Die Maori-Prinzessin - Roman

von: Laura Walden

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2013

ISBN: 9783838724454 , 512 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Die Maori-Prinzessin - Roman


 

ZUG NACH NAPIER, DEZEMBER 1930


Anfangs hatte Eva noch gebannt aus dem Fenster des Zuges gestarrt. Eine derart wilde Landschaft hatte sie noch nie zuvor gesehen. Bis zu jenem Tag, an dem sie alles hinter sich gelassen hatte, war sie selten aus Badenheim herausgekommen, dieser kleinen pfälzischen Welt mit ihren sanften Hügeln und Weinbergen so weit das Auge reichte. Sie hatte es sich immer gewünscht, eines Tages fortzugehen, aber wie schnell und auf welche Weise ihre geheimsten Träume wahr werden sollten, hätte sie niemals für möglich gehalten.

Das Ganze war jetzt bald ein Vierteljahr her. Niemals würde sie den Abend vergessen, an dem sie bei Kerzenlicht beisammensaßen und der Vater ihnen seinen Plan verkündete. Sie würde auch niemals die Erinnerung daran aus ihrem Gedächtnis streichen können, wie reglos die Mutter die Nachricht von der baldigen Auswanderung aufnahm. Dass sie manchmal stundenlang in ihrem Sessel saß und düster vor sich hinstarrte, daran hatte sich Eva mit den Jahren gewöhnt, aber dass sie nicht aufschrie, weil von ihr verlangt wurde, ihr geliebtes Heimatland von einem Tag auf den anderen zu verlassen, verwunderte Eva sehr.

Sie selbst hingegen hatte ihre Begeisterung kaum verbergen können. Amerika war mehr, als sie je zu hoffen wagte, doch dann bekam ihre Freude einen argen Dämpfer: Nur ihren Bruder Hans wollte der Vater mitnehmen. Seine gemütskranke Frau und seine temperamentvolle Tochter sollten indessen nach Neuseeland zu irgendeiner Cousine reisen.

»Die Fahrkarten, bitte!«, riss sie eine Stimme auf Englisch aus ihren Gedanken. Eva schreckte hoch und wühlte in ihrer Handtasche nach dem Ticket. Das hatte sie sich vom letzten Geld kaufen können, das ihre Mutter als Reisekasse mit aufs Schiff genommen hatte. Eigentlich hätte sie in Auckland abgeholt werden sollen, aber nachdem sie mutterseelenallein bis zum nächsten Tag am Kai gewartet und schließlich ein Telefon gesucht hatte, um ihre Tante anzurufen, war ihr mitgeteilt worden, sie solle den Zug nach Wellington nehmen, in Taumarunui in Richtung Napier umsteigen und sich dort vom Bahnhof zu ihrem Haus in Napier bringen lassen. Sehr freundlich hatte ihre Tante am Telefon nicht geklungen. Dabei hatte sie ihrem Vater einen netten Brief geschrieben, dass man seine Frau und seine Tochter gern für zwei Jahre aufnehme. Auf dem Weingut sei genug zu tun. Da könne man jede Hand gebrauchen.

Nun hatten sich die Umstände offenbar geändert, denn von einem Haus in der Stadt war nie zuvor die Rede gewesen.

»Träumen Sie?«, hörte sie den Schaffner fragen.

»Nein, hier ist das Ticket!«, erwiderte Eva hastig auf Englisch.

»Woher kommen Sie?«

Eva zuckte zusammen. Hörte man es etwa, dass sie aus Deutschland kam? Dabei hatte sie doch so fleißig gelernt. Die ganze Überfahrt hatte sie nichts anderes getan, als auf ihrem Etagenbett zu hocken und sich in die Bücher zu vertiefen. Sie wollte auf keinen Fall als sprachloses Dummchen am anderen Ende der Welt ankommen.

»Ich bin aus Deutschland«, erwiderte Eva zögernd.

Ein Strahlen huschte über das Gesicht des Schaffners.

»Ich hab’s gewusst. Und ich müsste lügen, wenn ich nicht gleich herausgehört hätte, dass Sie aus der Pfalz kommen.«

Evas Miene erhellte sich ebenfalls. Sie nickte eifrig. »Ja, aus Badenheim!«

Der Mann kratzte sich den Bart. »Kenn ich nicht, aber ich bin auch schon über vierzig Jahre hier. War noch ein Kind, als wir ausgewandert sind …« Er stockte und musterte sie prüfend. »Hat man Sie ganz allein um die Welt geschickt?«

»Nein, mit meiner Mutter; die ist allerdings unterwegs gestorben …«

Tränen traten ihr in die Augen; sie konnte nichts dagegen tun. Es lag wohl an diesem fremden Mann, der die ihr vertraute Sprache sprach. Hinzu kam die schmerzhafte Erinnerung an den Tag, an dem ihre Mutter nicht mehr aufgewacht war. Es stand ihr so lebendig vor Augen, als wäre sie wieder auf dem Schiff.

»Die wird nicht mehr!«, hatte sich eine alte Frau aus dem Stockbett nebenan mitleidlos eingemischt, nachdem Eva den leblosen Körper ihrer Mutter wie eine Irre geschüttelt hatte.

Spätestens in jenem Augenblick hatte sie gewusst, dass die Alte die Wahrheit sprach, aber sie wollte sich ihr nicht stellen. Sie stürzte aus dem Saal mit den Doppelstockbetten und schrie nach Doktor Franke. Der begleitete sie sofort zum Bett der Mutter, die er recht gut kannte, hatte sie sich doch während einer schlimmen Grippewelle, die unter den Passagieren wütete, freiwillig bei ihm als Helferin gemeldet. Eva und sie halfen unermüdlich, die Kranken zu betreuen. Immer in der Angst, sie könnten sich selber anstecken, aber sie bekamen nicht einmal einen Schnupfen. Inzwischen war die Epidemie an Bord überstanden und hatte nur wenige Opfer gefordert.

Der grauhaarige Arzt wurde weiß um die Nase, als er sich zu Martha Schindler hinunterbeugte.

»Ihre Mutter ist tot«, sagte er, nachdem er sie untersucht hatte.

»Gestern war sie noch völlig gesund! Sie hatte keine Anzeichen der schrecklichen Grippe. Und sie leidet nicht unter einem schwachen Herzen. Das kann doch gar nicht sein!«, widersprach Eva verzweifelt.

Doktor Franke machte ein Zeichen, dass sie ihm nach draußen folgen sollte, denn mittlerweile waren die neugierigen Blicke sämtlicher mitreisender Damen auf Eva und den Doktor gerichtet.

Eva ließ sich aus dem Schlafsaal hinausschieben. Sie hatte immer noch nicht begriffen, was geschehen war.

»Ich habe mich schon gewundert, wer uns das Veronal gestohlen hat, aber hier ist das leere Röhrchen.« Der Doktor hielt es hoch.

»Wo haben Sie es her?«

»Es lag unter der Bettdecke Ihrer Mutter. Ich habe es eben gefunden, als ich sie abgehorcht habe. Sie müssen jetzt tapfer sein: Ihre Mutter hat sich umgebracht.«

»Sie hat es schon einmal versucht«, hatte Eva kaum hörbar erwidert. Ihr Vater hatte ihr einmal erklärt, dass es mit Marthas Schwermut kurz nach ihrer Geburt losgegangen sei.

Der Schaffner hatte sich inzwischen neben Eva auf die Bank gesetzt und den Arm um sie gelegt. Als sie begriff, dass dieser fremde Mann sie zu trösten versuchte, schluchzte sie laut auf. Endlich konnte sie weinen. Die ganze Zeit seit dem furchtbaren Tag war sie wie versteinert gewesen.

»Nädd draurig sin, Maat«, hörte sie den Schaffner wie von ferne raunen, doch sie konnte nichts dagegen tun. Es musste sein. Endlich! Alle hatten sich gewundert, dass sie keine Träne vergossen hatte, während der Kapitän den Leichensack mit ihrer Mutter ins Meer gekippt hatte. Sie aber hatte nicht weinen können. Ihr Inneres war wie erstarrt gewesen.

Erst in diesem Augenblick, als sie an einen fremden bulligen Mann aus ihrer Heimat gelehnt war, trauerte sie darüber, dass sie ihre Mutter verloren hatte und allein in einem fremden Land war.

Ich werde Vater schreiben, damit er mir das Geld für eine Fahrkarte schickt, dann sehe ich die beiden bald wieder, redete sie sich gut zu. Und nicht erst in zwei Jahren, wie ihr Vater es sich vorgestellt hatte.

In zwei Jahren habe ich genug Geld zusammen, sodass wir unsere Hänge wieder bewirtschaften und vom Weinverkauf leben können, hatte er versprochen, aber bis dahin könnt ihr nicht auf diesem heruntergekommenen Stück Land hausen, das einmal ein ertragreiches Weinland gewesen war.

Nach dem Krieg war es mit dem Weingut ständig bergab gegangen. Zum einen war der Vater mit einer Kriegsverletzung heimgekehrt und zum anderen hatte er sich früh den Separatisten um Heinz Orbis angeschlossen. Sein Traum war eine freie Pfalz mit Anlehnung an Frankreich gewesen. Doch der Rückhalt in der Bevölkerung für diese Bewegung war nicht eben groß gewesen. Peter Schindler hatte sich zwar noch rechtzeitig von den Separatisten losgesagt, um nicht mit seinem Leben zu büßen, aber in den Augen der französischen Besatzer war er politisch unzuverlässig, und von den Hilfen der Bayrischen Landesregierung bekam er gar nichts. Der Bürgermeister überging den frankophilen Querkopf, wie Peter Schindler im Dorf genannt wurde. Mit dem Ergebnis, dass er Weinberge verkaufen musste und vom Rest seine Familie nicht mehr hatte ernähren können. Er hatte sich allerdings geweigert, das Anwesen zu verkaufen. Stattdessen hatte er für die Tickets nach Amerika und Neuseeland sämtliche Schmuckstücke versetzt, die ihm seine Mutter einst vererbt hatte. Und das waren nicht wenige gewesen, denn das Weingut Schindler hatte unter seinen Eltern weitaus bessere Zeiten gesehen.

Eva schreckte aus ihren Gedanken, als der Schaffner sich entschuldigend erhob. Er müsse weiter. Allerdings nicht, ohne sich nach ihrer Bleibe in Napier zu erkundigen. Als sie die Adresse in der Cameron Road nannte, pfiff er durch die Zähne und erklärte ihr, dass dies eine Straße wäre, in der es nur große, alte viktorianische Villen gebe. Dort habe man Geld, fügte er augenzwinkernd hinzu.

Eva dankte dem freundlichen Mann. Wenn er wüsste, wie gleichgültig ihr war, wohin sie kam. Sie würde eh nicht lange bleiben. Sie war nur von einem Gedanken besessen: ihrem Vater einen Brief zu schreiben, sobald er seinerseits die Adresse geschickt hatte, um ihn zu bitten, sie nachkommen zu lassen.

Wenn ich diese Reise überlebt habe, werde ich auch noch gesund von hier nach Amerika gelangen, dachte sie und setzte sich aufrecht hin. Draußen schien die Sonne, und im Zug wurde es langsam warm. Eva zog ihren dunklen Wollmantel aus, der sie seit Beginn der Reise begleitete. Ihr Vater hatte ihn ihr in Hamburg gekauft. Dort hatten sie einige Tage in einer schäbigen Unterkunft auf die Abfahrt ihrer Schiffe warten müssen. Auch das würde sie nie vergessen: Wie ihre Mutter und sie auf dem riesigen Dampfer gestanden und ihrem Vater...