Knochenlese - Thriller

von: Kathy Reichs

Heyne, 2013

ISBN: 9783641127565 , 384 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Knochenlese - Thriller


 

2


Wir fanden Carlos und Molly ungefähr acht Kilometer außerhalb von Sololá, mehr als neunzig Kilometer von Guatemala City, aber nur dreißig von der Grabungsstelle entfernt.

Es hatte stetig geregnet, während unser Konvoi sich ruckelnd und zockelnd über den schmalen Lehm- und Felspfad mühte, der den Rand des Tals mit der Teerstraße verband. Zuerst blieb ein Fahrzeug stecken, dann ein zweites, und immer musste das ganze Team zusammen helfen, um die Räder wieder frei zu bekommen. Nach mühsamem Schieben und Stemmen in einem Ozean aus Schlamm kletterten wir wieder auf unsere Sitze und fuhren weiter. Wir sahen aus wie Eingeborene aus Neuguinea, die sich für eine Trauerfeier bemalt hatten.

Normalerweise dauerte es bis zur Teerstraße zwanzig Minuten. An diesem Abend brauchten wir mehr als eine Stunde. Ich hielt mich am Handgriff des Transporters fest, mein Oberkörper schwankte hin und her, und mein Magen verkrampfte sich vor Sorge. Obwohl wir sie nicht aussprachen, gingen Mateo und mir dieselben Fragen durch den Kopf. Was war mit Molly und Carlos passiert? Was würden wir finden? Warum hatten sie sich so verspätet? Was hatte sie aufgehalten? Hatte man sie tatsächlich verfolgt? Und wer? Wo waren ihre Verfolger jetzt?

An der Einmündung des Talwegs in die Straße stieg Señor Amado aus dem Jeep, lief zu seinem Auto und fuhr in die Nacht davon. Es war offensichtlich, dass der Vertreter des Bezirksstaatsanwalts keine Lust hatte, länger als unbedingt nötig in unserer Gesellschaft zu verweilen.

Der Regen war uns aus dem Tal heraus gefolgt, und sogar die Teerstraße war gefährlich. Nach fünfzehn Minuten entdeckten wir den Pick-up der FAFG in einem Graben auf der anderen Straßenseite, die Lichtkegel der Scheinwerfer stachen schräg in den Himmel, die Fahrertür stand offen. Mateo legte eine gewagte Spitzkehre hin und schlitterte an den Rand. Ich sprang aus der Fahrerkabine, obwohl der Wagen noch rollte, und Angst verkrampfte den Knoten in meinem Bauch zu einer harten, kalten Faust.

Trotz Regen und Dunkelheit konnte ich dunkle Spritzer auf dem Blech der Fahrerseite erkennen. Was ich im Inneren sah, ließ mir das Blut zu Eis erstarren.

Carlos lag zusammengeklappt hinter dem Lenkrad, Füße und Kopf zur offenen Tür hin, als wäre er von außen hineingestoßen worden. Die Haare auf seinem Hinterkopf und der Hemdrücken hatten die Farbe billigen Weins. Blut breitete sich auf der Sitzfläche aus und tropfte in die Lache, die sich um Gas- und Bremspedal gebildet hatte, sowie auf die grausigen Flecken auf seinen Jeans und Stiefeln.

Molly saß auf der Beifahrerseite, eine Hand am Türgriff, die andere geöffnet in ihrem Schoß. Sie war zusammengesackt wie eine Lumpenpuppe, die Beine waren gespreizt, und der Kopf ruhte in merkwürdigem Winkel an der Stütze. Die Vorderseite ihrer Nylonjacke war wie von zwei dunklen Flechten verfärbt.

Ich rannte übers Bankett, drückte zitternde Finger an Carlos’ Hals. Nichts. Ich bewegte die Hand, suchte nach Lebenszeichen. Nichts. Ich versuchte es am Handgelenk. Nichts.

O Gott, bitte! Mein Herz schlug wild gegen das Brustbein.

Mateo kam zu mir gelaufen, bedeutete mir, nach Molly zu sehen. Ich stolperte zu ihr, streckte die Hand durchs offene Fenster und tastete nach dem Puls. Nichts. Wieder und wieder legte ich die Finger an das blasse Fleisch ihres Halses. Mir gegenüber schrie Mateo in sein Telefon und ahmte meine verzweifelten Bemühungen nach.

Beim vierten Versuch spürte ich ein Schlagen, schwach und unsicher. Es war kaum ein Zittern, aber es war da.

»Sie lebt!«, schrie ich.

Dann stand Elena mit weit aufgerissenen, feucht glitzernden Augen neben mir. Während sie die Tür aufhielt, beugte ich mich hinein und nahm Molly in die Arme. Regen stach mir in den Nacken, während ich sie in aufrechter Position hielt, den Reißverschluss ihrer Jacke aufzog, ihr Sweatshirt hochschob und die beiden Wunden lokalisierte. Ich stellte mich breitbeinig hin, um besseren Halt zu haben, drückte beide Hände auf die Wunden und betete, dass rechtzeitig Hilfe eintreffen würde.

Mein Blut pochte in den Augen. Hundert Schläge. Tausend.

Ich flüsterte Molly ins Ohr, beruhigte sie, flehte sie an, bei mir zu bleiben. Meine Arme wurden taub. Mein Rücken brannte vor Schmerz in der gebückten Haltung.

Die anderen standen beisammen, um sich gegenseitig zu trösten, sprachen hin und wieder ein paar Worte oder nahmen sich in die Arme. Autos fuhren vorbei, deren Insassen in unsere Richtung schauten, neugierig zwar, aber nicht bereit, sich in das Drama verwickeln zu lassen, das sich hier auf der Straße nach Sololá abspielte.

Mollys Gesicht sah gespenstisch aus. Ihre Lippen waren an den Winkeln blau. Mir fiel auf, dass sie eine Goldkette, ein winziges Kreuz und eine Armbanduhr trug. Sie zeigte acht Uhr einundzwanzig. Ich suchte nach dem Handy, konnte es aber nirgends entdecken.

Der Regen hörte so plötzlich auf, wie er angefangen hatte. Ein Hund jaulte, ein anderer antwortete. Ein Nachtvogel ließ ein zögerliches Piepsen hören, wiederholte sich dann.

Nach langem Warten entdeckte ich endlich ein rotes Licht weit hinten auf dem Highway.

»Sie sind da«, flüsterte ich Molly ins Ohr. »Halt durch, Mädchen. Du kommst wieder ganz in Ordnung.« Blut und Schweiß klebten feucht zwischen meinen Händen und ihrer Haut.

Das rote Licht kam näher und teilte sich in zwei. Minuten später hielten ein Krankenwagen und ein Polizeiauto mit quietschenden Reifen am Straßenrand und besprühten uns mit Kies und heißer Luft. Rot blitzte auf feucht glitzerndem Teer, regennassen Fahrzeugen, blassen Gesichtern.

Molly und Carlos wurden von den Sanitätern erstversorgt, dann in den Krankenwagen geschafft und eiligst ins Krankenhaus in Sololá transportiert. Elena und Luis folgten, um ihre Aufnahme zu überwachen. Wir anderen durften, nachdem wir kurze Aussagen gemacht hatten, nach Panajachel zurückkehren, wo wir wohnten, während Mateo die Polizei aufs Revier in Sololá begleitete.

Das Team war untergebracht im Hospedaje Santa Rosa, einem preiswerten Hotel, das versteckt in einer Nebenstraße der Avenida El Frutal lag. Kaum hatte ich mein Zimmer betreten, zog ich mich aus, warf die schmutzigen Klamotten auf einen Haufen in die Ecke und duschte, wobei ich froh war, dass die FAFG die zusätzlichen Quetzals für warmes Wasser bezahlt hatte. Obwohl ich außer einem Käse-Sandwich und einem Apfel zum Lunch nichts gegessen hatte, vertrieben Angst und Erschöpfung jeglichen Appetit. Ich fiel nur noch ins Bett, traurig über die Opfer in dem Brunnen in Chupan Ya, voller Angst um Molly und Carlos.

Ich schlief schlecht in dieser Nacht, gequält von hässlichen Träumen. Scherben von Kinderschädeln. Pechschwarze Augenhöhlen. Armknochen umhüllt von verfaulendem güipil. Ein blutbespritzter Transporter.

Anscheinend gab es kein Entkommen vor dem gewaltsamen Tod, weder tags noch nachts, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart.

 

Ich erwachte zu kreischenden Papageien und weicher, grauer Dämmerung, die durch meine Jalousie sickerte. Irgendetwas war entsetzlich verkehrt. Was?

Erinnerungen an die vergangene Nacht trafen mich wie eine kalte, betäubende Welle. Ich zog die Knie an die Brust und lag einige Minuten so da. Ich fürchtete die Neuigkeiten, musste sie aber unbedingt erfahren.

Ich warf die Bettdecke zurück, absolvierte ein abgekürztes morgendliches Ritual und zog dann Jeans, T-Shirt, Sweatshirt, Jacke und Kappe an.

Mateo und Elena tranken Kaffee an einem Tisch im Hof vor einer lachsrosa Wand. Ich setzte mich zu ihnen, und Señora Samines stellte mir eine Tasse Kaffee hin, während sie den anderen huevos rancheros, schwarze Bohnen, Kartoffeln und Käse servierte.

»¿Desayuno?«, fragte sie. Frühstück?

»Sí, gracias.«

Ich goss Sahne in meinen Kaffee und schaute Mateo an.

Er wechselte ins Englische.

»Carlos hat eine Kugel in den Hals und eine zweite in den Nacken abbekommen. Er ist tot.«

Der Kaffee in meinem Mund wurde zu Säure.

»Molly wurde zweimal in die Brust getroffen. Sie hat die Operation überlebt, aber sie liegt im Koma.«

Ich sah Elena an. Ihre Augen waren lavendelfarben umrahmt, das Weiße wässerig rot.

»Wie?«, fragte ich und wandte mich wieder an Mateo.

»Carlos hat sich anscheinend gewehrt. Er wurde aus nächster Nähe neben dem Transporter erschossen.«

»Wird eine Autopsie durchgeführt?«

Mateo schaute mir in die Augen, sagte aber nichts.

»Motiv?«

»Raubüberfall.«

»Raubüberfall?«

»In dieser Gegend sind Banditen ein Problem.«

»Molly sagte mir, sie wären seit Guatemala City verfolgt worden.«

»Darauf habe ich auch hingewiesen.«

»Und?«

»Molly hatte hellbraune Haare, eine weiße Haut. Sie ist unübersehbar ein Gringo. Die Polizei glaubt, dass die beiden wahrscheinlich schon in G City als Opfer ausgesucht und dann bis zu einem günstigen Ort verfolgt wurden.«

»Eine gut einsehbare Stelle an einem großen Highway?«

Mateo sagte nichts.

»Molly trug noch ihren Schmuck und eine Armbanduhr«, sagte ich.

»Die Polizei konnte weder Pässe noch Brieftaschen finden.«

»Nur damit ich das richtig verstehe: Diebe haben sie zwei Stunden lang verfolgt, dann nur die Brieftaschen genommen und den Schmuck...