Der Traum in der Frühen Neuzeit - Ansätze zu einer kulturellen Wissenschaftsgeschichte

von: Claire Gantet

Walter de Gruyter GmbH & Co.KG, 2010

ISBN: 9783110231120 , 631 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 270,00 EUR

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Der Traum in der Frühen Neuzeit - Ansätze zu einer kulturellen Wissenschaftsgeschichte


 

4 Traum, Seele und Selbsterkenntnis, 1550–1650 (S. 189-190)

Obwohl die zwischen den konfessionellen Parteien hin und her gerissene Traumdeutung zunehmend in Unsicherheit geriet, verschwanden die religiösen Ansätze nicht. Vielmehr kehrte der Satz, »daß unter allen wißlichen Dingen nichts so Edles sey/ als die Erkaendtniß der Seele«, in der zweiten Hälfte des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit erstaunlicher Häufigkeit wieder. Ebenso wie die Mediziner, die das Wesen und die Tätigkeiten der Seele untersuchten und sie als die dem Menschen eigene Würde charakterisierten, stellten Prediger den Dialog zwischen Gott und den Menschen zunehmend in der Form einer Anatomie der Seele dar. Der Rekurs der Anatomen und Ärzte auf den göttlichen Ursprung der Seele und die klerikale Verwendung der Anatomie-Metapher suggerieren ein diffuses Streben nach der Erfassung des göttlichen Einwirkens im Menschen, ein Verlangen nach der Visualisierung seiner unsichtbaren Komponente und eine Suche nach einer Übereinstimmung zwischen menschlichem Körper, Natur und Wissen. Gleichzeitig verbreitete sich zunehmend ein zweites Thema: Der explizite Imperativ, man solle »sich selbst erkennen«.

Platon hatte das Streben nach dem Guten als eine Wendung des Blicks von den äußerlichen Verlockungen der Welt hin zu den innerlichen Reichtümern charakterisiert. Dieses Anliegen wurde in der Philosophie der Antike vermittels der ›Sorge um sich‹ (epimeleia heautou) thematisiert, die, wie Michel Foucault zeigte, das gnôthi seauton, d. h. das »erkenne Dichselbst« enthielt. Die Umkehr des Blicks von »außen« hin zu »sich selbst« bedeutete jedoch keine radikale Reflexivität. In der Antike zielte die Kontrolle der psychischen Vorstellungen nicht auf das Entziffern einer verborgenen Wahrheit, der Wahrheit des Subjekts selbst, ab, sondern im Gegenteil auf das Wachrufen bestimmter, ›wahrer‹ Prinzipien in Bezug auf Tod, Krankheit, Leid und politisches Leben. Die geistigen Übungen der Sorge um sich und die Arbeiten über die freie Bewegung der psychischen Vorstellungen erreichten ihren Höhepunkt in der Meditation oder genauer der Übung des Todes (meletê thanatou) und bestanden in einer Veranschaulichung des Todes im Leben. Foucault unterschied das »Spiritualitätswissen« (savoir de spiritualité) der antiken Philosophen – das von christlichen Denker übernommen wurde, um jegliche fleischliche Begierde und teuflische Versuchung aus der psychischen Vorstellungen zu verbannen – vom »Erkenntniswissen« (savoir de connaissance), wie es sich in der cartesianischen Methode herauskristallisiert, das eine willensabhängige und systematische Definition der Aufeinanderfolge der psychischen Vorstellungen postuliert und das innerhalb derselben nur jene anerkennt, die notwendig miteinander verbunden sind.

Die Christianisierung der platonischen Terminologie wurde schon von Augustinus vollzogen. In seinem Traktat De Trinitate, XII, 1 verstand er unter dem ›äußeren Menschen‹ das Körperliche des Menschen, das dieser mit den Tieren gemein hatte und das sowohl die Sinne wie das Gedächtnis bzw. das Speichern von Bildern äußerer Dinge einschloss. Der ›innere Mensch‹ hingegen verwies auf die eigentlichen Seelenkräfte und die Wahrheit: »Gehe nicht außerhalb; kehre in Dich selbst zurück. Im innerlichen Menschen wohnt die Wahrheit«. So ebnete das ›Innere‹ einen Weg zu Gott. Die Erkenntnis schließlich resultierte laut Augustinus aus dem »inneren Licht« bzw. dem »Seelenlicht«, das den Sinnesorganen erst ihre Kraft verlieh.