Rote Lilien - Roman

von: Nora Roberts, Verlagsbüro Oliver Neumann

Heyne, 2013

ISBN: 9783641111625 , 432 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Rote Lilien - Roman


 

Prolog


Memphis, Tennessee
Januar 1893

 

Sie war verzweifelt, verarmt und verwirrt.

Früher einmal war sie eine schöne Frau gewesen, eine kluge Frau mit einem ehrgeizigen Ziel: Luxus. Und sie hatte ihn bekommen, weil sie ihren Körper zum Verführen und ihren Kopf zum Rechnen benutzt hatte. Sie war die Geliebte eines Mannes geworden, der zu den Reichsten und Mächtigsten in Tennessee gehörte.

Ihr Haus war ein Schmuckstück gewesen, eingerichtet nach ihrem Geschmack und mit Reginalds Geld. Ihre Bediensteten hatten jeden ihrer Wünsche erfüllt, ihre Kleider hatten jedem Vergleich mit der Garderobe der gefragtesten Kurtisane in Paris standgehalten. Schmuck, amüsante Freunde, eine eigene Kutsche.

Sie hatte fröhliche Gesellschaften gegeben. Man hatte sie beneidet und begehrt.

Sie, die Tochter eines gefügigen Hausmädchen, hatte alles gehabt, was ihr habsüchtiges Herz begehrt hatte.

Auch einen Sohn.

Das neue Leben in ihr, das sie zuerst gar nicht haben wollte, hatte sie verändert. Es war zum Zentrum ihrer Welt geworden, zum Einzigen, das sie mehr liebte als sich selbst. Sie hatte Pläne für ihren Sohn gemacht, hatte von ihm geträumt. Hatte ihm vorgesungen, während er in ihrem Leib schlummerte.

Sie hatte ihn unter Schmerzen, großen Schmerzen, aber auch mit Freude in die Welt geboren. Freude darüber, dass sie, wenn die quälenden Schmerzen vorbei waren, ihren Sohn in den Armen halten würde.

Doch sie hatten ihr gesagt, es sei ein Mädchen.

Und es sei tot geboren worden.

Sie hatten gelogen.

Sie hatte es damals schon gewusst, als sie vor Gram rasend geworden und immer tiefer in ihrer Verzweiflung versunken war. Damals, als sie verrückt geworden war, hatte sie gewusst, dass es eine Lüge gewesen war. Dass ihr Sohn lebte.

Sie hatten ihr das Kind genommen. Sie hielten ihren Sohn gefangen. Wie konnte es anders sein, wenn sie seinen Herzschlag so deutlich spürte wie ihren eigenen?

Aber nicht die Hebamme und der Arzt hatten ihr das Kind genommen. Reginald hatte sich geholt, was ihr gehörte. Er hatte sein Geld benutzt, um sich das Schweigen derer zu erkaufen, die ihm zu Diensten waren.

Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie er in ihrem Salon gestanden hatte, bei seinem ersten Besuch nach Monaten voller Gram und Kummer. Er war fertig mit ihr, dachte sie, während sie mit zitternden Fingern das graue Kleid zuknöpfte. Es war zu Ende, jetzt, nachdem er hatte, was er wollte. Einen Sohn, einen Erben. Das Einzige, das ihm seine prüde Frau nicht hatte geben können.

Er hatte sie benutzt und ihr dann ihren einzigen Schatz genommen, so selbstverständlich, als hätte er das Recht dazu. Und als Gegenleistung hatte er ihr Geld und eine Passage nach England geboten.

Er wird bezahlen, bezahlen, bezahlen, dröhnte es in ihrem Kopf, während sie ihre Frisur richtete. Aber nicht mit Geld. O nein. Nicht mit Geld.

Sie war jetzt so gut wie mittellos, doch sie würde schon einen Weg finden. Natürlich würde sie einen Weg finden, wenn sie ihren kleinen James erst wieder in den Armen hielt.

Ihre Bediensteten – Ratten, die das sinkende Schiff verließen  – hatten einen Teil ihres Schmucks gestohlen. Da war sie sich ganz sicher. Von dem, was übrig geblieben war, hatte sie fast alles verkaufen müssen, und dabei hatte man sie auch noch betrogen. Aber etwas anderes hatte sie von dem schmallippigen, hageren Juwelier gar nicht erwartet. Schließlich war er ein Mann.

Lügner, Betrüger, Diebe. Jeder Einzelne von ihnen.

Sie würden bezahlen. Alle.

Sie konnte die Rubine nicht finden – das Armband mit Rubinen und Diamanten, herzförmige Steine, wie Blut und Eis. Reginald hatte es ihr geschenkt, als sie ihm gesagt hatte, dass sie schwanger sei.

Gefallen hatte es ihr eigentlich nie. Es war zu feingliedrig, zu klein für ihren Geschmack. Doch jetzt wollte sie es unbedingt haben, und sie suchte wie eine Wilde in dem unaufgeräumten Chaos ihres Schlafzimmers und Ankleidezimmers danach.

Als sie stattdessen eine Saphirbrosche fand, weinte sie wie ein Kind. Während sie ihre Tränen trocknete und die Brosche umklammert hielt, vergaß sie das Armband und das unbändige Verlangen danach. Sie vergaß, dass sie danach gesucht hatte, und lächelte die funkelnden blauen Steine an. Das Geld, das sie für die Brosche bekam, würde reichen, um ihr und James einen neuen Anfang zu ermöglichen. Sie wollte ihn fortbringen, aufs Land vielleicht. Bis sie wieder gesund, wieder bei Kräften war.

Eigentlich war es ja ganz einfach, stellte sie mit einem gespenstischen Lächeln auf den Lippen fest, während sie sich im Spiegel ansah. Das graue Kleid wirkte dezent und würdevoll  – genau das Richtige für eine Mutter. Dass es wie ein nasser Sack an ihr herunterhing, dass die Taille nicht richtig saß, daran konnte sie nichts ändern. Sie hatte keine Bediensteten mehr, keine Schneiderin, die es ändern konnte. Wenn sie für sich und James erst einmal ein nettes kleines Häuschen auf dem Land gefunden hatte, würde sie mit Sicherheit ihre schöne Figur zurückbekommen.

Sie hatte ihr lockiges blondes Haar aufgesteckt und mit einigem Bedauern auf Rouge verzichtet. Ein zurückhaltendes Äußeres war besser, fand sie. Ein zurückhaltendes Äußeres wirkte beruhigend auf ein Kind.

Sie würde ihn jetzt holen. Sie würde nach Harper House fahren und sich holen, was ihr gehörte.

Die Fahrt von der Stadt zum Herrenhaus der Harpers war lang, kalt und teuer. Sie hatte keine eigene Kutsche mehr, und bald, sehr bald, würden Reginalds Handlanger wiederkommen und sie aus dem Haus werfen, wie sie es ihr beim letzten Mal angedroht hatten.

Aber die Privatkutsche war ihren Preis wert. Wie sollte sie den kleinen James sonst nach Memphis zurückbringen, wo sie ihn die Treppe zum Kinderzimmer hochtragen, zärtlich in sein Bettchen legen und in den Schlaf singen würde?

»Lavendel ist blau, Lalilu«, sang sie leise, während sie ihre dünnen Finger ineinander flocht und nach draußen auf die winterlichen Bäume starrte, die die Straße säumten.

Sie hatte die Decke mitgebracht, die sie für ihn aus Paris hatte kommen lassen, und das süße kleine Mützchen mit den dazu passenden Schühchen. Für sie war er immer noch ein Neugeborenes. In ihrem verwirrten Geist existierten die sechs Monate nicht, die seit seiner Geburt vergangen waren.

Die Kutsche rollte langsam über die lange Auffahrt. Vor ihr tauchte Harper House in all seiner Pracht auf.

Vor dem wolkenverhangenen grauen Himmel wirkten der gelbe Stein und die weißen Zierelemente warm und elegant. Stolz und stark ragte das zweistöckige Gebäude vor ihr auf, umgeben von Bäumen und Sträuchern und weiten, gepflegten Rasenflächen.

Früher einmal, so hatte sie gehört, seien Pfauen auf dem Anwesen gehalten worden, die ihre bunt schillernden Schwanzfedern zu einem Rad ausgebreitet hätten. Doch Reginald sei ihr durchdringendes Kreischen auf die Nerven gegangen, und nachdem er der Herr von Harper House geworden sei, habe er die Vögel wegschaffen lassen.

Er herrschte wie ein König. Und sie hatte ihm seinen Prinzen geschenkt. Eines Tages würde der Sohn den Vater vom Thron stoßen. Dann würde sie zusammen mit James über Harper House herrschen. Zusammen mit ihrem süßen James.

In den leeren Fensterhöhlen des großen Hauses, die wie kalte Augen auf sie herabstarrten, spiegelte sich die Sonne, doch sie stellte sich vor, wie sie dort mit James lebte. Wie sie ihn umsorgte, mit ihm im Garten spazieren ging, wie sein Lachen durch die hohen Räume schallte.

Eines Tages würde es so weit sein. Das Haus war sein Eigentum, und daher gehörte es auch ihr. Sie würden glücklich und zufrieden dort leben, nur sie beide. So, wie es sein sollte.

Sie stieg aus der Kutsche – eine blasse, dünne Frau in einem schlecht sitzenden grauen Kleid – und ging langsam auf den Haupteingang zu.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals. James wartete auf sie.

Sie klopfte an die Tür, und da ihre Hände nicht stillhalten wollten, faltete sie sie energisch vor der Brust.

Der Mann, der ihr öffnete, trug einen gediegenen schwarzen Anzug, und obwohl er sie von Kopf bis Fuß musterte, verriet sein Gesichtsausdruck nichts.

»Kann ich Ihnen behilflich sein, Madam?«

»Ich komme, um James zu holen.«

Seine linke Augenbraue ging fast unmerklich in die Höhe. »Es tut mir Leid, Madam, aber hier wohnt kein James. Wenn Sie sich nach einem Bediensteten erkundigen möchten, der Dienstboteneingang befindet sich hinter dem Haus.«

»James ist kein Diener.« Wie konnte er es wagen? »Er ist mein Sohn. Er ist Ihr Herr. Ich will ihn holen.« Trotzig trat sie über die Schwelle.

»Ich glaube, Sie haben sich in der Adresse geirrt, Madam. Vielleicht …«

»Sie werden ihn nicht vor mir verstecken können. James! James! Mama ist hier.« Sie stürzte auf die Treppe zu und kratzte und biss, als der Butler sie am Arm packte.

»Danby, was ist hier los?« Eine Frau, die ebenfalls in das Schwarz der Dienstboten gekleidet war, kam durch die große Eingangshalle auf sie zu geeilt.

»Diese Frau, sie ist etwas … überreizt.«

»Das ist wohl noch untertrieben. Miss? Miss, ich bin Havers, die Haushälterin. Bitte beruhigen Sie sich, und sagen Sie mir, um was es geht.«

»Ich will James holen.« Ihre Hände zitterten, als sie ihre Frisur glatt strich. »Sie müssen ihn mir sofort bringen. Es ist Zeit für sein Schläfchen.«

Havers hatte ein gütiges Gesicht und lächelte sie freundlich an. »Ich verstehe. Bitte setzen Sie sich doch einen Moment, und beruhigen Sie sich.«

»Aber dann bringen Sie mir James, nicht wahr? Sie geben mir meinen...