Wintersturm - Roman

von: Mary Higgins Clark

Heyne, 2013

ISBN: 9783641122195 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 7,99 EUR

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Wintersturm - Roman


 

1


17. November

Ray kam die Treppe herunter und zog den Knoten seiner Krawatte fest. Nancy saß am Tisch, Missy, noch schlaftrunken, auf ihrem Schoß. Michael aß in seiner bedächtigen, nachdenklichen Art sein Frühstück.

Ray zauste Mikes Haare und beugte sich nach vorn, um Missy einen Kuß zu geben. Nancy lächelte zu ihm hinauf. Sie war so verdammt hübsch. Sie hatte feine Fältchen um ihre blauen Augen, aber noch immer würde sie keiner für zweiunddreißig halten. Sie war nur ein paar Jahre jünger als Ray, doch er hatte immer das Gefühl, er wäre unendlich viel älter als sie. Vielleicht war es diese schreckliche Empfindlichkeit. An den Wurzeln ihres dunklen Haares bemerkte er Spuren von Rot. Ein dutzendmal hatte er sie im letzten Jahr darum bitten wollen, ihr Haar auswachsen zu lassen, aber er hatte es nicht gewagt.

»Herzliche Glückwünsche zum Geburtstag, Liebling«, sagte er sanft.

Er bemerkte, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich.

Michael blickte überrascht auf. »Mami hat heute Geburtstag? Das hast du mir gar nicht gesagt.«

Missy richtete sich auf. »Mami hat Geburtstag?« Es klang sehr erfreut.

»Ja«, bestätigte Ray. Nancy starrte vor sich auf den Tisch. »Und heute abend wird gefeiert. Heute abend bringe ich einen großen Geburtstagskuchen mit und ein Geschenk, und wir laden Tante Dorothy ein, zum Abendessen herzukommen. Einverstanden, Mami?

»Ray... nein.« Nancys Stimme klang leise und beschwörend.

»Doch. Erinnere dich nur. Im vergangenen Jahr hast du versprochen, daß wir dieses Jahr...«

Feiern war nicht das richtige Wort. Das konnte er nicht sagen. Aber er war sich seit langem darüber klar, daß sie eines Tages beginnen mußten, ihren Geburtstag auf eine andere Weise zu begehen. Anfangs hatte sie sich immer ganz von ihm zurückgezogen, war um das Haus gegangen oder am Strand entlanggewandert wie ein stummer Geist, in einer Welt für sich.

Aber im vergangenen Jahr hatte sie schließlich angefangen, über sie zu sprechen... über die beiden anderen Kinder. Sie hatte gesagt: »Sie wären jetzt schon so groß – zehn und elf. Ich versuche mir vorzustellen, wie sie heute aussehen würden, aber anscheinend kann ich mir nicht einmal vorstellen, wie... Alles, was jene Zeit betrifft, ist so verschwommen. Wie ein Alptraum, als hätte ich es nur geträumt.«

»Das ist wohl immer so«, hatte Ray zu ihr gesagt. »Laß das alles hinter dir, Liebling. Denk nicht mehr an das, was geschehen ist.«

Die Erinnerung daran bestärkte ihn in seinem Entschluß. Er beugte sich über Nancy, und mit einer gleichermaßen beschützenden wie sanften Gebärde strich er ihr über das Haar.

Nancy blickte zu ihm auf. Der beschwörende Ausdruck in ihrem Gesicht wurde schwächer. »Ich glaube nicht –«

Michael unterbrach sie. »Wie alt bist du, Mami?« fragte er sachlich.

Nancy lächelte – ein echtes Lächeln, das wunderbarerweise die Spannung löste. »Das geht dich nichts an«, antwortete sie ihm.

Ray nahm schnell einen Schluck von ihrem Kaffee. »Brav, mein Schatz«, sagte er. »Hör mal, Mike. Ich hole dich heute nachmittag nach der Schule ab, und wir kümmern uns dann um ein Geschenk für Mami. Ich glaube, es wird Zeit, daß ich mich auf den Weg mache. Heute kommt jemand, um das Hunt-Haus zu besichtigen. Ich möchte noch die Akte zusammenstellen.«

»Ist es nicht vermietet?« fragte Nancy.

»Ja. Dieser Parrish, der es schon öfter gemietet hat, ist wieder drin. Aber er weiß, daß wir das Recht haben, es jederzeit zu besichtigen. Für ein Restaurant hat es eine einzigartige Lage, und es wäre kein Problem, es umzubauen. Wenn ich es verkaufe, bringt es eine ganz hübsche Provision ein.«

Nancy nahm Missy vom Schoß und begleitete ihn zur Tür. Er gab ihr einen leichten Kuß und fühlte, wie ihre Lippen unter seinen zitterten. Wie sehr hatte er sie durch das Geburtstagsgerede aus der Fassung gebracht? Instinktiv drängte es ihn zu sagen: Wir wollen nicht bis heute abend warten. Ich bleibe zu Hause, und wir nehmen die Kinder und fahren heute nach Boston.

Statt dessen stieg er ins Auto, winkte, setzte den Wagen zurück und steuerte in den engen Feldweg hinein, der sich durch einen kleinen Wald schlängelte und schließlich in die Überlandstraße zum Kap mündete. Von hier gelangte er ins Zentrum von Adams Port und zu seinem Büro.

Ray hatte recht, dachte Nancy, als sie langsam zum Tisch zurückging. Einmal kam die Zeit, da man aufhören mußte, den Mustern der Vergangenheit zu folgen, und immer wieder zurückzudenken, eine Zeit, wo man nur noch in die Zukunft blicken durfte. Sie wußte, etwas in ihr war immer noch wie erstarrt. Sie wußte, daß die menschliche Psyche einen schützenden Vorhang über schmerzliche Erinnerungen herabließ – aber es war mehr als das.

Es war so, als ob ihr Leben mit Carl nur eine nebelhafte Erinnerung wäre... die ganze Zeit mit ihm. Es fiel ihr schwer, sich an das Fakultätsgebäude auf dem Universitätsgelände zu erinnern, an Carls gedämpfte Stimme... an Peter und Lisa. Wie hatten sie ausgesehen? Dunkles Haar, alle beide, wie das von Carl, und viel zu still... zu gehorsam... von ihrer Unsicherheit angesteckt... und dann verschwunden – alle beide.

»Mami, warum siehst du so traurig aus?« Michael blickte sie mit Rays offenem Gesichtsausdruck an, und er sprach auch mit der gleichen Direktheit.

Sieben Jahre, dachte Nancy. Das Leben war eine Reihe von Sieben-Jahr-Zyklen. Carl hatte immer gesagt, daß sich in dieser Zeit der ganze Mensch veränderte. Jede Zelle erneuere sich. Es wurde jetzt wirklich Zeit für sie, nach vorn zu sehen... zu vergessen.

Sie ließ ihren Blick durch die geräumige, freundliche Küche wandern mit dem alten Ziegelkamin, den breiten Eichendielen, den roten Vorhängen und den Volants, die die Sicht über den Hafen nicht behinderten. Und dann sah sie Michael und Missy an...

»Ich bin nicht traurig, Schatz«, sagte sie. »Ganz bestimmt nicht.«

Sie nahm Missy auf den Arm fühlte ihre Wärme und süße Klebrigkeit. »Ich habe über dein Geschenk nachgedacht«, sagte Missy. Ihr langes rotblondes Haar fiel ihr in Locken über die Ohren und in die Stirn. Die Leute fragten manchmal, woher sie nur das schöne Haar habe – wer war denn nun der Rotschopf in der Familie?

»Großartig«, erwiderte Nancy. »Du kannst draußen weiter darüber nachdenken. Es wäre besser, ihr ginget jetzt bald an die frische Luft. Später soll es regnen und sehr kalt werden.«

Als die Kinder sich angezogen hatten, half sie ihnen in ihre Windjacken und setzte ihnen ihre Mützen auf. »Da ist mein Dollar«, sagte Michael mit Genugtuung in der Stimme, als er in die Brusttasche seiner Jacke langte. »Ich war ganz sicher, daß ich ihn da drin gelassen hatte. Jetzt kann ich dir ein Geschenk kaufen.«

»Ich habe auch Geld.« Missy hielt stolz eine Handvoll Pennys empor.

»Oh, hört mal, ihr solltet euer Geld aber nicht mit nach draußen nehmen«, sagte Nancy zu ihnen. »Ihr werdet es nur verlieren. Kommt, ich hebe es für euch auf.«

Michael schüttelte den Kopf. »Wenn ich es dir gebe, vergesse ich es vielleicht, wenn ich mit Vati einkaufen gehe.«

»Ich verspreche dir, ich passe auf, daß du es nicht vergißt.«

»Meine Tasche hat einen Reißverschluß. Siehst du? Ich stecke es da hinein, und ich kann auch Missys Geld darin aufbewahren.«

»Schön...« Nancy zuckte die Schultern und gab auf. Sie wußte nur zu gut, daß Michael den Dollar nicht verlieren würde. Er war wie Ray, sehr zuverlässig. »Hör mal, Mike. Ich werde jetzt aufräumen. Paß du auf, daß du bei Missy bleibst.«

»Okay«, sagte Michael vergnügt. »Los, komm, Missy. Zuerst gehen wir auf die Schaukel.«

Ray hatte den Kindern eine Schaukel gebaut. Sie hing an einem Ast der riesigen Eiche am Waldrand hinter ihrem Haus.

Nancy zog Missy die Fausthandschuhe über die Hände. Sie waren hellrot und hatten auf den Außenseiten Lachgesichter, die mit flauschiger Angorawolle aufgestickt waren. »Laß sie an«, befahl sie ihr, »sonst bekommst du kalte Hände. Es wird wirklich schon ungemütlich kühl. Ich weiß gar nicht, ob ihr überhaupt nach draußen gehen solltet.«

»Oh, bitte!« Missys Lippen begannen zu zucken.

»Schon gut, schon gut. Nur kein Theater«, beeilte sich Nancy zu sagen. »Aber höchstens eine halbe Stunde.«

Sie öffnete die Hintertür und ließ sie hinaus. Als der kalte Wind hereinblies, fröstelte sie, schloß schnell die Tür und begann die Treppe hinaufzusteigen. Es war ein echtes altes Kap-Haus, und die Treppe war nahezu senkrecht. Ray meinte, daß die alten Siedler etwas von Schneeziegen an sich gehabt haben mußten, so wie sie ihre Treppen gebaut hatten. Aber Nancy liebte alles an diesem Haus.

Sie erinnerte sich noch gut an das Gefühl von Ruhe und Geborgenheit, das sie empfunden hatte, als sie es zum ersten Mal sah, damals, vor mehr als sechs Jahren. Sie war ans Kap gekommen, nachdem das Urteil für ungültig erklärt worden war. Der Bezirksstaatsanwalt hatte nicht auf einen neuen Prozeß gedrängt, weil Rob Legler, sein wichtigster Belastungszeuge, verschwunden war.

Sie war hierher geflüchtet, quer über den ganzen Kontinent von Kalifornien weg, so weit wie möglich; weit weg von den Menschen, die sie gekannt hatte, der Umgebung, in der sie gewohnt hatte, und dem College dort und der ganzen akademischen Gesellschaft. Sie wollte sie nie wiedersehen  – die Freunde, die sich nicht als Freunde erwiesen hatten, sondern als feindliche Fremde, die von dem ›armen Carl‹ sprachen, weil sie ihr auch an seinem Selbstmord die Schuld gaben.

Sie war nach Cape Cod gekommen, weil sie immer gehört hatte, daß die...