Apfeldiebe - Psychothriller

von: Michael Tietz

Bookspot Verlag, 2012

ISBN: 9783937357133 , 464 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 2,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Apfeldiebe - Psychothriller


 

1   Die Entdeckung




Alex liebte diese beiden Finger aus Stein. Er liebte sie wirklich und er liebte es, den einen dieser Finger zu erklimmen und dabei Dunkelheit und Enge hinter sich zu lassen. Alles, was im normalen Leben wie Klötze am Bein des Jungen hing, blieb beim Bezwingen des Fingers zwischen Mauerresten und Tannen hängen und zurück – am Ziel wartete so etwas wie Freiheit, zumindest für Alex’ Augen. Auf der Spitze des Turmes existierte weder Zeit noch gab es Grenzen.

    Alex’ Augen wanderten über das gewundene Band des zu Füßen der Burg ausgelegten Flusses, über Feuchtwiesen und kleine Baumgruppen. Wie in zu einer Schale geformten Händen öffnete sich das Land und außerhalb dieser Schale existierte nur das, was die Träume des Jungen Wirklichkeit werden ließen. Dicht an dicht stehende Baumwipfel verbargen die Welt, die er beim Besteigen des Turmes verließ, den Weg aber, der von dem Flüsschen, der Steina, kommend zur Roggenbacher Ruine hinaufführte, den ließen sie frei. Es gab keinen zweiten oder dritten Pfad herauf, nur diesen einen Lindwurm, der sich bis zum Burghof schlängelte, und eben diesen Lindwurm behielt Alex bei seinem Spiel im Blick.

    Alex saß ganz oben auf dem kleineren der beiden Turmfinger. Turmfinger, ja, genau so sahen sie aus, wie zwei Finger aus Stein, die ein Riese – aus der Zeit, als es noch Riesen gab – hier vergessen hatte. Vielleicht ein Kampf. Vielleicht ein Unfall. Manchmal hielt Alex am Abend in seinem Bett eine Faust vor die nur sehr selten zum Lesen genutzte Leselampe, streckte Zeige- und kleinen Finger nach oben und schon erschien an der Wand die Silhouette der Burgruine. Er selbst verwandelte sich in einen Ritter, in einen Mann, dem die Welt zu Füßen lag und über dessen Heldentaten man an allen Enden seines Reiches sprach. Sogar Lieder sangen sie auf ihn und ein mächtiges, in Leder gebundenes Buch existierte, in dem es einzig und allein um ihn, Ritter Alex, und seine Heldentaten ging. Manchmal wunderte er sich während dieser Tagträume über sich selbst: hier auf der Ruine oder auch abends im Bett, da konnte er sich alles Mögliche vorstellen und es sich dann auch noch merken. Wenn aber Seidel, Alex’ Mathelehrer, seinen Schüler bat, sich eine Zahl mit neun Nullen vorzustellen, dann kam mit einem Schlag die große Dunkelheit. Große Dunkelheit, so nannte Alex diese Momente der vollkommenen Leere, Augenblicke, die es allerdings nur im Klassenzimmer gab, mit nach draußen kamen sie nie. Sie gehörten in die Schule, hier auf der Burg hatten sie nichts zu suchen und das wussten sie ganz offensichtlich auch.

    In diesen Stunden, in denen Alex sich in einen Ritter verwandelte, existierten weder Eltern noch eine kleine Schwester (wenn doch, dann höchstens von einem Drachen entführt), es gab keine Schule. Gut, Letztere existierte im Augenblick tatsächlich nicht – große Ferien –, trotzdem hing diese Drohung immer irgendwie über ihm und warf einen viel zu breiten Schatten. Alex aber spielte tunlichst um diesen Schatten herum.

    Die großen Sommerferien hatten gerade erst begonnen, dennoch dachte er, wie er fand, viel zu oft an den kommenden September und damit an den Beginn der siebten Klasse, oder besser: den erneuten Beginn dieser siebten Klasse. Ehrenrunde hatte Vater nur gesagt und dabei wohl an seine eigene Ehrenrunde gedacht, was ihn aber nicht daran gehindert hatte, seinen Großen zu Nachhilfeunterricht zu verdonnern, den freilich nicht er geben konnte, nein, dafür bezahlte er einen Gymnasiasten. Alex’ Vater hatte am Tag, als er selbst sein alles andere als sehenswertes Abschlusszeugnis in die Hand gedrückt bekommen hatte, mit allem abgeschlossen, was irgendwie nach Schule roch und – alles wiederholt sich irgendwie und irgendwann – heute sehnte sein Sohn diesen Tag herbei. Aber dieser Typ aus Bonndorf, ein Zwölftklässler, der sich mit Nachhilfe das Taschengeld aufbesserte, befand sich zurzeit mit Mama und Papa irgendwo auf einem Campingplatz in Spanien. Welcher Zwölftklässler ging in diesem Alter noch mit seinen Eltern zelten?! Für Alex stand fest, dass der Typ somit nicht ganz rundlief, einen Zacken ab hatte, in seinem Schrank ein paar Tassen fehlten. Aber sollte er doch zwischen seiner Mama und seinem Papa im Zelt liegen – jeder Tag, den dieser Kerl in Spanien verbrachte, bedeutete Freiheit. Alex konnte nach dem Frühstück in aller Ruhe verschwinden und mit dem ganzen langen Tag anstellen was er wollte, vor dem Abendessen wartete sowieso keiner auf ihn. Und wenn dann auch noch wie heute die Sonne auf Alex’ Rücken schien und Leni, Alex’ fünfjährige Schwester, einmal nicht an seinem Hosenbein hing, vergaß er für ein paar Stunden Schule und Ehrenrunde und Nachhilfe, ging von Wittlekofen hinunter zum Wanderparkplatz an der Steina und weiter zu seiner Burg. Mit diesem gut drei Kilometer messenden Sicherheitsabstand zu Dorf, Eltern und Schwester kletterte Alex auf seinen Zeigefingerturm, holte die kleinen Plastikritter aus den Hosentaschen und stellte sie auf den Rand der Mauer. Klar, er wusste, dass ein fast Vierzehnjähriger eigentlich anderes tun sollte als zu spielen, aber es machte eben Spaß. Außerdem wusste es ja keiner, abgesehen von Leni, aber die hielt die Klappe. Ganz sicher.

    Die Burg betrat Alex immer allein und während seine Ritter auf mächtigen Streitrössern Turniere kämpften, Drachen erschlugen und die Mauern gegen Angreifer von der Steinegg verteidigten, behielt der Junge den Lindwurmweg zur Ruine im Blick.

    Auf Burg Steinegg, einer zweiten Ruine, deren Turmrest Alex auf dem Nachbarhügel durch das Blätterdach ragen sah, lebte in der Welt des Kindes eine Horde Raubritter – Gestalten von der übelsten Sorte, die jede sich bietende Gelegenheit beim Schopfe packten, um zu morden, zu plündern und die wieder und wieder gegen die Herren von Roggenbach anrannten. Alex aber verteidigte sein Reich, er verteidigte es gegen die Steinegger und er verteidigte es auch gegen den Rest der Welt. Keiner musste wissen, dass er hier oben saß und mit Plastikfiguren spielte, keiner musste das von seiner Zunge imitierte Hufgetrappel hören und auch nicht die mit verstellter Stimme gesprochenen Dialoge zwischen den Rittern. Nein, das hier ging keinen was an, nicht Max, Alex’ besten Freund, und schon gar nicht solche Kinder wie Rufus, Kasimir oder den kleinen Timi. Mit denen konnte man vielleicht Fußball spielen, Kasi gerne auch mal einen Tag gefesselt am Baum stehen lassen, aber hier, auf seiner Burg, da hatte keiner von ihnen etwas zu suchen. Die Roggenbacher Ruine gehörte einzig und allein Alexander, dem Ritter, dem Helden.

    Alex nahm sein Handy aus der Tasche. Der Bildschirmschoner imitierte eine alte Bahnhofsuhr mit schwarzen Zeigern. Von dieser Uhr wanderte Alex’ Blick zur Sonne. Beide – Sonne und Uhr – übten sich wieder einmal in trauter Einigkeit. Während die Sonne nur noch wenig mehr als eine Handbreit über den Baumwipfeln stand und lange Schatten unten auf dem Weg lagen, rückte der kleine Zeiger seiner Bahnhofsuhr viel zu schnell voran, die Sieben im Blick und durch nichts davon abzubringen, dieses Ziel auch in der nächsten Viertelstunde zu erreichen, am wenigsten durch Alex. Gut, man könnte diese blöden Zeiger einfach ignorieren, aber – Alex schüttelte den Kopf – eine Sache zu ignorieren bedeutete noch lange nicht, dass diese Sache nicht länger existierte. Das ging in der Fantasie vielleicht, aber im richtigen Leben funktionierte das eben nicht, er hatte es mehr als einmal ausprobiert. Man konnte die Zeit ignorieren, dann gab es aber kein Abendessen und der Fernseher blieb auch aus. Alex konnte das Holzholen ignorieren, das aber führte zu einem kalten Haus, einer schreienden Mutter und einem kopfnussverteilenden Vater. Und Holz musste er danach trotzdem ins Haus schleppen. Man konnte auch die bevorstehenden Tests ignorieren – und die siebte Klasse wiederholen. Alles Scheiße.

    Mit einem extrem riskanten Manöver wehrte Alex noch schnell den Angriff der Steinegger Raubritter ab, sammelte anschließend die Plastikfiguren ein und stieg von seinem Turm.

    Vor ein paar Jahren hatte ein Verein neben dem Turm eine Wendeltreppe aus Beton errichtet und so den Zugang zu diesem erst ermöglicht. Die Treppe überbrückte den unteren Teil des Turmes, ab der Hälfte konnte man Originalstufen benutzen. Gott allein wusste, warum sie diese Betonspirale errichtet hatten; sollte beim Bau die Aussicht auf künftige Touristenscharen eine Rolle gespielt haben, dürfte die Sache gründlich in die Hose gegangen sein, vermutete Alex, denn außer ihm besuchte kaum ein Mensch diesen vergessenen Ort. Oder gab es diese Treppe einzig und allein wegen ihm, damit er hinaufsteigen konnte, damit für ihn ein Platz existierte, an dem er allein sein und spielen durfte? Damit er bis zum Weckruf der Zeiger Ritter sein konnte?

    Alex rannte die Treppe hinunter, sprang wie immer zwei Meter, bevor er die sogenannte reale Welt erreicht hatte, übers Geländer, landete und rollte sich ab. Denn wenn Alex die Mauerreste...