Lehrbuch der psychologischen Diagnostik

von: Hermann-Josef Fisseni

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2004

ISBN: 9783840917561 , 453 Seiten

3. Auflage

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 43,99 EUR

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Lehrbuch der psychologischen Diagnostik


 

7 Verhaltensbeobachtung (S. 129-130)

Psychologie als empirische Wissenschaft definiert sich über die Verhaltensbeobachtung. Insofern geht Verhaltensbeobachtung in jedes psychologische Handeln ein, auch in jeden diagnostischen Schritt. Abgehoben von dieser Basisfunktion, erhält Beobachtung in Diagnostik und Intervention eine eigene Bedeutung. Ein Diagnostiker kann situative Begleiterscheinungen einer Untersuchung beobachten und registrieren.

Zwei Beispiele:

(1)
Ein Gespräch zieht sich über anderthalb Stunden hin; an dem Probanden werden Zeichen von Anstrengung, von Ermüdung sichtbar, diese Anzeichen (vom Diagnostiker beobachtet) könnten später hilfreich sein bei einer Interpretation des Gespräches.

(2) Ein Proband bearbeitet die Sortieraufgaben eines Tests. Während er die „Steine" zu dem vorgegebenen Muster legt, entwickelt er eine „kluge" Strategie, die zu erfassen die Testinstruktion nicht vorgesehen hat; der Diagnostiker kann diese Strategie beobachten und in seine Bewertung des Testresultates einbeziehen. In diesem Kapitel sprechen wir über die zweite Konzeption von Beobachtung. Es geht um Beobachtung als ein Verfahren neben anderen diagnostischen Verfahren, nicht um Beobachtung als Basis aller psychologischen Methoden.

Den Stoff gliedern wir in acht Teilkapitel:

– Abgrenzungen (Definitionen) (Kap. 7.1),
– Festlegung von Beobachtungseinheiten (Kap. 7.2),
– Einteilung der Verhaltensbeobachtung (Kap. 7.3),
– Auswertung von Verhaltensbeobachtungen (Kap. 7.4),
– Beitrag zu Diagnostik und Intervention (Kap. 7.5),
– Einfluss- und Verzerrungstendenzen (Kap. 7.6),
– Vor- und Nachteile der Verhaltensbeobachtung (Kap. 7.7),
– zu den Gütekriterien der Verhaltensbeobachtung (Kap. 7.8).

7.1 Abgrenzungen (Definitionen)

Was heißt beobachten? Beobachten heißt, Ereignisse, Vorgänge oder Verhaltensweisen sorgfältig wahrnehmen und registrieren (Dorsch, 1994, 100; Faßnacht, 1995, 67–70; Huber, 1989, 124; Kaminski, 1977, 68–73; Selg & Bauer, 1971, 42). In Diagnostik und Intervention ist diese Wahrnehmung „unmittelbar und ausschließlich auf die psychologische Frage nach der Eigenart der individuellen Persönlichkeit gerichtet" (Hasemann, 1983, 435).

„Unter wissenschaftlicher Beobachtung wird…die zielgerichtete und methodisch kontrollierte Wahrnehmung von konkreten Systemen, Ereignissen (zeitliche Änderungen in konkreten Systemen) oder Prozessen (Sequenzen von Ereignissen) verstanden" (Huber, 1989, 124). In dieser Umschreibung heißt der Oberbegriff Wahrnehmung. Er deckt alle Arten sinnlicher Erfassung ab; Beobachten besagt demnach, menschliches Verhalten durch Sinneswahrnehmung erfassen: etwa durch Hören, Sehen, Tasten. In der Praxis dürfte sich die Verhaltensbeobachtung vorrangig auf eine Wahrnehmung mit Auge und Ohr beziehen, oft vermittelt durch spezielle Messinstrumente. Beobachtung bezeichnet eine besonders aufmerksame Wahrnehmung, die sich kontrolliert auf ihren Gegenstand richtet und das Ziel hat, eine genaue Kenntnis ihres „Gegenstandes" zu vermitteln. Hauptgegenstand der Beobachtung sind in der Diagnostik – erstens Verhaltensweisen, die bei vielen Verfahren nicht eigens registriert werden, aber diagnostisch relevant erscheinen (z. B. Kommentare, die ein Proband zu den Items eines Fragebogens abgibt), – zweitens Verhaltensausschnitte, die eigens für die Beobachtung ausgewählt werden (z. B. eine Interaktionssequenz zwischen Mutter und Kind). Selbst- und Fremdbeobachtung Jede Beobachtung schließt Selbst- und Fremdbeobachtung ein.

Selbstbeobachtung (oder Introspektion) bezeichnet den Vorgang, in dem ein Beobachter sich selbst mit-wahrnimmt; die Selbstgegebenheit wird Mit-Gegenstand seiner Wahrnehmung; er „sieht" oder „hört" oder „fühlt" neben anderen Personen und Sachen auch sich selber. Fremdbeobachtung bezeichnet die aufmerksame Wahrnehmung „anderer" Sachen oder Personen, die mit dem Beobachtenden nicht identisch sind. Selbst- und Fremdbeobachtung sind einander komplementär zugeordnet:Wo keine Selbstbeobachtung, dort keine Fremdbeobachtung; wo Fremdbeobachtung, dort immer auch Selbstbeobachtung.

Dies gilt in einem mehrfachen Sinne:

– Fremdbeobachtung schließt als mitlaufenden Prozess das Mitbemerken des beobachtenden Subjektes ein.

– Über den „Gegenstand" einer Fremdbeobachtung kann sich ein einzelner Beobachter nur dann mit einem anderen Beobachter verständigen, wenn der „Gegenstand" in seiner Selbsterfahrung „vorkommt"

– wenigstens in Erfahrungsspuren vorkommt. Einen „Gegenstand", welcher der Selbstbeobachtung eines Beobachters völlig fremd wäre, könnte er nicht im Sinne einer Fremdbeobachtung „wahrnehmen" – er könnte keine „Wahrnehmungsgestalt" bilden. (Ein Therapeut, der noch nie eine Spur von Angst verspürt hätte, wäre unfähig, bei seinem Klienten die Anzeichen von Angst wahrzunehmen und zu deuten.)

– Jede Beobachtung orientiert sich als Wahrnehmung an Gesetzen, die selber nicht auf Beobachtung gründen, weil jede Selbst- und Fremdbeobachtung sie schon voraussetzt.