Ihr ganzer Stolz war das Zeugnis zum Abschluss der vierten Klasse, auf das Mrs. Upshaw »Todd ist ein sehr guter Schüler« gekritzelt hatte. Und das war er auch. In allen Fächern Einser und Zweier. Wenn er noch besser gewesen wäre – also nur Einser gehabt hätte –, hätten ihn seine Freunde vermutlich für verrückt gehalten.

Vor dem Haus in der Claremont Street 963 brachte er sein Rad zum Stehen und stieg ab. Das Haus war ein kleiner Bungalow und lag unauffällig ziemlich weit hinten auf dem Grundstück. Es war weiß mit grünen Läden und grünen Verzierungen. Vorn zog sich eine Hecke am Grundstück entlang. Sie war gut bewässert und geschnitten.

Todd strich sich das blonde Haar aus dem Gesicht und schob sein Rad über den Weg zum Eingang hinauf. Er lächelte immer noch, und sein Lächeln war offen und erwartungsvoll und schön. Am Eingang stellte er das Rad ab und nahm die zusammengefaltete Zeitung von der unteren Stufe. Es war nicht der Clarion; es war die L. A. Times. Er klemmte sie unter den Arm und stieg die Stufen hoch. Hinter der verglasten äußeren Tür war eine schwere Holztür ohne Fenster. Rechts am Türrahmen war die Klingel angebracht und darunter zwei Schilder. Sie waren sorgfältig auf das Holz geschraubt und mit einer Plastikhülle gegen Vergilben oder Verrosten geschützt. Deutsche Gründlichkeit, dachte Todd, und sein Lächeln wurde ein wenig breiter. Es war der Gedanke eines Erwachsenen, und Todd gratulierte sich jedes Mal im Geiste, wenn er einen solchen hatte.

Auf dem oberen Schild stand Arthur Denker.

Das untere Schild enthielt den Hinweis Keine Bettler, keine Hausierer, keine Vertreter.

Immer noch lächelnd, betätigte Todd die Klingel.

Irgendwo weit hinten im Haus hörte er ihr schwaches Summen. Er nahm den Finger vom Knopf, legte den Kopf schief und wartete auf das Geräusch von Schritten. Es blieb aus. Er sah auf seine Timex-Uhr (die er einmal für den Verkauf von persönlichen Grußkarten bekommen hatte) und sah, dass es zwölf Minuten nach zehn war. Der Kerl müsste doch schon aufgestanden sein. Todd stand selbst in den Sommerferien nie später als halb acht auf. Morgenstund’ hat Gold im Mund.

Er wartete noch dreißig Sekunden, und als es im Haus stumm blieb, lehnte er sich gegen die Klingel und beobachtete den Sekundenzeiger seiner Timex. Er hatte den Klingelknopf genau einundsiebzig Sekunden lang gedrückt, als er endlich schlurfende Schritte hörte. Aus der Art des Geräusches schloss er auf Pantoffeln. Er zog aus seinen Beobachtungen immer irgendwelche Schlüsse. Zurzeit hatte er den Ehrgeiz, später einmal Privatdetektiv zu werden.

»Ist ja schon gut!«, rief der Mann ärgerlich, der vorgab, Arthur Denker zu heißen. »Ich komme ja schon! Klingel loslassen!«

Wieder nahm Todd die Hand von der Klingel.

An der Innenseite der fensterlosen Tür war das Rasseln einer Kette und eines Riegels zu hören. Dann wurde sie geöffnet.

Ein alter gebückter Mann in einem Bademantel schaute durch die Scheibe der äußeren Tür nach draußen. Zwischen seinen Fingern hing eine glimmende Zigarette. Todd fand, dass der Mann aussah wie eine Kreuzung zwischen Albert Einstein und Boris Karloff. Sein Haar war lang und weiß, aber es wurde auf unangenehme Weise gelb. Die Farbe erinnerte mehr an Nikotin als an Elfenbein. Sein Gesicht war runzlig und vom Schlaf gedunsen, und Todd sah mit einigem Unbehagen, dass der Mann sich einige Tage lang nicht rasiert hatte. Todds Vater sagte gern: »Eine Rasur setzt den Morgen Glanz auf.« Todds Vater rasierte sich jeden Tag, ob er zur Arbeit ging oder nicht.

Die Augen, aus denen der Alte Todd ansah, waren wachsam. Sie lagen tief in den Höhlen und waren von roten Äderchen durchzogen. Todd war tief enttäuscht. Der Kerl sah tatsächlich ein bisschen wie Albert Einstein aus, und tatsächlich sah er auch ein bisschen wie Boris Karloff aus, aber weit eher sah er wie die schäbigen alten Säufer aus, die unten am Bahnhof herumhingen.

Allerdings, sagte sich Todd, war der Mann gerade erst aufgestanden. Todd hatte Denker schon vorher oft gesehen, aber er hatte immer sorgfältig darauf geachtet, dass Denker ihn nicht sah. Wenn er sich in der Öffentlichkeit bewegte, sah Denker immer sehr adrett aus, jeder Zoll ein pensionierter Offizier, könnte man sagen, obwohl er sechsundsiebzig Jahre alt war, wenn die Artikel, die Todd in der Bibliothek über ihn gelesen hatte, sein Alter korrekt angaben. An den Tagen, an denen Todd ihn beschattet hatte, wenn er zum Einkaufen ging oder mit dem Bus zu einem der drei Kinos fuhr – Denker hatte kein Auto –, trug er immer einen von drei gepflegten Anzügen, ganz gleich, wie warm es war. Wenn es nach schlechtem Wetter aussah, hielt er wie ein Ausgehstöckchen einen eingerollten Regenschirm unter dem Arm. Manchmal hatte er einen Schlapphut auf. Und wenn Denker unterwegs war, sah er immer gut rasiert aus, und sein weißer Schnauzbart, der eine schlecht korrigierte Hasenscharte kaschieren sollte, war stets sorgfältig gestutzt.

»Ein Junge«, sagte er jetzt. Seine Stimme klang belegt und schläfrig. Todd sah mit einem erneuten Anflug von Enttäuschung, dass Denkers Bademantel verblichen und schmierig war. Unordentlich lag der Kragen um seinen welken Hals, und am linken Aufschlag klebte ein Spritzer Chili- oder A-1-Steaksauce. Er roch nach Zigarettenqualm und hatte eine Schnapsfahne.

»Ein Junge«, wiederholte er. »Ich brauche nichts, Junge. Lies das Schild. Du kannst doch lesen, nicht wahr? Natürlich kannst du lesen. Alle amerikanischen Jungen können lesen. Belästige mich nicht, Junge. Guten Tag.«

Langsam schloss sich die Tür.

Hier hätte ich aufgeben können, dachte Todd viel später während einer der Nächte, in denen er keinen Schlaf fand. Allein die Enttäuschung, die er empfand, als er den Mann zum ersten Male aus der Nähe sah, wäre dafür ein ausreichender Grund gewesen – der Mann hatte ihm sein Alltagsgesicht gezeigt. Sein Ausgehgesicht hing im Schrank bei seinem Regenschirm und seinem Schlapphut. In diesem Augenblick hätte es zu Ende sein können. Das lächerliche Klicken des Türriegels hätte sauber wie eine scharfe Schere alles abschneiden können, was später geschehen sollte. Aber, wie der Mann selbst schon bemerkt hatte, Todd war ein amerikanischer Junge, und er hatte gelernt, dass Beharrlichkeit eine Tugend ist.

»Vergessen Sie Ihre Zeitung nicht, Mr. Dussander«, sagte Todd und hielt ihm höflich die Times hin.

Ein paar Zentimeter vor dem Anschlag blieb die Tür stehen. Kurt Dussanders Gesicht verkrampfte sich. Misstrauen war darin zu lesen. Vielleicht auch Angst. Aber der Ausdruck war sofort wieder weg. Diese Selbstbeherrschung imponierte Todd, aber er war trotzdem wieder enttäuscht. Er hatte bei Dussander nicht Selbstbeherrschung, sondern Größe erwartet.

Junge, dachte Todd angewidert. Junge, Junge.

Der Alte zog die Tür wieder auf. Eine von Arthritis gekrümmte Hand griff spinnenartig hindurch und packte den Rand der Zeitung, die Todd in der Hand hielt. Mit Missfallen sah der Junge, dass die Fingernägel des alten Mannes lang und gelb waren. Diese Hand hatte in ihren wachen Stunden eine Zigarette nach der anderen gehalten. Todd hielt Rauchen für eine ekelhafte und gefährliche Angewohnheit, die er sich nie im Leben zu eigen machen würde. Es war wirklich ein Wunder, dass Dussander so alt geworden war.

Der alte Mann zog. »Gib mir meine Zeitung.«

»Aber gern, Mr. Dussander.« Todd ließ los. Die Spinnenhand riss ihm das Blatt weg, und die äußere Tür schloss sich.

»Ich heiße Denker«, sagte der alte Mann. »Ich bin nicht dieser Dussander. Anscheinend kannst du doch nicht lesen. Wie schade. Guten Tag.«

Wieder schloss sich die Tür langsam. Todd sprach rasch durch den sich verengenden Spalt. »Bergen-Belsen, Januar 1943 bis Juni 1943. Auschwitz, Juni 1943 bis Juni 1944, stellvertretender Lagerkommandant. Patin …«

Die Tür öffnete sich wieder. Das gedunsene und bleiche Gesicht des Mannes hing im Türspalt wie ein zerknitterter Ballon, aus dem zur Hälfte die Luft entwichen war. Todd lächelte.

»Kurz bevor die Russen kamen, verschwanden Sie aus Patin. Sie setzten sich nach Buenos Aires ab....