Internet-Meme - kurz & geek

von: Erlehmann, Plomlompom

O'Reilly Verlag, 2013

ISBN: 9783868998078 , 240 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: frei

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Preis: 14,90 EUR

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Internet-Meme - kurz & geek


 

Kapitel 2. Medienvorgeschichte


Von Internet-Memen kann erst gesprochen werden, seit die Internet genannte Netzwerkstruktur im späten 20. Jahrhundert Fuß fasst. Die Bedingungen, unter denen Internet-Meme sich entwickeln, haben aber eine lange Vorgeschichte und sind im Einzelnen nicht aufs Internet beschränkt. Es sind historische, aber auch technische Bedingungen. Zum Beispiel verbreiten sich Inhalte im Internet stets in digitaler Form: als Abfolge von diskreten Zuständen, von »Nullen und Einsen«. Das wirkt sich auf die Art ihrer Vervielfältigung und Entwicklung aus:

Im Gegensatz zu analogen Kopien sind digitale mit absoluter Präzision möglich. Ein Computer muss nur eine Reihenfolge von Nullen und Einsen aus einem Speicherbereich auslesen und in einen anderen Speicherbereich schreiben. Analoge Kopierverfahren dagegen – etwa das Abmalen oder Abfotografieren eines Gemäldes – können eine Vorlage nur ungefähr erfassen und reproduzieren. Absolute Präzision ist nicht möglich, und ein Zuwachs an Präzision bedeutet einen Zuwachs an Aufwand. Bei digitalen Kopien ist es umgekehrt: Die exakte Kopie ist das einfachste Verfahren. Abweichungen und Ungenauigkeiten einzufügen kostet zusätzliche Arbeit.

Virale Inhalte verbreiten sich dadurch, dass ihre Empfänger sie kopieren und diese Kopien weiter leiten. Bei analogen Inhalten gleicht ein solcher Vorgang einem Stille-Post-Spiel: Mit jeder weiteren Kopien-Generation sinkt die Ähnlichkeit zum Original – vom Foto eines Gemäldes zum Foto des Fotos des Fotos. Digitale Inhalte dagegen können auch über eine lange Kette des Weiterreichens unverändert bleiben. So steigt die virale Reichweite digitaler Informationen. Darüber hinaus ermöglichst ihre Auflösbarkeit in Abfolgen und Einsen und Nullen ihre Verbreitung in einer Vielzahl von Kommunikationswegen, unabhängig davon, welche Form – beispielsweise Schrifttext, Bild, Klang – diese Einsen und Nullen übermitteln.

Dass ein Inhalt digital vorliegt, erschwert, dass er unbeabsichtigt in Richtung Rauschen degeneriert. Zugleich erleichtert es aber seine absichtliche gestalterische Veränderung. Jeder Bearbeitungsschritt kann an einer exakten und günstigen Kopie ausgeführt und dadurch ohne Aufwand rückgängig gemacht werden. So kann an digitalen Inhalten ohne die Furcht vor Fehlern gestalterisch experimentiert werden, bis ein wünschenswertes Ergebnis entsteht. Weil sie verlustfrei in Zahlen auflösbar sind, können digitale inhalte außerdem auf vielfältige Weise (und mit absoluter Genauigkeit – bis hinab zum einzelnen Bit) mathematisch manipuliert werden. Bearbeitungsschritte, die im Analogen aufwendig wären, können so über Computer-Algorithmen automatisiert und als Software auf einen Mausklick oder Tastendruck hin verfügbar gemacht werden.

So bestimmen technische Bedingungen Form, Verbreitungs- und Veränderungsweise von Inhalten. Die Entstehung und Herkunft der Welt der Internet-Meme soll deshalb erst einmal als technisch-kulturelle Entwicklungsgeschichte der Medien erzählt werden, die dem Web, wie wir es heute kennen, voran gingen.

Vom Telegrafen zur Mailbox


Frühe Telekommunikations-Netzwerke


Wie verbreiten sich kulturelle Informationen, Ideen, Texte, »Meme«? Seit der Steinzeit mindestens mit den Menschen, die sie bei sich tragen – also in der Geschwindigkeit ihrer Füße, Pferde, Schiffe. Aber mit der Geschichte der frühen Hochkulturen beginnt auch die der Fernkommunikation ohne menschlichen Boten – etwa über Brieftauben oder Rauchsignale. Die frühesten Formen der Telegrafie sind optisch: Über ein weites Gebiet (etwa die Chinesische Mauer) sind bemannte Stationen verteilt, die auf große Entfernung sichtbare Signale wie etwa ein Fackelfeuer sowohl von ihren Nachbarstationen erspähen, als auch an diese senden. In Reihe geschaltet können so bei gutem Wetter schnell Informationen – wie etwa die Sichtung einer großen Armee– von einem Ende eines großen Landes zum anderen übermittelt werden.

Das An und Aus einer solchen Fackelfeuerreihe kann ein Bit signalisieren. Mehrere Bits erfordern mehrere Fackelsignale hintereinander. Theoretisch lassen sich so beliebig komplexe Botschaften kodieren. Praktisch steigen Dauer und Aufwand der Übermittlung mit der Komplexität der Nachricht schnell ins Unhandliche. In der Geschichte der Fernkommunikation wurden darum viele Verfahren ausprobiert, um die Menge der Informationen zu erhöhen, die pro optischem Signal übermittelt werden können. Im späten 18. Jahrhundert etwa erfand Claude Chappe den Semaphor-Telegrafen. Der streckt eine Vielzahl von verstellbaren Armen in den Himmel, mit deren Konfiguration unter anderem einzelne Buchstaben signalisiert werden können[13].

Aber selbst mit einem Buchstaben pro optischem Signal beanspruchte die Semaphor-Telegrafie eines einzelnen Wortes über viele Stationen und Kilometer hinweg bestenfalls mehrere Minuten. Das System verlangt die landesweite Platzierung zahlreicher Stationen auf Landschaftspunkten mit guter Aussicht und ihre anhaltende Betreuung durch bezahlte Signalwächter. Leisten konnte sich das nur der Staat, der die Nutzung dieser niedrigen Bandbreite auf ausgewählte Zwecke beschränkte – etwa militärische oder polizeiliche Botschaften[14].

Anders die elektrische Telegrafie des 19. Jahrhunderts: Hier wurden Informationen über leitenden Draht übermittelt, nahezu ohne Verzögerung auch über größte Entfernungen hinweg und ohne die Notwendigkeit freier Sichtpfade und menschlicher Mittler auf den Zwischenstrecken. Das System war schneller und billiger und wurde an Unternehmen und Privatleute vermarktet. Binnen weniger Jahrzehnte revolutionierte die elektrische Telegrafie Industrie, Handel, Diplomatie, Kriegsführung und Presse: Sie verkürzte die bisherigen Warte- und Reaktionszeiten dieser Systeme im globalen Austausch von Wochen und Monaten auf Stunden und Minuten[15].

Amtliche und geschäftliche Nachrichten wurden telegrafiert, aber ebenso Familienangelegenheiten, Glückwünsche, Gerüchte. Für Kritiker trieb die telegrafische Revolution vor allem Trivialkommunikation voran und das Übereilen von Abläufen und Diskursen, die besser mit Ruhe, Bedacht und Besonnenheit geführt würden. Der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau schrieb: »Wir bemühen uns in großer Hast, einen Telegrafen zwischen Maine und Texas einzurichten; aber Maine und Texas haben vielleicht gar nichts Wichtiges zu besprechen.«[16]

Der elektrische Telegraf übermittelt vor allem Buchstabentext im Morse-Code. Bezahlt wurde seine Inanspruchnahme nach Nachrichtenlänge. Das begünstigte kurze Texte, verknappt durch ähnliche Auslassungen und Formulierungs-Tricks wie heute bei SMS- oder Twitter-Nachrichten[17]. Sogar eine eigene Chat-Sprache entstand – unter den Telegrafen-Operatoren, den Männern und oft auch Frauen, die gegen Lohn die Telegrafen bedienten und zwischen Telegrammsprache und Morsesignalen hin und her übersetzten. Sie morsten untereinander in Echtzeit von Station zu Station und verfielen in Leerlaufzeiten ihres Jobs oft ins informelle Plaudern, den Austausch von Witzen und Gerüchten und zuweilen sogar ins Flirten. Um das Morseplaudern zu beschleunigen, entwickelten sie eine Kurzsprache, in der etwa die Frage »How are you this morning?« (»Wie geht es dir heute Morgen?«) zur Zeichenfolge »Hw r u ts mng?« geriet[18].

Das Telegrafen- und später Telefonnetz förderte das telekommunikative Hin und Her zwischen Teilnehmern auf Augenhöhe: Jeder Knoten konnte sowohl senden als auch empfangen – prinzipiell eine gute Voraussetzung für virale Verbreitung von Informationen. Einzelne Kommunikationsvorgänge geschahen jedoch vor allem von Einzelperson zu Einzelperson. Eine Nachricht an mehrere Empfänger zu senden, vervielfachte die Kosten. Damit ein Virus schnell zur Epidemie wächst, müssen einzelne Infizierte aber so viele ihrer Mitmenschen als möglich anstecken.

Gleichzeitig begann im 19. Jahrhundert das Zeitalter der Massenmedien im Sinne einzelner Sender, die mit anhaltender Intensität und Gleichzeitigkeit ein großes, oft landesweites Publikum erreichen. Den Anfang machten einzelne Zeitungen – ihre Auflagen wuchsen mit immer schnelleren Druckerpressen und ihre Reichweiten mit den Eisenbahngleisen. Anfang des 20. Jahrhunderts folgte die Radio-Technologie: das Aussenden und Empfangen von elektromagnetischen Wellen über Antennen – für lange Zeit Grundlage von Hörfunk und Fernsehen. Beim Antennen-Rundfunk ist mit der Menge der nutzbaren Sendefrequenzen auch die Zahl der Sender auf natürliche Weise begrenzt – nicht aber die der Empfänger. Alle können zuhören, aber nur wenige können reden. Die Besetzung dieser einflussreichen Senderpositionen wurde zum Politikum.

In den Massenmedien, die das 20. Jahrhundert dominierten, standen wenigen Sendern Massen an bloßen Empfängern gegenüber. Ideen, Texte, »Meme« verbreiteten sich stark entlang dieses Ungleichgewichts. Häufig waren es Marken, Erzählungen und Bilder, hinter denen genug politische Macht oder Kapital stand, um ihnen knappe wie einflussreiche Sendeplätze zu reservieren. Über Marktforschung (etwa Quotenmessung) sowie Marktmechanismen und Populismus (gekauft oder gewählt wird, was gefällt) wirkte der Geschmack der Empfänger zwar zurück auf Auswahl und Gestaltung der Inhalte, die massenmedial versendet wurden. »Populär« waren diese Inhalte aber weniger im Sinne eines Erarbeitens und Verbreitens durch die Massen als durch ihren massenweisen...